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Unter dem Steinmeer der Laiţa-Spitze

Botanische Wanderung vom Bâlea-Bach ins Doamnei-Tal

von Erika Schneider

Die Straße schlängelt sich durch den Buchenwald, aus dessen hellerem Grün alte, stämmige Tannen hervorragen. Wir sind im oberen Teil des Bâlea-Waldes angelangt, dort, wo die Täler auseinanderstreben, der untere Ausläufer des Piscul Bâlii das Tal beherrscht, wo rechts der Straße im Talgrund sich Bâlea- und Doamnei-Bach vereinigen und mit ihrem klaren Wassersprudel zu Tale stürzen. Weit hinten, wo die Fichten sich lichten und die Hänge in den Himmel ragen, schneidet das Wasser seine Rinnen in die Felsen und zwischen Weiden, Grünerlen und Bergholunder stürzt der Bâlea-Wasserfall über die Schwelle des Gletschertals in die Tiefe. Wie schnell dringt man auf dieser Straße bis zum Herzen der Berge vor!
Einladend das Hotel am Bâlea-Wasserfall (1234 m). Autofahrer und viele Touristen machen hier halt. Viele jedoch streben höher hinauf, sei es, dass sie die grauen Schlingen der Straße, auf denen der Motor angestrengt zu den Höhen brummt, sei es, dass sie den Kabinenlift hinauf zum Bâlea-See wählen, um von dort mit dem Rucksack zu den höchsten Graten zu steigen. Doch mancher Wanderer verlässt schon nach dem Aussteigen aus dem Bus, der ihn von Cârţişoara bzw. von Sibiu bis zum Bâlea-Wasserfall-Hotel gebracht hat, die Hauptader des Transfogarascher Gebirgsverkehrs und sucht, gar nicht so fern von menschlichem Getummel, einsamere Pfade auf, die ihn die Berge mit all ihrer Pracht, ihrem Zauber und wilden Geheimnissen erleben lassen.

Durchs Fichtendunkel zur Alpenwiese

Vom Wasserfall-Hotel aus führt der Weg talaufwärts, zuerst am rechten Ufer des Bâlea-Baches entlang, überquert diesen über ein kleines Holzbrücklein zum linken Ufer und schlängelt sich an der Lehne durch den Bergwald hinan. Hohe, alte Fichtenstämme, dunkle, von Bartflechten umsponnene Äste, Bergahorn und Bergholunder begleiten den Weg. Die Ähren des Wald-Reitgrases erzittern im Wind, der sich in den Ästen verfängt, die gelben Blüten des Hain-Kreuzkrautes leuchten aus dem Dunkel und die „Fächer“ des Schwalbenwurzblättrigen Enzians mit ihren hellblauen Blüten zieren die Lehne, an der der Weg hinaufsteigt. Farnwedel und Himbeersträucher säumen stellenweise den Weg, der sich bald teilt. Der mit einem blauen Band markierte, nach links abzweigende, führt zum Wasserfall, überquert den Fichtenwald, Krummholzkiefergebiet und Steinracheln, um über die Schwelle des einstigen Gletschers ins weite, U-förmige Bâlea-Tal zu führen. Der andere, nach rechts abzweigende Weg umgeht den Hang des Piscul Bâlii, der sich zwischen Bâlea- und Doamnei-Tal erhebt, neigt sich nach links, an der westlichen Lehne des Bâlea-Grates, durch einen schönen, alten Fichtenurwald ins Doamnei-Tal. Allmählich steigt der mit rotem Kreuz markierte Weg wieder zur Waldgrenze an und über diese hinaus durch Zwergsträucher und Krummholz zu den subalpinen Matten. Die großen Stauden des Alpenampfers verraten hier die Nähe einer Sennhütte.
Vor uns weitet sich das Tal, und bald ist die Gletscherschwelle, von der ein kleiner Wasserfall stürzt, überschritten. Zwischen die vom Wasser benetzten Steine drängen sich die Rosetten des Sternblütigen Steinbrechs mit ihren zarten Stängeln und den kleinen, weißen Blüten. Orangegelb leuchten die Blüten des über den feuchten, steinigen Boden kriechenden Immergrünen Steinbrechs und die gelben Sonnen der Karpatengemswurz begleiten den Sprudel des munteren Wassers, während die „Helm-Ähren“ des Blauen Eisenhuts zwischen den Steingruppen wachen. Den grünen Teppich der Bergwiesen zieren die violettroten Blüten des Quirlblättrigen Läusekrautes und die blauen Alpen- Stiefmütterchen, während weit oben die blauen Lippenblüten der Alpenminze, die Gletschernelke und die schöne, weiße Karpaten-Kamille, zu der sich seltener auch die Alpen-Wucherblume gesellt, beheimatet sind.
Vom linken Ufer des Doamnei-Baches erhebt sich der Piscul Laiţii, aus dem der „Jgheabul Văros“ mit seinen aus kristallinem Kalk aufgebauten Klippen hervortritt. Über saftige, grüne, hie und da von Steinblöcken durchsetzte Matten gelangt man in die Nähe der in einer Höhe von 1860 m, auf der vierten Gletscherterrasse gelegenen Doamnei-Seen, die rechts vom Weg, etwas tiefer gelegen, sichtbar werden. Der größere von ihnen, Iezerul Doamnei genannt, hat seinen Ursprung in Moränenablagerungen, die das Wasser stauten. Seine Fläche beträgt 0,5 ha und seine Tiefe ist nur 1,5 m. Beim kleineren der beiden Seen fallen sein Riedgürtel sowie einige moorige Tümpel seiner Umgebung auf. Im Juli wiegt sich in elegantem Flug um das Ried die Alpenlibelle (Somatochlora alpestris). Sie gehört als Eiszeitrelikt zu den Seltenheiten unserer Hochgebirgsfauna und wurde bisher nur an einer Stelle im Retezat, im Bucegi und an zwei Stellen im Fogarascher Gebirge gefunden.
Nach einer willkommenen Rast am Iezerul Doamnei (oder einem Abstecher zum Jgheabul Văros) folgen wir wieder dem Bergpfad, der nun die „Căldăruşa cu Iarbă“ („Graskessel“), d. h. den östlichen, etwas höher gelegenen Doamnei-Kessel umgeht. Bald erreicht man die Höhe des Sattels, Curmătura Bâlii (2201 m), der als Kettenglied zwischen der Paltinu-Spitze am Hauptkamm (2398 m) und dem nach Norden laufenden Piscul Bâlii liegt. Über den Osthang des Piscul Bâlii führt nun der Weg in den Bâlea-Kessel, zum Bâlea-See, dem größten Gletschersee des Fogarascher Gebirges, dessen 4,6 ha große Wasserfläche sich vom leichtesten Windhauch kräuselt und die ihn umgebenden, grauen Riesen ihre Häupter ins spiegelklare Wasser tauchen.

