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Morarul-Talrunde

von Willi Klammer

Letzter Augustsonntag. Strahlender Sonnenschein. Das Auto macht noch einige Hopser übers Gras und bleibt dann im Schatten mächtiger Fichten stehen. Munter sprudelt der Bach in kleinen Wasserfällen über die dicken Felsbrocken mit den Moospolstern, Farnwedeln, weißen Skeletten kleiner, verkrüppelter Fichten und schwarzen, morschen Stämmen. Der Wagen bleibt einsam zurück. Wir hoffen, ihn am Abend unversehrt wiederzufinden.
Steil geht es einen bewaldeten Hang aufwärts. In einer sonnigen Lichtung eine schmucke Jagdhütte, davor ein roh gezimmerter Tisch und eine Bank, gleich daneben eine Quelle. Hier stoßen wir auf den mit rotem Dreieck markierten, breiten Wanderweg, der auf rund 1400 m Höhe den Berg säumt. Bald queren wir die Valea Bujorilor (Alpenrosenschlucht) und erreichen die Valea Morarului (Müllerschlucht).
Hier verlassen wir die Markierung und schwenken links ein. Poiana Morarului (Müllerswiese): das eindrucksvolle Panorama der Morarunadeln steilt sich linkerhand auf, vorne scheint ein Felsturm – Ţambalul – die Schlucht abzuriegeln. Noch ein schmaler Waldstreifen und wir überqueren die Poiana cu Urzici (die Brennnesselwiese). Brennnesseln wachsen überall dort, wo früher Schafe lagerten und den Boden düngten. Mit einigem Spürsinn entdecken wir grasüberwucherte steile Serpentinen, einen alten Hirtenpfad, der auf die Höhe des Ţambalul führt. Ein breiter Sattel verbindet den Turm mit dem Berg.
Wir rasten und schauen uns satt: Die Morarulnadeln überblicken wir nun aus fast gleicher Höhe, anschließend den langen Morarulkamm, der beim Omul gipfelt. Der Omul ist mit 2505 m der höchste Gipfel des Bucegi-Gebirges. Rechts des Gipfels senkt sich das Gebirgsprofil: der tiefste Punkt zwischen Omul und Buşoiul ist der Morarusattel. Vom Buşoiul, dessen Gipfel für uns vorerst durch die Kulissen verdeckt bleibt, zweigt ostwärts der Buşoiul Mic ab, auf dessen Südflanke wir uns jetzt befinden. Zwischen Morarulkamm und Buşoiul Mid ist die Morarulschlucht eingelagert, in deren oberstes Kar wir von hier aus Einsicht haben.
Auf geht’s zur Grathöhe des Buşoiul Mic. Der Pfad ist schon lange Jahre nicht mehr von Hirten benutzt und deshalb von Legföhren verwachsen. Schwitzend erreichen wir endlich den Grat und lassen uns wohlig ins Gras fallen. Neue Bilder tun sich auf, traumhafte Bilder der Weite und des Sehens: das Burzenland und all seine Wunderberge Schuler, Hohenstein, im blauen Dunst der Ferne der Geisterwald, der Zeidner Berg, das Vranceagebirge.
Die Felszacken hier im Grat gleichen dem Rücken eines vorsintflutlichen Ungeheuers, die Wanderer nannten sie deshalb „Balaurul“ (der Drachen). Vereinzelt noch Latschen und je höher wir steigen Alpenrosen. Rechts verschwinden die Steilhänge in den dunklen Gründen der Buşoischlucht. Wir überlassen uns ganz dem Märchenzauber, jeder steigt für sich allein. Fasziniert betrachten wir einen Gamsbock, der sich am blauen Himmel abzeichnet. In eleganten Sprüngen wendet er sich den Grashängen der Südflanke zu und verschwindet lautlos.
Der Grat scheint hier schwierig zu werden: eine senkrechte Wand, eine tiefe Scharte, dahinter wieder eine senkrechte Wand. Doch alles ist nur halb so schlimm. Erst auf die Nordflanke, dann durch die Scharte auf die Südseite, dann eine kleine Felsstufe an der Kante, und schon geht es wieder hindernislos weiter. Bald weitet sich der Grat zu breiten, sanft ansteigenden Grasflächen und die erste Markierung (rotes Band) taucht auf. Der gut ausgetretene Friedrich-Deubel-Weg führt uns hinab in den Morarusattel und jenseits empor zum Omul.
