home - Komm mit - 1984 - Sieben Tage im Sattel
jedes Wort alle Wörter Suchwort markieren
drucken

Sieben Tage im Sattel

Tagebuch einer Radtour durchs Banater Bergland

von Franz Engelmann

Vorbemerkung: Von den beiden Teilnehmern war der eine noch nicht ganz 54, der andere knapp über 14. Besondere Erfahrungen oder Training für Langstrecken- und Bergfahrten hatte keiner. Die Räder: ein altes „Tohan“, Baujahr 1974, und ein neues „Sputnik“ mit Dünnreifen und Viergangschaltung. Zusatzausrüstung keine.
Dies nur, damit eventuelle „Nachahmer“ wissen, dass die Tour für jedermann und „Drahtesel“ jeder Art, die jedoch gute Reifen und verlässliche Bremsen haben, zugänglich ist. Gepäck: ein paar Packtaschen, zwei Rucksäcke, Zelt und Schlafsäcke, Kochgeschirr und Spirituskocher. Und natürlich eine wohl ausgestattete Werkzeugtasche und zwei Reserveschläuche.

Zelten „beim Bründl“

1. Tag: Südwärts geht’s auf der in Temeswar sprichwörtlich „alten“ Schager Straße, die jenseits der Überführung über die Gleise des Südbahnhofs DN 59 oder E 94 heißt. Schag: Unter der Brücke lockt das Flimmern des Sandes und das Glitzern des Wassers zur Rast, doch hätte ein kühlendes Bad jetzt nur zusätzliches Pedaltreten in der Mittagshitze bedeutet, und wer macht schon Rast nach 12 Kilometer, wenn er heute an die hundert hinter sich bringen will? Jebel, Wojtek – am Ende des schmucken Dorfes verlassen wir die E 94 und biegen nach links in die DN 58 ein. Im Süden zieht die lange Rauchfahne aus dem Schornstein der Dettaer Furnierfabrik westwärts, dahinter in dunstigem Schleier kaum erkennbar die Umrisse der Werschetzer Berge – Schönwetterzeichen.
Birda bleibt zurück. Scharfe Kehren in Sculia, unter der Brücke suhlt sich die Bersau träge im schlammigen Bett. In Gataja gibt’s dann 'ne kleine Verwirrung wegen ungenügender Ausschilderung der Straße, doch schließlich geht’s wieder zielstrebig nach Osten. Am Horizont grüßt, fast zweihundert Meter hoch, der flache Kegel des Schumig als zu weit in die Ebene vorgeprellter Bote des Banater Berglands mitten aus der Ebene, und endlich, endlich – ein dunkler Waldstreifen verspricht schattige Kühle. Doch das Versprechen ist trügerisch, die Straße macht einen weiten Bogen um das Grün, und so ist das kühle Nass aus den Brunnen von Măureni – sie standen sonderbarerweise bis vor kurzem noch mitten in der Fahrbahn und wurden dann ein wenig „zur Seite gerückt“ – hochwillkommen, auch wenn es in mühevollem Raddrehen aus schier unendlicher Tiefe heraufgeholt werden muss.
Ghertiniş, Bersovia. Endlich rücken die Berge, die bisher nur in unendlicher Ferne Verheißung schienen, in greifbare Nähe, und dann Bokschan, die lange Stadt, die noch fast in der Ebene beginnt und im Engtal zwischen steilen Waldhängen endet. Wir steigen steifbeinig aus dem Sattel, flanieren mit den feierabendlich-heiteren Bokschanern durch die Hauptstraße, treffen ein paar Bekannte, stellen uns beim Eisstand an. Eigentlich wollten wir ja bis Reschitza kommen. Und Zeit dazu wäre auch noch. Doch das Städtchen hat es uns angetan, auch halten wir achtundachtzig Kilometer für eine ganz beachtliche Ersttagsleistung. So schlagen wir in der romantischen Parklandschaft am Ostrand der Stadt, „beim Bründl“, zwischen Sportplatz, Pionier-Feriendorf und dem Motel drüben auf dem Hügelrücken das Zelt auf und lassen uns vom Geratter der vorbeifahrenden Züge und dem Rauschen des Bersau-Wehrs in den Schlaf singen.

