Mit dem Fahrrad auf der Transfogarascher Hochstraße
von Wolfgang Wittstock
340 Kilometer in vier Tagen – für einen Radfahrer ist das gewiss keine außergewöhnliche Leistung. Auf den ersten Blick. Denn wenn es dabei um die „Bezwingung“ des Herzstücks unserer „siebenbürgischen Alpen“, des majestätisch-grandiosen Fogarascher Gebirges, geht, wenn es heißt, sich auf über 2000 Meter Höhe hinaufzustrampeln, sieht die Sache schon ein bisschen anders aus.
Dienstag. In der Nacht hatte es tüchtig gedonnerwettert, doch in der Früh holte mich nicht
der Wecker – den hatte ich geflissentlich überhört –, sondern die Sonne aus den Federn. Es
war dreiviertel sechs, in einer Viertelstunde sollte es schon losgehen. Treffpunkt: Braşov,
Langgasse. Also nichts wie in die Kleider, schnell was gefrühstückt und los. Den schweren
Rucksack nahm ich zunächst auf den Rücken, denn das fachgerechte Befestigen braucht
viel Zeit. Das Zelt hatte ich schon am Vorabend auf dem superbreiten, soliden Gepäckträger
festgeschnallt, einem vor Jahren ergatterten Sonderfabrikat.
Dietmar, Student am Polytechnikum, war noch nicht da, ich hatte Zeit, den Rucksack in Ruhe
auf dem Gepäckträger festzubinden. Als wir dann die Langgasse hinabradelten, war es noch
nicht halb sieben. Die Sonne schien noch immer, doch spürte ich hie und da ganz feine
Regentröpfchen Gesicht und Arme berühren. Die erste, im Vergleich zu den kommenden
Strapazen minimale Steigung unserer Tour – der Viadukt nach Bartholomä – bescherte uns
den ersten Regen. Dietmar zog seinen Regenschutz, ich meine ausrangierte Skijacke
hervor. In Ghimbav mussten wir bereits pausieren, denn vom Schuler her zog ein zünftiges
Gewitter auf. Die nächste Pause zwang uns der Regen in Vlădeni auf; das vom Zeidner Berg
kommende Gewitter verlor zwar bald seine Intensität, ganz wollte der Regen zunächst aber
nicht mehr aufhören. Wir beschlossen, weiterzufahren. Als wir um elf in Fogarasch
anlangten, waren Basketschuhe und Strümpfe schon längst pitschnass.
Ein kleiner Imbiss, und um zwölf Uhr ging’s weiter. Der Regen hatte nun aufgehört, doch
wehte es ziemlich stark, bald von der Seite, bald von vorne. Nun wurde zur linken Seite das
Fogarascher Gebirge sichtbar, das wir auf unseren Rädern bezwingen wollten; der
Gebirgskamm allerdings war in dunkle Wolken gehüllt.
Um 14 Uhr erreichten wir, nach Arpaş und vor Scorei, die Abzweigung, die hinauf zum Bâlea
führt. Wir hatten die ersten 100 km bewältigt, und zwar die langweiligsten, denn diese
Strecke war uns beiden zur Genüge bekannt.
Auf dem Wegweiser bei der Abzweigung stand: 21 km bis Bâlea-Wasserfall, 35 km bzw. 36
km bis Bâlea-See bzw. Bâlea-Tunnel, 114 km bis Curtea de Argeş. Nach einstündiger
Mittagsrast bestiegen wir wieder unsere Drahtesel: mein Diamant-Fahrrad, das mir schon
seit 18 Jahren gute Dienste leistet, und Dietmars „Herkules“, das etwa der gleichen
Generation angehört. Etwa 10 – 11 km, durch das Dorf Cârţişoara und ins Tal hinauf,
konnten wir noch radeln, doch wo die Serpentinen abfangen, begann auch für uns das
Schieben. Der Verkehr war ziemlich dicht, auch viele ausländische Autos, vor allem aus der
DDR, aus Ungarn und der CSSR, flitzten vorbei.
Wenn’s weniger steil bergan ging, fuhren wir auch wieder mal ein bisschen mit dem Rad.
Dietmar hatte die längere Puste, nicht zuletzt auch dank seiner Zehngangschaltung (mit der
meine vier Gänge nicht konkurrieren konnten). Alsbald hatte er auch heraus, dass das
Fahren in kleinen Serpentinen, von einer Straßenseite zur anderen und zurück, weniger
anstrengend ist und dass man doch wesentlich schneller als zu Fuß vorwärts kommt. War
kein Verkehr auf der Straße, praktizierte er dieses System ziemlich konsequent. Ich trottete
hinterdrein.