In Gipfelnähe tauchen wir plötzlich in der Masse der Wanderer unter, die an diesem Sonntag den Omul bestürmten. Pepsi Cola, Ananassaft, Pampelmusensaft, Schokolade, ein freundlicher Hüttenwart, Gruppen sich sonnender zufriedener Gipfelbezwinger. Die meisten wählen für den Rückweg den Abstieg durch die Valea Cerbului, „die Hirschenschlucht“ – oder übers Plateau zur Babele-Seilbahnstation.
Wir jedoch steigen federnden Schrittes die Grasstufen hinab, über den Morarulkamm. Bald wird es steiler und steiler. Wir befinden uns in der Zone der Nadeln, die hier auf der Südseite allerdings ungleich zahmer aussehen als im Norden. Erst passieren wir den Acul de Sus – die „Obere Nadel“, es folgt der Acul Crucii – die „Kreuznadel“ oder der „Kronenturm“, wie ihn die Erstbesteiger nannten. Charakteristisch ist hier der Durchschlupf durch einen natürlichen Felstunnel. Kurze Rast in der Scharte zwischen Acul Roşu – „Rote Nadel“ – und Acul Mare – „Große Nadel“.
Wieder folgen steile Grasschrafen und heikle Querungen, bis wir endlich wieder zur Gratlinie zurückkehren können. Für den weiteren Abstieg wählen wir die direkteste Variante, die sich jedoch als äußerst unbequem erweisen sollte. Statt dem Normalweg über das Große Band und die Hirschenschlucht wenden wir uns der Valea Comorilor zu. Die Hindernisse der direkten Gratlinie umgehen wir zunächst im Norden durch die latschenbewachsenen Hänge der Valea Bujorilor. Wieder zurück zum Grat und Abstieg über die Südseite zu einer Scharte. Dieser Wegabschnitt erweist sich als besonders ausgesetzt und wir sichern uns mehrfach durch das Seil.
Schlagartig befinden wir uns in einem Blumengarten, wo das Edelweiß vorherrscht. Am liebsten würden wir liegen, faulenzen und träumen. Doch die Zeit drängt. Es ist spät geworden und in der Hast des Abstiegs mit ständigem Blick auf die Uhr haben wir das Panorama der Coştila-Nordseite nicht genügend gewürdigt, die vielen Einzelheiten, die uns vertraut sind und uns doch immer wieder in ihren Bann ziehen, die vielen Schluchten und Felsen, Türme und Bänder, das Profil des Colţul Gălbinelelor und des Colţul Mălinului und all die anderen.
Die Gämsen sind weg und endlich stehen wir in der Scharte. Damit sind die „technischen“ Schwierigkeiten zu Ende. Noch ein Blick zurück, ein Blick rechts, wo die Mănuşa Morarului wie ein steinernes Denkmal der Handschuhmachergilde aufragt, und steil geht es den brennnesselverfilzten Schlauch hinunter. Dabei tarnen die Brennnesseln hinterlistig ein teuflisches Fußangelnetz von trockenen Ästen und ausgewachsenen Stämmen. Es wird allmählich dunkel, der Abstieg zu einer Flucht mit Tausenden von Hindernissen, größtenteils unsichtbar. Mit der Zeit driften wir links zum Waldrand ab und finden dort einen gut ausgetretenen Bärenpfad, der uns – fast hätte ich gesagt bequem – hinableitet.
Völlige Dunkelheit erreicht uns erst dort, wo wir den mit rotem Dreieck markierten Weg überqueren. Jetzt kann uns nichts mehr passieren. Im Schein der Taschenlampe erreichen wir unseren Wagen.
Erst jetzt wird uns gewahr, dass dies höchstwahrscheinlich eine „Erstbegehung“ war, die gesamte Umwanderung der Morarulschlucht aus einem Stück via Gura Dihamului – Poiana Morarului – Ţambalul – Bucşoiul Mic – Omul – Morarulkamm – Valea Comorilor – Gura Dihamului.

Technische Angaben: Größtenteils Gehgelände, einige Kletterstellen, Schwierigkeit 1. Dauer 12 Stunden. Ein Seil sollte für alle Fälle mitgenommen werden.

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 84, S. 122 – 125)

Seite Bildunterschrift
 
122 Kartenskizze: Bucşoiul Mic, Creasta Morarului, Valea Morarului
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