Unfreiwilliger Rasttag

2. Tag: Der Zeltplatz war nicht gut gewählt. Die Au ist zu feucht und spät erst klettert die Sonne über die Waldberge, um unser Zeltdach zu trocknen. Dafür haben wir dann ihre prallen, unbarmherzigen Strahlen voll im Gesicht, als wir die oft recht steilen Straßensteigungen hinaufkeuchen. Auch fährt sich’s viel weniger angenehm, wenn man plötzlich statt Asphalt Quaderpflaster unter den Rädern hat – kurz, die knapp zwanzig Kilometer von Bokschan bis Reschitza schienen uns fast länger als die achtundachtzig von gestern.
Na, tut nichts, wir haben ja noch Zeit, bis Steierdorf sind’s ja nur noch sechsunddreißig, und selbst wenn man dafür in Anbetracht der zu erwartenden Hangstrecken vier Stunden rechnet... Also sich mal das Neueste angesehen in der großen Industriemetropole. Reschitza hat ja immer was parat.
Tja, wenn wir uns dabei bloß auch die Plakate, die nicht gerade unauffällig in der Stadt herumhingen, näher angesehen hätten! Dann wäre uns eine nicht gerade unangenehme, aber immerhin unseren Tagesplan endgültig über den Haufen werfende Überraschung erspart geblieben: Stutzig macht uns schon im Domaner Tal – dort raus geht nämlich die Straße nach Anina – ein auffallend starker Autostau, und dann, bei der Einmündung des Striniker Tals, haben wir sie, die Überraschung: die Straße ist gesperrt für ein Autorennen – Landesphase im Bergrennen. Nun, mit den Boliden von Hirschvogel und Konsorten wollen wir uns beim besten Willen nicht anlegen und sind froh, in der Pause zwischen den Einwärmrunden und dem Start soweit vorzudringen, dass wir uns einen guten „Rangplatz“ hoch auf der Berglehne über der gefährlichsten Kurve der Piste ergattern. Wenn man schon unfreiwilliger Zuschauer ist, will man wenigstens was davon haben. Und wir hatten es auch, sogar ein bisschen Gruseln, als plötzlich einer der Wagen – Räder nach oben – gegen die Hangböschung flog und ... der Fahrer fluchend, aber unversehrt aus dem Inneren kriecht.

Wohlfeilstes „Berghotel“

Als dann das Rennen aus war, war’s für die Weiterfahrt zu spät. Oben auf der wellig-kahlen Karsthochfläche zwischen Doman und Iabalcea suchen wir eben nach einem geeigneten Zeltplatz, als ein junger Kraschowäne aus Nermed vorbeikommt, ebenfalls auf einem Zweirad, im Gegensatz zu unseren aber motorisiert: Ob wir nicht in seinem zurzeit unbenutzten „Sălaş“ übernachten wollten... Natürlich wollten wir, denn schließlich kennt jeder, der einmal den Banater Karst durchwandert hat, diese probatesten und vor allem wohlfeilsten aller „Berghotels“. Das Häuschen stand kaum zweihundert Schritt von der Straße, das Heu duftete frisch, durch die Fugen der unbeworfenen Riegelwand strich der Abendwind, und dass das Dach etwas weniger dicht war als das unseres Zeltes, störte uns nicht, denn die Nacht sah nicht nach Regen aus. (Nebenbei: Es gibt auch komfortablere Sălaşe, mit dichter Wand und Dach, mit richtiger „guter Stube“, und ich sah sogar schon solche, über deren Dach 'ne Fernsehantenne ragte.)

Hinauf zur grünen Prolas

3. Tag: Waten durchs taunasse Gras und warten auf den Sonnenaufgang, der sich rot und röter über dem Semenik ankündigt. Kleine Entdeckungswanderungen durch die Dolinenlandschaft: Erstaunlich, wie gastlich und fruchtbar diese alten Einsturztrichter sind. Fast in jedem größeren steht ein Sălaş, wächst saftiger Mais. Überflüssige „Generalrevision“ der Räder als Vorwand zum Faulenzen, bis man sich endlich doch mit einem Ruck in den Sattel schwingt.
Nach Kraschowa fahren wir diesmal nicht hinunter – das berühmte Fliederfest ist längst vorüber – und die neue Straße zieht über die Brücke, die auf turmhohen Pfeilern den Eingang zur Karasch-Schlucht überspannt, am Dorf vorbei. Doch... der Lockung können wir nicht widerstehen. Räder und Gepäck an sicherer Stelle verstaut und aufwärts geht’s den „Reitsteg“ zwischen den ragenden Wänden bis hinauf zur grünen Prolas, Baden in der prickelnd-kalten Karasch, wohliges Dösen in der Sonne...
So ist wieder Spätnachmittag, als wir endlich in Richtung Steierdorf aufbrechen. Die Sonne brennt, die Straße steigt, steigt und steigt, und steigt. Und fällt, um wieder zu steigen. Längst sitzen wir nicht mehr im Sattel, sondern schieben unsere bleischwer gewordenen Räder vor uns her. Und denken, wie wohlig kühl es jetzt wohl in der Gârlişte-Klamm sein muss, deren Schroffen und Schründe wir irgendwo tief unter uns mehr erahnen als erkennen. Es ist schon stockdunkel, als wir die ersten Häuser von Tschelnik erreichen.
Endlos lang ist Anina, besonders wenn man todmüde ist. Endlich – der Sigismundsattel. Bleich steht das Mahnmal für die Opfer der großen Grubenkatastrophe von 1920 im Mondlicht, anämisch tasten sich unsere schwachen Scheinwerfer durch das letzte Waldstück, dann endlich – die Majaliswiese. Es ist genau Mitternacht. Zelten? Kommt nicht in Frage, solange im Berghotel „Diana“ noch ein Zimmer frei ist. Und es war eines frei.

