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Einbruch in die „Königliche Jagdhütte“

Eine Retezat-Fahrt zu Großvaters Zeiten

von Franz Engelmann

„Unter diesem Eindruck stand es für mich fest, dass ich eines Tages wirklich zu dieser Expedition aufbrechen werde. Selbstverständlich durfte ich in Anbetracht der technischen Schwierigkeiten eines solchen Unternehmens von einer augenblicklichen Verwirklichung gar nicht träumen, aber die Lockung der steil zum Himmel aufragenden Felszinnen...“
Liest man diese Zeilen, so könnte man glauben, dass hier mindestens von einer Himalaja-Expedition geträumt wird und nicht von einer bescheidenen... Doch da wir ja bereits im Titel erfahren haben, worum es sich handelt, wollen wir zunächst den Autor der oben zitierten Zeilen, denen noch rund hundert dicht beschriebenen Manuskriptseiten folgen, kennenlernen. Ernst Kraushaar wurde 1883 in Nadrag, also im Banater Bergland, als Lehrersohn geboren, wurde selbst Lehrer und hat sich in seiner Heimatgemeinde, vor allem aber in Steierdorf-Anina um die Bildung der Arbeiterjugend verdient gemacht. Daneben trieb er naturwissenschaftliche Studien, war noch bis ins hohe Alter als Insektensammler für das Banater Museum tätig und starb 1975 in Temeswar. Das nun schon ziemlich vergilbte Manuskript der „Retezat-Wanderung 1926“ stellte uns seine Witwe Maria Kraushaar, die allseits bekannte Temeswarer Kunststrickerin und Autorin eines vor wenigen Jahren erschienenen Handarbeits-Anleitungsbuch, zur Verfügung.
Das Retezat-Gebirge, das ja auch heute trotz Forststraße durch das Nucşoara-Tal, trotz Asphaltstraße bis zum künftigen Wasserkraftwerk „Râul Mare-Retezat“ im Verhältnis etwa zu dem vorzüglich erschlossenen Bucegi oder auch zu den Fogaraschern noch immer ziemlich schwer zugänglich ist, lag damals in fast unerreichbarer Ferne. Allein die 160 Kilometer lange Eisenbahnfahrt von Temeswar bis Sarmizegetusa am Fuße des Gebirges dauerte einen vollen Tag, im ganzen Massiv, das bald zum ersten Nationalpark Rumäniens werden sollte, gab’s noch keine anständige Touristenherberge, keinen einzigen markierten Wanderpfad.
Es sollten aber mehr als zehn Jahre vergehen, bis Ernst Kraushaars Traum – die eingangs zitierten schwärmerischen Zeilen gehen auf ein Erlebnis noch vor dem ersten Weltkrieg, eine selten gute Fernsicht von dem in der Nähe des heimatlichen Nadrag gelegenen Padesch-Gipfel zurück – Wirklichkeit wurde und eine kleine Gruppe – Ernst Kraushaar mit noch einem Kollegen und drei Studenten – endlich zu der langersehnten „Expedition“ aufbrach. Mit zusammen weit über hundert Kilogramm Gepäck, wovon wohl das Zelt und der Fotoapparat – eine unförmige Plattenkamera mit Stativ und dem unvermeidlichen „schwarzen Tuch“, unter das sich der Fotografierende vor jeder Aufnahme verkriechen musste – wohl einen guten Teil ausmachten.
Als man dann endlich in Sarmizegetusa angelangt war, hing das ganze Unternehmen noch immer an einem Seidenfaden: „Allem voran sollte der Passierschein besorgt werden, denn laut den einmütigen Aussagen des mit den hiesigen Verhältnissen bekannten Bauernvolkes wäre die Betretung des im herrschaftlichen Besitz befindlichen Retezatgebietes ohne einen solchen bei Strafe der Eskortation durch das herrschaftliche Schutzpersonal untersagt gewesen. Nun, die gräfliche Güterverwaltung in Râu de Mori war gnädig, und so stand endlich nach dem unvermeidlichen Feilschen um den Preis der Pferde für die Beförderung der Rucksäcke zum 'Basislager’ Gura Zlata nichts mehr im Wege.“
Von hier aus ging es den Zlata- und den Dobrun-Bach hinauf, nach einigen Irrwegen gelangte man zum Gemene-See und hätte zumindest für einen Teil dieses Weges auch heute eine Genehmigung gebraucht: allerdings von der Akademie der SRR, denn man wanderte teilweise auf dem Gebiet des heutigen wissenschaftlichen Reservats innerhalb des Nationalparks Retezat.