Um 18 Uhr waren wir beim Hotel „Bâlea-Wasserfall“. Den ganzen Aufstieg über war es
trocken gewesen, sogar die Sonne hatte sich aus den Wolken hervorgewagt, der
Gebirgskamm allerdings blieb weiterhin unsichtbar. Wir hatten kaum die Räder abgestellt, da
goss es plötzlich wieder in Strömen. Wir beschlossen, zunächst zu essen: Den Braten und
die zwei Flaschen Bier pro Kopf und Nase hatten wir uns redlich verdient. Als wir damit fertig
waren, hatte der Regen auch wieder aufgehört. Zwischen dem Hotel und der alten,
zusehends verfallenen Schutzhütte (1234 m ü. M.) fanden wir an der Berglehne einen
geeigneten Zeltplatz. Vor dem Schlafengehen kletterten wir noch ein bisschen in die
Richtung des tosenden, weithin hörbaren Wasserfalls.
In der Nacht begann es wieder zu regnen, und alsbald bedauerte ich, das Überdach meines
isothermischen André-Jamet-Zeltes zu Hause gelassen zu haben. An der Naht zwischen
Zeltstoff und Gummierung sickerte das Wasser ins Zelt und sammelte sich in mehreren
Pfützen. Es blieb mir nichts anderes übrig, als das Handtuch zum Aufwischfetzen zu
degradieren.
Es regnete nun ohne Unterlass und hörte auch in der Früh nicht auf, so dass wir uns am
Morgen zunächst nicht aus dem Zelt wagten. Um zehn Uhr liefen wir ins Hotel und tranken
einen Kaffee. Wir wussten nicht recht weiter. Schließlich beschlossen wir doch
aufzubrechen. Schlimmstenfalls – wir dachten daran, dass es weiter oben schneien könnte,
und tatsächlich hatte es am Tag zuvor beim Bâlea-See geschneit – könnten wir ja wann
immer umkehren. Kurz vor zwölf Uhr ging’s los. Mal schoben wir, mal fuhren wir nach dem
bereits beschriebenen Zickzacksystem. Die entgegenkommenden bzw. überholenden Autos
fuhren sehr langsam und hatten die Scheinwerfer eingeschaltet. Von der einmaligen
Großartigkeit der in den Fels gesprengten Straße konnten wir in der alles verhüllenden
Waschküche einiges erahnen, weniger auch wirklich sehen. Es regnete pausenlos. Schuhe
und Strümpfe waren noch vom Vortag nicht getrocknet.
Kurz nach 14 Uhr erreichte ich die auf dem Bâlea-See liegende Schutzhütte (2034 m ü. M.).
Dietmar war schon seit einer halben Stunde da, er hatte zuletzt nicht mehr auf mich
gewartet, um nicht immer wieder auszukühlen. Wir schlüpften zunächst in trockene
Trainingshosen und trockene Hemden. Für die nassen Basketschuhe allerdings gab’s keinen
Ersatz.
Da der Nebel hier oben sowieso alles einhüllte, waren wir uns einig: So schnell wie möglich
weg von hier! Erst aßen wir in aller Ruhe, und Dietmar werkelte anschließend an den
Bremsen seines Rades herum.
Um 17.30 Uhr stellten wir uns beim Tunnel ein, der hier das Gebirge von Norden nach
Süden durchsticht.
Als wir auf der Südseite wieder ans Tageslicht kamen, fanden wir sogleich besseres Wetter
vor. Die Waschküche war verschwunden, und wir konnten sogar einige Fotos schießen.
Dann stürzten wir uns die steilen Serpentinen zu Tal. Knapp anderthalb Stunden (inklusive
Pausen zwecks Betrachten der Landschaft) ging’s fast nur bergab (mehr als 20 km), dann
erreichten wir den nördlichen Zipfel des Vidraru-Stausees. Wir fuhren das linke Ufer entlang,
das zwar etwas länger ist (29 km), dafür aber ist hier die Straße ganz asphaltiert. Nach 21
Uhr, es war noch nicht ganz dunkel, aber auch nicht mehr hell, erreichten wir den
Staudamm, ein beeindruckendes Bauwerk. Wir sahen uns ein bisschen um und fuhren dann
weiter talabwärts. Erst auf der Talsohle, nach dem Elektrizitätswerk, fanden wir einen guten
Zeltplatz, am Fuße eines Berges mit alten Burgruinen, die sich gespenstisch gegen den
dunklen Himmel abhoben. (Vorbeikommende Leute meinten auf unsere Frage, das sei die
Burg Poenari.) Obwohl die Abfahrt bei schöner Abendsonne verlaufen war, verschonte uns
auch in dieser Nacht der Regen nicht.
