Nicht abseits liegen lassen
Einladung zu einer Bergtour per Auto, Fahrrad oder Bus – und natürlich auch per pedes
von Franz Engelmann
Man hat’s eigentlich immer eilig, wenn man auf einer dieser Straßen oder Schienenstränge
fährt, und fiebert schon dem Ziel entgegen, einerlei ob’s die ragenden Hochgipfel des
Retezat sind und das Hatzeger Land davor mit den vielen „alten Steinen“, Zeugen
zweitausend Jahre alter dakisch-römischer Kultur, oder das weite Hochland „mit dem Gürtel
der Karpaten“, dessen alter Kultur Menschen dreier Sprachen den Stempel aufgedrückt
haben; oder das ferne Bukarest und die noch fernere Meeresküste – immer lockt das
Ferienerlebnis, und wer beachtet schon die grünen Hügel, die die Straßen säumen, auch
wenn die dunklen Massen, die sich hinter dem Hügelgrün höher und höher staffeln, ahnen
lassen, dass da...
Ja, ja, die Ahnung trügt nicht: Es baut sich da richtig eine ganze Welt von waldigen Höhen
und endlosen Engtälern, verschlungenen wie ein Naturlabyrinth von Riesenausmaßen auf,
eine der ausgedehntesten Gebirgsgruppen der rumänischen Karpaten, und dazu trägt dieses
ausgedehnte Bergland auch noch den anheimelnd-geheimnisvollen Namen Poiana Rusca.
Und das sollte man unbeachtet seitwärts liegen lassen, bloß weil es in den meisten
Reiseführern und Prospekten kaum oder gar nicht erwähnt ist? Regt sich da nicht etwas wie
Nostalgie nach dem Unbekannten und Unbegangenen, so was wie Entdeckerfreude,
Abenteuerlust?
Im Folgenden wollen wir Ihnen nun eine Fahrt durch die Poiana Rusca vorschlagen. Aber
nicht durch die zentrale Hochregion des Gebirges, sondern nur durch seinen westlichen
Zipfel, ein Appetithappen sozusagen, damit Sie vielleicht das nächste Mal Lust auf mehr
bekommen. Die Route hat den Vorteil, dass sie, von den Abstechern abgesehen, restlos auf
Asphalt befahren werden kann, mit dem Auto, mit dem Fahrrad oder auch mit dem
Linienbus, weil die Route in all ihren Teilstücken und zu jeder Tageszeit von Bussen
befahren wird.
Also: Anfahrt auf alle Fälle auf der E 94 – Fernverkehrsstraße DN 6 Bukarest – Temeswar.
Abgezweigt wird zwischen Lugosch und Karansebesch, genauer gesagt etwa 14 Kilometer
nach Lugosch, unweit von Găvojdia. Die Abzweigung nach Norden ist gut markiert und
ausgeschildert, kann also nicht übersehen werden.