Dann ging’s zum Tăul Negru, den man fälschlicherweise für das höchstgelegene der Retezat-„Meeraugen“ hielt, und über den Hauptkamm hinüber zum großen Zănoaga-See. Man wagte sich sodann über die steilen Grate und abschüssigen Bänder hart unter dem Gipfel des Judele, sonnte sich am Ufer des „24 Joch großen Bucura-Sees“. (Dass Ernst Kraushaar hier ein wenig übertreibt, darf ihm nicht übelgenommen werden, auch andere wussten zu jener Zeit noch nicht, wie groß der Bucura-See tatsächlich ist.) Den Retezat-Gipfel ließ man links liegen, ebenso die großen Täler der Nordflanke, die heute als Hauptattraktion gelten – kein Wunder, gab’s doch damals weder die Pietrele- noch die Enzian-Hütte als Ausgangspunkte für ihre Durchwanderung –, dafür aber wurde die Peleaga erstiegen, und von hier wollte man über die Păpuşa und die „Porţile închise“ an einem einzigen Tag Nucşoara erreichen. Offensichtlich gaben sich die Wanderer nicht Rechenschaft, wie lang dieser Weg und auch nicht wie gefährlich diese schönste und wildeste Kammpartie im ganzen Retezat ist, und so war es wohl ein Glück für sie, dass sie Schlechtwetter zum Abstieg in die „Valea Rea“ zwang.
Es gab allerhand Überraschungen auf dieser Wanderung. Begegnungen mit Gämsen, Bären, Adlern und eine geheimnisvolle Gestalt, von der sie nicht wussten, ob es ein Förster, ein Wilderer oder gar ein Berggeist, der „Rübezahl des Retezat“, gewesen ist. Ganz unbegreiflich für uns heute ist, dass sie während der ganzen Woche nur einen einzigen Touristen trafen, einen Klausenburger Hochschulprofessor, der botanisierend die Gegend durchstreifte. Pech hatten sie auch: Es gab keinen einzigen Tag, an dem nicht sturmpeitschende Regengüsse sie bis auf die Haut durchnässten.
Das Schwierigste waren jeweils die Übernachtungen, denn außer der ersten Nacht im Forstarbeiterlager von Gura Zlata schliefen sie keine einzige mehr in einem richtigen Haus: Die nächste in einem recht primitiven „Schutzhaus“ im Gemene-Tal – es befand sich offensichtlich an derselben Stelle, wo heute das Laborhaus der Akademie im Reservat steht –, dann die „Schreckennacht“ im Zelt bei Sturm und Schneeregen am „Tăul Negru“, nach der ihnen allerdings das Erlebnis zuteil wurde, „den Schwarzen See als glitzernden Silberspiegel, der eitlen, goldgelockten Phöbe zur Morgentoilette hingehalten“ zu sehen, und schließlich der denkwürdige Einbruch in die „königliche Jagdhütte“ am Zănoaga-See.
Laut Passierschein des Grafen hätten sie zwar nur in der „alten Baracke“ übernachten dürfen. Da diese aber völlig unwirtlich war und die Gefahr bestand, unter dem durchlöcherten Dach eine zweite „Schreckennacht“ verbringen zu müssen, entschlossen sie sich zu dem tollkühnen Wagnis eines gewaltsamen Einstiegs in das Haus, das ihnen eigentlich verboten war. Doch lassen wir Ernst Kraushaar selber sprechen: „Königliches Jagdhaus! Wir alle hatten darunter einen Prachtbau, ein architektonisches Wunderwerk erwartet... und fanden ein kleines, bloß aus Brettern zusammengefügtes Häuschen, das sich von ähnlichen Hütten bloß durch die Blechverkleidung seiner Außenwände unterschied.“ Und auch im Inneren sah es nicht besser aus. Zwar gab es einen Ofen – und der war höchst willkommen –, zum Schlafen aber nur einen Haufen Heu, in dem es zu allem Überfluss auch noch von Flöhen wimmelte...
Da war die Nacht in der Felshütte am Bucura-See – dieselbe, die auch jedem heutigen Retezat-Besucher ein Begriff ist – schon wesentlich anders: Man saß mit den beiden Hirten am prasselnden Lagerfeuer, man aß von ihrem Käse und ihrer Mamaliga und teilte mit ihnen Salami und Zigaretten, dann griff der jüngere der Gastgeber zur Flöte, der ältere aber sang und seine sonore Stimme klang weit über den nachtdunklen See. „Seine Lieder, die er aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem Archiv seiner eigenen Kompositionen hervorkramte, waren eine Wiederholung kleiner, melodischer Absätze und verherrlichten... Mantu, den gefürchteten Räuberhauptmann!“ Petre Mantu, der letzte Heiduck des Banats, war also nicht nur an Bega und der Temesch, nicht nur in der Poiana Rusca, sondern auch auf dem fernen Retezat bereits zu seinen Lebzeiten zu einem legendären Volkshelden geworden.
Die letzten Seiten des Manuskripts scheinen verlorengegangen zu sein, der Reisebericht bricht mit der letzten Übernachtung im Zelt, schon ziemlich tief unten im Tal ab, wobei unseren fünf Wanderern offenbar zum Abschied noch einmal ein Bär einen Besuch abstattete. Am nächsten Tag dürften sie dann wohl, wenn auch später als geplant, Nucşoara erreicht haben und von dort war’s dann bis Hatzeg und bis zur Eisenbahn nicht mehr weit.

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 84, S. 187 – 191)

Seite Bildunterschrift
 
188 – 189 Raststunde am See.
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