Blick über die Höhen

Doch bevor man zur Bâlea-See-Hütte absteigt, überblickt man das obere Doamnei-Tal: die am Hauptkamm gelegene Laiţa-Spitze mit den stellenweise dachartig liegenden, großen Steinplatten und Zacken, den schroffen, grau-weiß leuchtenden Felsklippen und den ins obere Doamnei-Tal abfallenden Felswänden, und den von der Laiţa-, früher auch „Albie“ genannten Spitze (2397 m) auslaufenden Nordgrat, Piscul Laiţii, über dessen 2039 m hohen Sattel man ins westlicher gelegene, wilde und unwegsame Laiţa-Tal gelangen kann. Und schließlich wäre als erstes, nach Norden an den Laiţa-Sattel anschließendes Glied der Perlenkette, der schon erwähnte „Jgheabul Văros“ zu nennen. Der bedeutende Kalkeinschluss inmitten des Massivs aus kristallinem Schiefer verleiht diesem einen besonderen landschaftlichen Reiz.
Ob man nun das Doamnei-Tal von der Bâlea-See-Hütte kommend und zum Bâlea- Wasserfall absteigend durchquert oder es als Aufstieg zum Bâlea-See benützt, ist es lohnend, bei seinen botanischen Schönheiten zu verweilen, um etwas davon mit den Blicken aufzunehmen oder in die Kamera einzufangen.