Zuerst geht’s über die Temesch, die hier, rasch und unbändig, noch fast ein richtiger
Gebirgsfluss ist, und gleich nach dem ersten Dorf – Criciova heißt es und schmiegt sich hart
an den Rand der Berge –, fünf Kilometer nach der Abzweigung von der E 94 (alle weiteren
Kilometerangaben sind von diesem Punkt aus gedacht), erfolgt dann der
Abstecher 1: Auf einer Schotterstraße geht es nach rechts (Abzweigung ausgeschildert)
etwa eineinhalb Kilometer bis in die Mitte des Nachbardorfs Jdioara. Hier parken wir den
Wagen (oder das Fahrrad), gehen eine der Querstraßen nach Norden und erfragen von
einem Ortsbewohner den Weg zur Burg. Zsidovar – „Judenburg“ hieß sie einst im Mittelalter,
hat allerdings nichts, aber auch gar nichts mit der österreichischen Stadt dieses Namens zu
tun. Die spärlichen Mauerreste auf 313 Meter hoher Bergnase – wir erreichen sie nach einer
guten halben Stunde gemächlichen Anstiegs – bergen ein Stück großer Geschichte: Als
Fürst Mihai Viteazu um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert für kurze Zeit alle drei
rumänischen Lande erstmals unter einem Zepter vereinigt hatte, legte der Fürst auch in
diese Mauern – Bollwerk wider die Türken – eine Garnison. Der Berg, der steil nach Norden
und Osten abfällt, ist bis zum Gipfel bewaldet, aber durch die Bäume erhascht man doch
einen Blick in das tiefe, enge Tal, in dem vielleicht gerade ein Züglein der Nadrager
Werkbahn bergan kriecht. Schade, dass sie nicht mehr die romantische alte Dampflok zieht,
wie das noch bis vor wenigen Jahren der Fall war, und auch keine Personen mehr befördert
werden. Denn so bleibt einem der romantischste Abschnitt des Tales, so eng, dass neben
dem Gleis keine Straße mehr Platz hat, verschlossen. Das heißt, wir können ihn trotzdem
erleben, wenn einer bereit ist, die Blechkarosse allein bis nach Crivina, dem nächsten Dorf,
zu kutschieren, während die anderen das Tal in einem anderthalb- bis zweistündigen
Fußmarsch durchwandern. Allerdings sollte man in diesem Fall von einem waghalsigen
Direktabstieg von der Burg Abstand nehmen, ins Dorf zurück und von hier bachaufwärts
gehen.
Doch kehren wir zur Abzweigung zurück und setzen den Weg per Achse fort, nordwärts.
Sonniges Tal voller Wiesen und Maisfelder, dann in scharfen Wegkehren über die
Wasserscheide, auf der anderen Seite durch die steilen Gassen, vorbei an dem niedrigen,
alten Dorfkirchlein zum Nadrag-Bach, wo wir, falls ein Teil der Gruppe den Fußmarsch
durchs Tal machte, diese wieder aufnehmen. Zurückgelegte Wegstrecke – ohne Abstecher –
12 Kilometer.
Weiter geht’s nun durch das Tal des Nadrag-Baches, das neben dem hurtig dahineilenden
Wasser kaum Platz hat für Schmalspurgleis und Straße, die oft aus dem Felsen
herausgesprengt werden musste. Ab und zu warnt ein Schild vor Steinschlaggefahr, doch ist
bei trockenem Wetter kaum was zu befürchten. Willkommene Rast an der „Hasenquelle“,
alles erinnert bereits an das Werk in dem kleinen Städtchen: Emailliertes Nadrager Blech
deckt das Quellreservoire, auf emailliertem Nadrager Blech prosten sich, wie auf 'nem
Wirtshausschild, zwei Hasen zu und aus Nadrager verzinktem Blech ist der funkelnagelneue
Eimer, mit dem man Wasser schöpft, wenn es nicht von selbst aus dem Rohr fließen will.
18 Kilometer. Der Wegweiser zeigt scharf nach links: Făgat – Fatschet – unser weiterer
Weg. Doch vorläufig geht’s geradeaus zum
Abstecher 2: diesmal auf Asphalt. Schon kurz nach der Weggabelung erscheinen die ersten
Gebäude des Industriestädtchens und nach drei Kilometern sind wir im Zentrum: Altes
Walzwerk, neue Kettenfabrik, ganz neues Elektrostahlwerk, Wohnblocks mit den großen
Schaufenstern der Läden im Erdgeschoss und schmucke kleine Häuschen mit
sommerbunten Vorgärten in endlosen Gassen sich das Padesch-, das Kornet- und das
Izvodiatal hinaufschlängelnd, frohes Lachen im Feriendorf der Lugoscher Pioniere, das
Ganze fast erstickend im wuchernden Grün der Wälder, die von den steilen Berghängen
buchstäblich zum Fenster hereinwachsen – alles in allem, so paradox das klingt, man könnte
Ferien machen mitten in der Industriesiedlung.
