Ein Wochenende mit Skilaufen, Klettern und Wandern
von Werner Körner
Die „Weiße Rinne“ (Valea Albă) trennt als tiefer Graben die beiden Bucegiberge Coştila und Caraiman und mündet bei Buşteni ins Prahovatal.
Januar. Vom Căminul Alpin in Buşteni ziehen wir los. Rote Dreiecke an den Buchen
bezeichnen den Weg. Tief liegt der Schnee im Munticelu-Wald. Der Himmel ist eisgrau, die
Kälte lässt keine längeren Rasten zu. Wir passieren drei Lichtungen und wenden uns links
dem Berg zu. Der Weg führt eine Steilflanke hinan, quert einen Lawinenhang mitten im Wald,
überwindet gestürzte Baumriesen – wir sind bei der Felskante und biegen in die Valea Albă
ein. Etwas höher, zwischen den Bäumen verborgen, steht die kleine Skihütte, einsam und
verschlossen.
Vorsichtig queren wir steile Hänge, unter denen eine Felswand zum Schluchtboden abbricht.
Wir wühlen uns durch den Schnee von Baum zu Baum – Steigeisen und Eispickel sind
zunächst unnötig. Ein Kampf mit den Latschen – und dann stehen wir in der Rinne. Ein
flacher, breiter Schneehang, ein Felsbrocken ragt aus dem Schnee, links die „Picătura“, eine
Felsnadel, von der steile Rinnen herabziehen und plötzlich abbrechen, die
Caraiman-Nordwand, von Schluchten durchzogen, hoch oben der Plateaurand, über den
Schneefahnen fliegen, rechts die Valea-Albă-Wand mit dem Blauen Riss und all den
anderen großen Kletteranstiegen. Die Stelle hier heißt „La Verdeaţă“, im Sommer eine grüne
Raststelle vor dem weiteren Anstieg. Der Weg nach oben liegt anscheinend frei. Doch der
Schein trügt. Erst müssen wir riesige Schneebälle überklettern, die Spuren einer mächtigen
Lawine. Dann wird es unmerklich steiler und steiler. Das Schneewehen wird immer
unangenehmer, wir schalten eine Rast unter einem Überhang ein. Ein Benzinkocher zaubert
heißen Tee herbei. Das Wetter wird zusehends schlechter – wir beschließen umzukehren.
März. Wieder stehen wir auf der schneebedeckten „La Verdeaţă“. Die Caraiman-Nordwand ist unser Ziel. Das Wetter ist gut, der Firn hält, problemlos kommen wir höher. hinter mir stapfen zwei Dutzend Bergsteiger! Wenn uns die Puste ausgeht, treten wir uns eine breitere Stufe für beide Füße in den Schnee und schauen uns um. Herrlich dieser Anblick: Die Wände der Albişoara im Vordergrund, die Valea-Albă-Wand und die Brâna-Wand jenseits des Tiefen Einschnitts der Valea Albă, Azuga, Predeal, der Schuler, der Hohenstein im Hintergrund. Jeder Gipfel hat seine Geschichte, jede Wand ist mit Erinnerungen verbunden. Gegen Mittag erreichen wir den Großen Caraiman-Sattel mit dem Heldenkreuz. Beim Ausstieg aus der Nordwand hatten wir auf Sonne gehofft. Daraus wird nichts. Der Himmel ist von Schleierwolken bedeckt, ein „kühler Passat“ drängt uns zum Caraiman-Gipfel. Ich habe meine neuen Kurzski mitgeschleppt, nun sollen sie zum Einsatz kommen. Doch daraus wird nichts: Der Firn ist beinhart, ich komme zum Sturz, nichts kann mich mehr halten. In rasender Rutschfahrt sehe ich die Felsen näherkommen – da stehen jedoch zwei stämmige Bergsteiger, mit Steigeisen und Pickel fest verankert, und fangen mich auf. Es war höchste Zeit.
Mai. Die grüne Insel „La Verdeaţă“ ragt aus dem Firn, darauf stehen einige bunte Zelte. Am
Hang ist Hochbetrieb, es ist Sonntag, einer der letzte Skisonntage. Während die anderen
hier Ski laufen und die Sonne genießen, schultere ich die Bretter und steige allein die Valea
Albă empor. Der Firn ist gerade richtig. Endlich bin ich oben am Plateau. Kurze Rast, ein
Blick hinüber zu den Babele, zum Caraiman, zur Coştila, dann die Ski angeschnallt und in
kurzen Kehren geht es hinab. Der erste Teil ist eng und steil, dann wird es weiter und
flacher. plötzlich ist da der Felsblock, der die Rinne abriegelt; rechts bleibt ein schmaler
Durchschlupf. Hier steige ich im Treppenschritt ab. Damit ist das Schwerste geschafft. Der
Firnhang wird hier immer breiter, und bald bin ich inmitten des Skivolkes. Es war bestimmt
eine der schönsten Abfahrten, kürzer, aber auch steiler als das Morartal oder die
Hirschschlucht.
Die Fahrt geht weiter. Jedoch nicht allein. Amalia ist dabei, und Nae, und Halina, und Robert.
Es geht abenteuerlich zu. Auf Schneebrücken über sprudelnde Wasserfälle, und manchmal
müssen wir sogar an Baumästen über das Wasser hangeln. Dann ist es aus. Wir schnallen
die Skier ab und klettern einen mit Unterholz bewachsenen Steilhang bis zur Valea Seacă
empor. Auch hier Skiläufer! Wir schnallen wieder an und rutschen über guten Firn bis zur
Mündung in die Valea Albă.