Zwischen Pol und Äquator

4. Tag: Bummeln durch das Städtchen und seine malerische Umgebung per Rad auf glatten und weniger glatten Forststraßen: Buhui-See und Buhui-Tal, kleiner Abstecher in die Höhle – ohne Rad! – bis zum unterirdischen Zusammenfluss des Certej-Baches mit dem Buhui.
Nachmittag wieder im Sattel, auf der DN 57 B in Richtung Bozovici, durchs Minisch-Tal, der einzigen der großen Klammen des Banats, die restlos auf Asphalt zu befahren ist. Der Weg ist herrlich, besonders für Radfahrer: gerade soviel Gefälle, dass man, außer in den großen Serpentinen unterhalb des Forsthauses Judina, kein einziges Mal die Rücktrittbremse treten muss und die Räder einfach laufen lassen kann – mit zwanzig-fünfundzwanzig Sachen – und beim Rückweg nicht so steil, dass man – es sei denn wieder in den genannten Serpentinen – absteigen und schieben muss. So kann man denn die einzig-schöne Landschaft aus Feld, Wasser und Wald genüsslich an sich vorbeiziehen lassen.
Endpunkt Bigăr-Wasserfall und Aufstieg zur gleichnamigen Karstquelle, einer der mächtigsten im Banater Bergland. Obligat fährt man dann die Straße noch hundert Schritte weiter abwärts und bremst scharf ab, so dass das Hinterrad noch diesseits, das Vorderrad jenseits des dicken weißen Strichs, der die Straße quert, zu stehen kommt, und tippt dann mit den Fußspitzen leicht auf diesen Strich: Es ist der fünfundvierzigste Breitengrad, genau die Mitte zwischen Pol und Äquator...

Rübezahl-Landschaft: Ochiul Bei

5. Tag: Die Drahtesel halten im Vorraum der Herberge Siesta, wir aber schultern die Rucksäcke zur einzigen langen Fußtour dieser Fahrt: zur Karstquelle Ochiul Bei und den Beuşniţa-Fällen. Ach, hätten wir doch nicht soviel Zeit vertrödelt auf der Hochfläche zwischen Iabalcea und Nermed, so dass uns für diesen Weg, wie ursprünglich geplant, eineinhalb oder zwei Tage zur Verfügung gestanden hätten; oder hätten wir wenigstens den gedruckten Wanderführern nicht geglaubt, die die Trasse als in acht – neun Stunden hin und zurück machbar bezeichnen; und wäre die Markierung besser gewesen und hätte es nicht ausgerechnet an diesem Tag fast pausenlos genieselt! So aber... Als wir nach rund vierzehn Stunden wieder am äußersten Südwestrand von Steierdorf bei der Riesenbaustelle des Ölschieferkraftwerks in der Crivina standen, hätten wir uns wahrscheinlich unter den erstbesten Baum hingehauen und die Nacht im Freien und nicht in unserem weichen Bett im „Diana“ verbracht, wenn uns nicht – Hilfe in höchster Not! – ein verspäteter Kleinbus mitgenommen hätte.
Gelohnt aber hat es sich doch. Denn man muss es einfach gesehen haben, das selbst unter trübem Himmel einzigartige Tiefblau des „Meeresauges“ Ochiul Bei und muss sie erlebt haben, die gruselig-schöne Rübezahl-Landschaft bei den großen Wasserfällen.

