Erlebnisse in Rumänien
von Dr. Karl-Heinz Ewert (Guben)
Gegen Abend hatten wir in einer Flußau bei Simeria Autorast gemacht. Noch die
körperlichen Anstrengungen der Bergtouren in den Gliedern, rasten wir nun an den Ufern
des schnellen Streiul. In der Ferne, im abendlichen Dunst durch eine goldstrahlende Sonne
aufgehellt, die Berge als Silhouette nur als schwache sichtbare Erinnerung an vergangene
Tage.
Wir waren eine Augustwoche lang auf den Spuren von Bergwanderern und Freunden der
wilden alpinen Bergwelt im Retezat in den Südkarpaten.
Von Sebeş aus wollten wir die Gebirgsstraße über Lotru bis Petroşani fahren, um dann in die
Karpatenwelt zu gelangen. Obwohl wir bereits zwei Jahre Hochgebirgsstraßenerfahrungen
im Fogarascher Gebirge sammeln konnten, mussten wir nach ca. 50 km umkehren, da unser
Auto auf der „Straße“ steckenzubleiben drohte und das Bodenblech immer häufiger an
Gesteinsbrocken stieß. „Drum în lucru“ („Straße im Bau“). Diesen Hinweis sollte der
Autofahrer in Rumänien nicht übersehen.
Die fahrt ging nun zurück nach Orăştie und Hatzeg bis in das Gebirgsdorf Nucşoara und
über eine schwierige, von häufigen Regenfällen aufgeweichte Bergstraße, die wieder den
Beinamen „Drum în lucru!“ – Straße im Bau! – trug, bis zur Station Cârnic, einer letzten
Parkmöglichkeit und Endstation für den öffentlichen Verkehr.
Bis zur Berghütte Pietrele sind es von hier noch zwei Stunden Fußweg. Wir erreichten sie,
als es dunkelte.
Gemeinschaftsquartiere und Blockhütten mit zwei Betten gibt es hier. Brot wird täglich im
Steinofen gebacken. Uns gefällt es hier ausgezeichnet.
Ein Wanderziel war der Galeş-See. Man blickt von hier in die sonnige, wolkige, tiefe
Landschaft und auf die Bergrücken mit ihrer üppigen Pflanzenwelt. Strahlende Sonne lässt
die Farbpracht aufleuchten.
Der Talkessel, in welchem der See hoch über diesem natürlichen Steingarten gefangen liegt,
füllt sich plötzlich mit Wolken, die über den Kamm hereinfallen. Unsere Capes schützen uns
vor dem aufkommenden kalten Wind. Er treibt uns nach Hause. Mit glühenden Gesichtern
beenden wir den Tag in schummriger Hüttenatmosphäre 1400 Meter über dem Meer.
Am nächsten Tag schließen wir uns bei der Berghütte Genţiană einer kleinen Gruppe
Bukarester Touristen an. Wir sollten bald merken, dass wir uns zu Kennern dieser Bergwelt
gesellt hatten, die die große Runde gehen wollten: Bucura-Sattel, Custura Bucurei, Peleaga,
Galeş-See und zurück zu unserem „Basislager“, der Berghütte Pietrele.