Juli. Wie jeden Sonntagmorgen, so geht es auch heute den Munticelu-Wald aufwärts; Vögel
zwitschern, Eichhörnchen turnen auf einer Spiralroute Fichtenstämme empor, ein Rehkitz
spitzt die Ohren und flüchtet. Wir queren den Sfatul Uriaşilor, die kleine runde Wiese, wo die
steinernen Riesen ihren ewigen Rat abhalten und wo wir einmal ein Bärenjunges erblickten.
An einer Quelle wird gefrühstückt. Alte Bekannte begrüßen uns. Da ist die Felsplatte, wo zur
Coştila-Hütte (Refugiu) gequert wird und wo jeden Winter die Lawinen den Steg wegfegen.
Steilkommandos ertönen aus der Kleinen-Turm-Südwand, auf der Terrasse vor der Hütte
sitzen Leute, von der „Unterbrochenen“ seilt man sich ab. Aufwärts geht’s nun, an der alten
Lärche vorbei, durch Latschen und über die Policandru-Rinne. An Bergweiden hangelt man
sich empor, quert in eine Rinne, turnt die Rinne empor, erreicht einen Zeltplatz: „La Pândă“
(„Die Lauer“). Eine schattige Terrasse zwischen hohen Lärchen und Fichten, davor die
Kleine Wand mit dem „Schiefen Riss“, dem „Überhang mit dem Pendelquergang“ und dem
„Gämsenbiwak“, drei schöne Kletterfahrten zum Aufwärmen. Hoch darüber die „Adlerwand“.
Zwischen den Baumwipfeln grüßt im Süden die Picătura-Spitze.
Aus dem Schatten der letzten Bäume klettern wir, uns an Grasbüscheln festhaltend, hinaus
auf das luftige Band, das ins Circuri-Amphitheater hinüberleitet. In vollen Zügen genießen wir
das Einmalige dieser Landschaft, die für uns von allen Karpatenlandschaftsbildern den
absoluten Höhepunkt darstellt: den Einschnitt der oberen Valea Albă, flankiert von der
Caraiman-Nordwand, jener dunklen Wand, deren Fels von Grasbändern und Latschen
unterbrochen, von Firnrinnen durchzogen, von Türmen und Felsbastionen gekrönt ist. Die
ganze alpine Flora ist hier vertreten, wie in einem Bilderbuch. Der tiefe Einschnitt einer
Steilrinne wird nun gequert und auf lehmigen, feuchten Stufen geht es empor in einen
kleinen Sattel zwischen einer mit Lärchen bestandenen Kanzel. Es ist das Tor zum Circuri-
Amphitheater. Die Kanzel ist es wert, einen ganzen langen Sommertag zu verweilen. Uns
jedoch treibt die Unruhe, das Kletterfieber lässt uns keine Zeit. Ein rascher Überblick. In
großen Sprüngen geht es einen Steilhang hinab und wir stehen im ersten Amphitheater.
Über uns durchzieht der Blaue Riss die Wand, rechts davon die Pupezu-Verschneidung und
die „Plattenführe“, links die Hoffnungsführe. Am unteren Rand des Amphitheaters befindet
sich ein guter Zeltplatz, von dort gibt es eine Möglichkeit, über Schroffen zum Rinnenboden
„La Verdeaţă“ abzusteigen. Doch so weit gehen wir nicht. Auf demselben Weg wandern wir
zurück, weil jeder andere nur durch Abseilen zu meistern ist.
September. In „La Verdeaţă“ ist der Firn größtenteils weggeschmolzen. Über Schutt und größere Felsblöcke turnend, klettern wir höher. An den Einstiegen der Albişoara Crucii und Albişoara Răsucită vorbei geht es; links ergibt sich die Möglichkeit, auszukneifen und über einen mäßig geneigten, gras-, alpenrosen-, und latschenbewachsenen Hang (Prispa Văii Albe – die „Terrasse“) das Band zu erreichen, das zum Großen Caraiman-Sattel hinaufführt. Noch einige Steilabbrüche und wir stehen am Beginn des Großen Coştila-Bandes, unserem heutigen Ziel. Über das Band führt ein gut ausgeprägter Pfad. Sonnige, breite Terrassen, von Herbstblumen übersäht, wechseln mit schmalen, luftigen Stegen. Mit dem Valea-Albă-Grat erreichen wir die höchste Stelle des Großen Bandes, ein großartiger Aussichtspunkt über Caraiman-Nordwand, das Prahovatal, die Gârbova, Hohenstein, Schuler, bei klarer Sicht der Krähenstein und die weiteren Ostkarpaten, links die Hänge, die einen Trichter bilden und Schmelz- und Regenwasser in die Röhre der Valea Coştilei hineinführen.
November. Heute klettern wir im Dinamo-Riss, in der „Schildwache des Topfes der Riesen“ (Santinela Blidului Uriaşilor). Es ist wohl der letzte Klettersonntag des Jahres, die Nordwände sind von Schnee und Eis gespickt, das Tal steckt unter einem Wolkenmeer, das fast bis auf 2000 m reicht, doch hier in der Südwand scheint eine warme Spätherbstsonne. Trockene, abwärtsgerichtete Grasbüschel zeugen davon, dass es auch hier schon Schnee gegeben hat, er ist wieder geschmolzen. Wir genießen die Kletterei im warmen Fels, erreichen den Ausstieg. Hier auf den höchsten Grasbändern blühen noch die allerletzten Blumen, winziger, hellblauer Enzian.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 81, S. 118 – 122)
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119 | Kartenskizze: Valea Albă. |