Gen Orawitza

6. Tag: Der Gewaltmarsch von gestern muss ausgeschlafen werden. So haben wir das Programm von heute, dem vorletzten Tag unserer Tour, bereits in voraus gekürzt: Die geplante Wanderung von Orawitza nach Tschiklowa und vielleicht sogar auf die Roll wird ausfallen, und als wir gegen Mittag auf die Landstraße nach Orawitza das Friedelkreuz als letzten „Höhepunkt“ unserer Fahrt – 714 Meter – erreicht hatten, glaubten wir, das Schwerste hinter uns zu haben: Nun ging es bis Temeswar – 91 Meter über dem Meer! – nurmehr abwärts. (Dass dies nicht stimmte, sollten wir allerdings erst am nächsten Tag erfahren.)
Gemächliches Fahren über die leicht wellige Brădet-Hochfläche, vorbei an den Forsthäusern mit so romantischen Namen wie „Lup“ und „Puşcaş“. Dann ragt die weiße Riesensilhouette des Sanatoriums von Marilla ins Blau. Weiter Rundblick über die letzten Ausläufer der Berge und das langgestreckte Städtchen im Tal, und dann geht’s in sausender Fahrt Serpentine um Serpentine hinab, auf nicht viel mehr als vier Kilometer von siebenhundert auf dreihundert Meter – fast zuviel für die Bremsen.
„Şapte Brazi“ – zu den Sieben Tannen – heißt das kokette Berghotel, das sich da spitzgieblig hoch überm „großen Teich“, einem der beiden mehr als zweihundert Jahre alten Stauseen von Orawitza aufbaut und wo wir unser letztes Nachtquartier beziehen. Nochmalige Überprüfung der Räder, denn morgen müssen sie was aushalten. Abendlicher Spaziergang in dem alten Städtchen mit den großen Traditionen, nachdenkliches Anhalten vor den Arkaden des ältesten noch stehenden Theatergebäudes Rumäniens, wo Liszt konzertiert und Eminescu im Souffleurkasten gesessen hatte...

Schwerer Endspurt

7. Tag: Orawitza soll die längste Stadt Rumäniens sein. Tatsächlich begleiten uns die Häuser noch ein ganzes Stückchen Weges, als wir früh am Morgen Abschied nehmen. Es geht bergab, mitten in die breite Talebene der unteren Karasch hinein. Doch dann, als wir sie über der schmucken Großgemeinde Grădinari auf breiter Brücke überquert hatten, heißt es plötzlich wieder aufwärts. Der „Kakowaer Berg“ mit seinen nicht viel über zweihundert Metern zwingt uns, noch einmal abzusteigen. Also doch nicht pausenlos bergab, und wir haben noch fast hundert Kilometer vor uns. Dunkel und diesmal zum Greifen nah erheben sich links nochmals die Werschetzer Berge, die uns schon am ersten Tag aus der Ferne gegrüßt hatten; nach Comorâşte noch ein letzter „Hüpfer“, dann ein großes Schild an der Straße: wir fahren in den heimischen Kreis Temesch ein. Lâţunaş, Großscham, Gherman, Morawitza... in scharfer Kurve biegen wir wieder in die E 94 ein. Denta, Detta, Wojtek, wo wir vor sieben Tagen ostwärts abgebogen sind... Die Sonne brennt uns, so tief sie auch steht, noch immer unbarmherzig in den Rücken, der Gaumen ist trocken, die Beinmuskeln brennen, und doch müssen wir auch diesmal auf das kühlende Bad in der Temesch verzichten, denn...
„Da schimmern in Abendrots Strahlen...“ nein, natürlich nicht Zinnen von Syrakus, sondern die Türme und Schlote von Temeswar! Mit letzter Kraft die Böschung der Straßenüberführung hinauf, aufatmend auf der anderen Seite „talwärts“, direkt auf die „alte“ Schager Straße... Wir sind daheim.
Das kleine Zählwerk an der Vorderachse zeigt 347 Kilometer an. Davon 271 die eigentliche Tour – der Rest für die Abstecher – und davon wieder 116 Kilometer allein im „Durchmarsch“ des letzten Tages.

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 84, S. 113 – 121)

Seite Bildunterschrift
 
113 Dorfstraße in Moritzfeld.
115 Alte Wassermühle mit Eisenrad zwischen Bokschan und Reschitza.
118 In Reschitza gibt es nicht nur Stahlöfen und Hochhäuser, sondern auch ein bisschen „Romantik“: Zerowaner „Milch-Esel“.
120 Maial-Hütte auf der Maial-Wiese bei Anina.
nach oben nach oben