Aber unser Abstecher gilt ja nicht nur Nadrag selbst, sondern wir wollen, wenn die Zeit reicht,
von hier aus die „richtige“ Bergwelt der Poiana Rusca erleben: Beim Park im Zentrum des
Ortes Markierungszeichen: Blaues Band – 2 ½ Stunden bis zur Schutzhütte „Căpriorul“ auf
dem „Dâmbu cu Fier“, wo einst die Erzgruben lagen, die die schon längst erloschenen
Hochöfen von Nadrag speisten, und Markierung: Rotes Kreuz – 5 Stunden bis zum Padesch,
der höchsten Spitze des Massivs. Bis zur Schutzhütte kann man auch fahren, 16 Kilometer
auf nichtasphaltierter, aber immerhin auch Pkw zugänglicher Straße. Weil uns aber 2 ½
Stunden Bergwanderung bei beachtlicher Steigung – Nadrag liegt 287 Meter hoch, die
„Căpriorul“ 900 – besser bekommt als unserem Wagen eine halbe Stunde auf
Schotterstraßen, Haarnadelkurven und vielen Steigungen, geht’s also mit dem Rucksack das
Padesch- und dann das Seleşele-Tal bergan bis zur gastlichen Herberge. Und dann
nochmals zweieinhalb Stunden Kammwanderung bis hinauf auf den Gipfel: einsame
Felsgruppe hoch über dem Wald, umrahmt von Wacholder und Heidelbeergestrüpp – man
atmet schon fast Hochgebirgsluft auf dem 1380 Meter hohen Berg. Dazu eine Aussicht, wie
selten von einer solchen Höhe: im Süden über den Muntele Mic bis zum Ţarcu und Godeanu
und bei besonders klaren Tagen bis zum Retezat, im Norden aber die breiten Höhenrücken
der Westkarpaten und genau im Osten liegt die fast gleichhohe Schwester des Padesch, die
dem ganzen Gebirge den Namen gibt: die Rusca.
Es ist also klar, dass wir, wenn wir diesen Abstecher voll „mitnehmen“, erst nach zwei Tagen
wieder an der Weggabelung stehen. Nun geht’s nach links, nordwärts, und gleich nachdem
wir in das Tal des Nădrăgel-Bachs eingebogen sind, eine Überraschung: rauchende
Kohlenmeiler, also etwas, was Sie in ganz Europa nicht so schnell wiederfinden werden.
Doch – verspreche ich Ihnen nicht zu viel? Teodor Buzdugan aus dem fernen Siebenbürgen,
der die Köhlerei hier betreibt und deshalb in Nadrag nur „Bocşeriu“ („Bocşa“ heißt im
Rumänischen der Kohlenmeiler) genannt wird, geht vermutlich noch ehe es Sommer wird, in
Ruhestand. Ein Nachfolger muss erst gefunden werden. Dann können Sie auch gleich einen
Beutel Grillkohlen fürs Nachtmahl mitnehmen. Wenn nicht, müssen Sie eben vorliebnehmen,
wenn Sie einige große Kreise verbrannter Erde daran erinnern, dass hier vor wenigen
Jahren noch ein echter Köhler hauste und werkte, wie zu Rübezahls Zeiten.
Wegkehre um Wegkehre geht’s steil hinan, dass unser Motor seine liebe Mühe hat, und
dann sind wir oben auf der Passhöhe, 363 Meter, dem höchsten Punkt unserer Fahrt, von
dem Aufstieg auf den Padesch natürlich abgesehen. Ebenso steil geht es wieder bergab.