Auf dem Bucura-Sattel angekommen, eröffnet sich ein weiter Blick über den Bucura-See
hinweg bis auf bewaldete Höhenzüge des Kalkretezats. In östlicher Richtung steigen wir auf
die Custura Bucurei, den Vorberg zur 2509 m hohen Peleaga. Wir erblicken eine Reihe
kleinerer Seen, deren Namen von unseren Begleitern aufgezählt werden. Wir erfahren, dass
es hier im Herzen des Retezats über 80 Seen gibt, Gebirgsseen, von denen die Sage
verbreitet ist, das sie mit dem Meere in unterirdischer Verbindung ständen, gleichsam
dessen Augen im festen Lande wären und in Bewegung gerieten, wenn die Fluten des
Meeres von den Stürmen ungewöhnlich erregt würden. Das größte dieser Meeraugen blickte
uns eigentümlich grün an, ein Blick, der nur tiefen Gebirgsseen möglich ist. Kurzzeitig zeigt
sich der platte, wie abgeschnitten wirkende Gipfel des Retezats. Auf dem Kammweg vom
Retezat her kommen vereinzelt Wanderer. Gelb, rot und blau leuchten ihre Anoraks als
kleine Farbpunkte herüber. Sie bewegen sich entlang einer Wetterscheide, denn die
Wolkenballen, die das Tal nun füllen, aus dem wir kamen, steigen, drängen, umhüllen weich
den bizarren steinernen Kesselrand. Die Mittagssonne trifft die vorgestoßenen und wirft sie
zurück – ein Kampf der Wetter und des Lichts entlang des Bucura-Sattels. Die Fronten
schwanken dort unter uns, noch liegen die Zelte am Bucura-See im Sonnenschein. Vom
steilen Anstieg zum Peleaga-Gipfel aus gesehen, gleicht der zurückliegende Bergrücken
einem mächtigen Stiernacken, hinter dem man den gegen den großen Bergnachbarn
gesenkten Kopf nur vermuten kann, der niedere Kiefernbewuchs an einigen Stellen erinnert
an zottiges Fell. Wir beschließen, erst auf dem Gipfel, der klar vor uns liegt, eine Rast
einzulegen.
Im Kampf der Wetterfronten hatten die Wolken gewonnen und uns überlaufen, noch ehe wir
den Gipfel erreichten. Sie entluden sich spontan, als wenn kleine pralle Wassersäcke an den
schroffen Felstrümmern geschlitzt würden. Keine Regenbekleidung hielt dicht. Nach kurzer
Rast flüchteten wir im dichten Regen bergab, statt auszuharren, enttäuscht, da uns der
herrliche Ausblick, der uns lockte, durch Wolken und Regengüsse verwehrt blieb. In dieser
Situation ist jede Wetterprognose problematisch, da in dichter Wolke nichts vorhergesehen
werden kann. Selbst unsere erfahrenen Bergtouristen enthielten sich der Stimme.
Der Rückweg wurde über einen mit Steinhäufchen gekennzeichneten Notweg der hirten
abgekürzt. Die Halsglocken und das Blöken von Kühen drangen zu uns herauf. Die Sicht
reichte kaum von einer Wegmarkierung zur anderen.
Auf der nächsten Wiese wagten wir einen ersten Trocknungsversuch in der Sonne – ja, in
der Sonne! Mir wurden hier der Ursprung und die Bedeutung von „wetterwendisch“ so richtig
bewusst. Während wir nasse, bunte Hemden zum Trocknen schwenken, fliegen
Alpenregenpfeifer erregt von Stein zu Stein. Hinter uns steht plötzlich der regennasse Gipfel
vor unwirklich blauem Himmel und glitzert im Sonnenschein. „Hätten wir..., wären wir...“,
jeder macht sich Luft.
Der vor uns liegende Abstieg zum Galeş-See ist unklar. Wir blicken angestrengt durch die
Felsen nach unten. Die Wolken sind wechselhaft wie Daunen im Wind. Dann zeigt sich für
Augenblicke ein dunkles sanftes Auge in leichter Wolkenwatte. Wir stehen Blick in Blick mit
der großen schwarzen Wasserfläche. Reale alpine Steinwelt scheint an maritimes Gewässer
zu grenzen. Wir müssen rechts um den See herum. Steil geht es hinab, am Seeufer
zwischen Steinen entlang. Dann sind wir am großen Uferstein am Galeş-See.
Während des Abstieges durch dichten Latschenkiefernbestand sinkt die Sonne hinter den
westlichen Kamm. Wir beschleunigen unseren Schritt durch den nun im Schatten liegenden
Steingarten. Die Zirbelkiefern stehen dunkel. Der Weg wird lang. Auf den letzten 100 Metern
vor der Berghütte wird es im Hochwald finster. In der Hütte bekommen wir noch das letzte
Abendbrot und fallen dann erschöpft, aber froh, in den Schlafsack.
Am folgenden Tage wird mir erzählt, dass in der Gemeinschaftsunterkunft nachts jemand
laut träumend eine unerledigte Vortagshoffnung bewältigte. Er rief: „Kommt schnell, der
Retezat in der Sonne!“
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 81, S. 258 – 261)
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260 – 261 | Im Gebiet der Custura Păpuşii (rechts die Păpuşa, links die Peleaga). |