von Gerhard Lehmann (Erfurt)
Unser Ziel war das Fogarascher Gebirge. Als Hochgebirgstouristen wollten wir die
berühmten Südkarpaten kennenlernen, mussten aber recht bald einsehen, dass man zum
wirklichen Kennenlernen dieser herrlichen Bergwelt sehr viel Zeit braucht. Über Bukarest,
Braşov und Fogarasch gelangten wir schließlich zum Gasthof Sâmbăta, um am nächsten
Tag durchs Sâmbăta-Tal zur gleichnamigen Hütte emporzusteigen, die an den oberen
Ausläufern dieses herrlichen, wildromantischen Tales liegt.
Es war Sonntag, in der Hütte und Umgebung wimmelte es von Wochenendausflüglern. Nach
einer kleinen Stärkung bauten wir am Sâmbăta-Bach unsere Zelte auf, um am nächsten
Morgen zum „Großen Fenster“ aufzusteigen.
Schon während des ersten Teils der Wegstrecke musste ich bekennen, dass das
Fogarascher Gebirge zwar ein schönes, aber schwer begehbares Gebirge ist. Dieses
ständige Bergauf und Bergab verlangt dem Wanderer alles ab. Nach einigen Stunden
Wanderung standen wir unterhalb der Viştea Mare. Von Norden, aus dem Viştea-Tal, zogen
bedrohliche Wolken über die Portiţa Viştea, die ersten Tropfen fielen und der Wind verstärkte
sich. Sollten wir den Weg fortsetzen? Plötzlich erblickten wir links unten im Tal eine rotbraun
gestrichene Unterkunft. Wir überlegten nicht lange und begannen den Abstieg. Wir hatten die
„Biwakschachtel“ gerade erreicht und die Tür hinter uns zu gemacht, als der Sturm mit
ganzer Kraft einsetzte. Den ganzen Nachmittag und bis in die frühen Morgenstunden tobte er
orkanartig um uns – wir befürchteten, dass die aus Stahlblechen zusammengesetzte
tonnenschwere „Schachtel“ von ihrem Standort weggeblasen würde. In der Nacht sank die
Temperatur empfindlich und kroch durch den Reisverschluss unserer Daunenschlafsäcke.
Wie froh waren wir, diese rettende Unterkunft entdeckt zu haben, und dankten den Erbauern,
die wohl dem Salvamont des Kreises Braşov angehören, wie der Inschrift an der
Biwakschachtel zu entnehmen war.
Als wir am Morgen aus der „Schachtel“ krochen, lugte die Sonne über den Kamm und
beschien den völlig verschneiten und vereisten Moldoveanu. Selbst bei diesem herrlichen
Anblick konnten wir den Gedanken nicht verdrängen: Was wäre wohl geschehen, wenn es
diese Biwakschachtel nicht gegeben hätte? Wir wagten nicht, den Gedanken zu Ende zu
denken.
Schnell packten wir unsere Siebensachen zusammen und bald sah uns die Sonne auf dem
Weg zur Portiţa Viştea.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 84, S. 213)