Der dritte Tag sollte laut Plan auch der letzte unserer Tour sein. Doch es kam anders, als wir
uns das ausgedacht hatten. Um neun Uhr waren wir bereits in Curtea de Argeş. Wir
besichtigten die berühmte Klosterkirche aus dem 16. Jahrhundert und brachen um zehn Uhr
in Richtung Câmpulung auf. Der Wegweiser zeigte 44 km an, und diese hofften wir, in knapp
drei Stunden geschafft zu haben.
Doch diese 44 km waren der anstrengendste Teil unserer Tour. Erste Überraschung: „Das
Asphaltband versiegte nach zwei-drei Kilometern. Zweite Überraschung: Die grob
geschotterte Straße führt über sieben steile Berge und in sieben tiefe Täler. Bergauf mussten
wir tüchtig stoßen, bergab konnte man es nicht richtig laufen lassen. Nach der zweiten
Talfahrt schmerzten meine Hände vom Bremsen, nach dem dritten Berg tat es uns schon
längst leid, nicht über Piteşti (knapp 100 km statt 44 km) gefahren zu sein. Allerdings: Die
Sonne brannte, und so hatten wir manchmal einen Blick übrig für die wunderschöne
Landschaft mit den frisch gemähten grünen Wiesen.
Als wir gegen 17 Uhr in Câmpulung einfuhren, stürzten wir uns auf die erstbeste Kondi und
verzehrten einen Berg von Kuchen, Eis und Limonade. Dann ging’s an die Bewältigung der
letzten Etappe (etwa 80 km). Zuerst kam wieder ein Berg (Mateiaş), doch dann ging’s viele
Kilometer ins Dâmboviţa-Tal hinab, nach Dragoslavele und Rucăr. Der Abend war schön, die
Landschaft herrlich, die Lust am Radfahren wieder da. Wir spielten plötzlich wieder mit dem
Gedanken, bis nach Hause durchzufahren. Der Berg zwischen Rucăr und Podu Dâmboviţei
wurde mühelos bezwungen, es ging ins Tal hinab und wieder bergauf, ein gutes Stück. Es
dämmerte schon tüchtig, als wir plötzlich vor Beethoven und Enescu standen. Ja, genau:
Rechts von der Straße steht eine Beethoven-Büste, links sitzt ein in Stein gemeißelter
Enescu. Weiter oben auf der Wiese, zur linken Hand, sehen mehrere steinerne
Frauengestalten auf die Reisenden herab. Aus einer TV-Sendung wusste ich, dass diese
Statuen zu einem Anwesen gehören, dessen Besitzer der Bukarester Dramatiker Paul
Everac ist.
Um 22 Uhr erreichten wir das Hotel „Piatra Craiului“, noch 50 km von Braşov entfernt. Das
Restaurant hatte noch offen, der warme Braten und das kalte Bier trösteten uns darüber
hinweg, noch nicht zu Hause zu sein. Wir stellten das Zelt unterhalb des Hotels auf. Es war
die erste Nacht ohne Regen.
Der Abschluss unserer Bergtour wurde eine schöne Talfahrt. Zunächst ging’s allerdings noch
etwas bergauf, dann wieder bergab nach Valea Urdii, dann wieder bergauf nach Fundata,
das schon zum Kreis Braşov gehörende Gebirgsdorf, 44 km vom Kreisvorort entfernt. Von da
ab führte die Straße nur noch bergab, zwischen frischgrünen Matten, nach Moeciu und Bran,
hinunter ins Burzenland, links der Königstein, rechts die Bucegi. Vor Rosenau gab’s die erste
und einzige Panne: An meinem Rad löste sich eine Pedale von ihrer Achse. Kurzerhand
steckte ich sie in die Tasche, zum Reparieren hatte ich jetzt keine Geduld mehr. Gegen elf
Uhr strampelten wir die Langgasse hinauf.
Zu Hause in der Badewanne überflog ich die Zeitungen der letzten Tage. Die Wetterberichte
sprachen von Unwetter und Sturm, von Hagel- und Blitzschlag. Am Bâlea waren -9 Grad
gemessen worden, dass es geschneit hatte, habe ich bereits erwähnt. Und doch: Es hätte
uns gewiss unendlich leid getan, hätten wir auf halbem Wege die Flinte ins Korn, genauer: in
den Bâlea-Wasserfall geworfen.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 82, S. 158 – 163)
Seite | Bildunterschrift |
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159 | Bei der Ankunft in Braşov. |
160 | Blick auf den Bâlea-See. |
162 | Etappenziel der Radtour: Der Vidraru-Stausee. |