Hâuseşti, Fârdea – echte rumänische Bergdörfer im vollen Wandel. Die alten verputzten
Holzhäuser sind im Verschwinden, an ihre Stelle treten immer mehr große, feste
Ziegelhäuser mit kachelbunten Fassaden, aber immerhin kommt auch der Volkskundler noch
auf seine Rechnung, findet genug der auf uralten Volksglauben zurückgehenden Giebel- und
Torornamente, ebenso wie die alte, fast an eine Burg erinnernde Dreikant-Hofform.
Die Landschaft weitet sich, die Berge werden zu flachen, Wiesen- und Ackerland tragenden
Hügeln und dann – ein unwillkürliches Aaa! Vor uns breitet sich eine fast endlose
Wasserfläche aus, der neue Stausee von Surduc. Heute schon ist er einer der größten und
wird in Kürze, wenn neben dem ihn zur Zeit speisenden Glaviţa-Bach durch einen
Bergdurchstich auch die obere Bega angezapft sein wird, der größte des Banats überhaupt
werden, mit rund 27 Millionen Kubikmeter Fassungsraum. Und eben, weil das Wasser
demnächst noch steigen wird, sind die geplanten Touristenherbergen und Gaststätten noch
nicht errichtet. Dafür aber stehen jetzt schon – und es muss gar nicht Wochenende sein –
wohl hundert und mehr Zelte horizontweit an seinen Ufern und Sie dürfen sich
„mitansiedeln“. Sie haben kein Zelt dabei? Tut nichts, Sie können es sich leihen bei den
kleinen Häuschen am Ufer, und ein Boot mit dazu.
Mit oder ohne Zelt – auch vom herrlichsten Badesee muss man einmal Abschied nehmen.
Noch einmal treten die Berge eng an das Asphaltband heran, im fast schluchtartig engen Tal
wuchtet der Staudamm, ein Berg, errichtet von Menschenhand, empor, und dann wieder ein
Dorf: Surducu Mic. An einer Wegkehre ein Gedenkstein: Hier stand das Haus, in dem der
rumänische Flugpionier Traian Vuia, der erste Mensch, der an seine Flugmaschine Räder
montierte und sich allein mit der Kraft des Bordmotors vom Boden erhob, vor nunmehr
genau 111 Jahren geboren wurde (1872). Daneben Brunnen, Tisch und Bank, einladend zur
Rast im Gedenken an den Mann, der der Erfindung des Flugzeugs eigentlich erst den
letzten, entscheidenden Schliff gab und – allerdings erst viel später – auch das erste
Düsenflugzeug der Welt baute.
Die Berge treten nun endgültig zurück, das nächste Dorf – es trägt den Namen Traian Vuia,
weil es das eigentliche Heimatdorf des Flugpioniers war, der hier seine Jugend verbrachte –
liegt bereits in den breiten Auen des Begatals. Und hier mündet unsere Straße, genau 43
Kilometer nachdem wir im Temeschtal von der E 94 abgezweigt sind, in das glatte
Betonband der Landstraße Lugosch – Deva ein.
Das wäre sie also, die kleine Süd-Nord-Überquerung der Poiana Rusca an ihrem Westzipfel.
Eigentlich wollten wir Sie zur Überquerung des Zentralmassivs einladen, aber... diese Straße
ist vorläufig für Sie, wenn Sie nicht zufällig im Besitz eines Geländewagens sind, noch
unzugänglich. Doch es wird daran gearbeitet, und wenn es soweit ist, dann nehmen wir Sie
bestimmt mit.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 83, S. 49 – 56)
Seite | Bildunterschrift |
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49 | Nadrag, die künftige Stadt, vom Stanzelberg gesehen. |
51 | Bunte Stuckornamente an einem alten Bauernhaus in Firdea. |
52 | Wassersportler lassen sich diese Gelegenheit nicht entgehen. |
53 | Der Kohlenmeiler im Nădrăgel-Tal. |
55 | Und nochmals Nadrag, als stilles Bergdorf im Kornettal. |
56 | Hier stand das Geburtshaus Traian Vuias. |