Ein „sehr interessanter Felsen“

Die alten Botaniker des 19. Jahrhunderts nannten diesen „aus dem umgebenden Urgestein hervortretenden, gegen Osten senkrecht fallenden Kalkfelsen von grauweißer Grundmasse“, „Stiavu văros“ und Friedrich Fronius (1856), von dem auch die obige Beschreibung stammt, bezeichnete ihn als einen „sehr interessanten, allen Botanikern sehr zu empfehlenden, aber nur schwer erkletterbaren Felsen“. Manche bezeichnen als Jgheabu Văros die Rinne, die durch eine Gabelung des von der Laiţa-Spitze auslaufenden Grates entsteht. Der nordöstliche, kurze Ausläufer, eine Rippe des Laiţa-Gipfels und der nordwestliche der Paltinu-Spitze, begrenzen den oberen Kessel des Doamnei-Tals mit seinen steil abfallenden Hängen und den riesigen Felsbrocken, eine Steinwüste zwischen Paltinu und Laiţa-Spitze von stummer, unvergleichlicher Schönheit.
Über Geröll und Steinschutt aus kristallinem Kalk steigen wir, ohne Anstrengung, zu den Felsbändern und Kalkklippen des Jgheabu Văros. Doch vorher gilt ein Blick den Geröllpflanzen, deren Wurzeln sich tief verankern, die Steine umspinnen und sie festigen. Eine Schildampfer-Blasenfarnflur am Fuße der Felsen wirkt wie ein zierliches Spitzengewebe zwischen den abgerollten Kalksteinen und das Violette Rispengras (Poa violacea) scheint mit hm verflochten zu sein. Die Felsbänder werden von Bläulichem Kopfgras (Sesleria coerulans) und Horst-Segge (Carex sempervirens) beherrscht. Stellenweise ist auch der Amethyst-Schwingel (Festuca amethystina) und eine seltene, in den Karpaten endemische Fuchsschwanzart (Alopecurus laguriformis) anzutreffen.
Auch wenn die Felsbänder nur in ihrem unteren Teil zu erklettern sind, eröffnet sich dem Blick und der Kamera ein buntes Mosaik der schönsten kalkliebenden Felsenpflanzen. Zu ihnen gehören die rosa-roten Blüten des Alpen-Süßklees (Hedysarum hedisarioides), das gelbe Brillenschötchen (Biscutella laevigata), das zarte, weiße Kugelschötchen (Kernera saxatilis), die violetten Sterne der Alpen-Aster mit ihrer goldenen Mitte (Aster alpinus), das Rote Kohlrösel (Nigritella rubra), die kleinen, leuchtend gelben Blüten des Alpen- Sonnenröschens (Helianthemum alpestre), das kleine, Ungleichblättrige Labkraut (Galium anisophyllum), die in den Karpaten sehr seltene Alpenscharte (Saussurea alpina), das Goldene Kreuzkraut (Senecio capitatus var. leiocarpus) mit seinen filzig, silbrigen Stängeln, der Trauben-Steinbrech (Saxifraga paniculata), das Gelbe Läusekraut (Pedicularis oederi), u. a. Alpenglockenblume (Campanula alpina) und Kugel-Rapunzel (Phyteuma orbiculare) leuchten von dem Weiß der Kalkklippen. Die wollig-weißen Sterne des Edelweiß (Leontopodium alpinum) und das Wollige Hornkraut (Cerastium lanatum) verstecken sich zwischen den Graspolstern. An etwas feuchteren Stellen, Spalten und Felsvorsprüngen breitet das kleine Alpen-Fettkraut (Pinguicula alpina) seine klebrige Blattrosette aus.
Zu den Felsenbewohnern des Jgheabul Văros zählen viele seltene, nur in den Kalkmassiven der Karpaten verbreitete Arten wie: die Siebenbürgische Esparsette (Onobrychis transsilvanica), Karpatenspitzkiel (Oxytropis carpatica), Gefiederte Flockenblume (Centaurea pinnatifida), Schmalblättrige Nelke (Dianthus tenuifolius), Federnelke (Dianthus spiculifolius), Schönster Thymian (Thymus pulcherrimus) u. a. Die silbrig-weiße glänzende Edelraute (Artemisia petrosa) ziert schmale Felsbänder nicht nur am Jgheabu Văros, sondern auch an den Hängen des Paltinu, am Piscul Bâlii, im Bâlea-Kessel und am Netedu. Zu ihnen gesellen sich den Karpaten- und Balkangebirgen gemeinsame Seltenheiten wie der gelblich-weiß blühende Südliche Tragant (Astragalus australis), Gefiederte Braunwurz (Scrophularia laciniata ssp lasiocaulis), Hellblauer Storchschnabel (Geranium coeruleatum), Kopfiger Waldmeister (Asperula capitata), Kotschys Flockenblume (Centaurea kotschyana), Kerners Distel (Carduus kerneri) u. a. m.
Entlang der Kalkklippen erreicht man die Höhe des grasigen Laiţa-Sattels (2034 m), der eine Übersicht über Laiţa- und Doamnei-Tal gewährt. Ein Blick nach Südwesten, zum Ursprung des Laiţa-Tals, wo der Piscul Lăiţel und die Laiţa-Spitze mit ihrem „endlosen Steinmeer“ (wie Fr. Fronius schrieb), sich vor den überragenden Negoi (2535 m) stellen, lässt die wilde Gegend erkennen und kann den Gedanken an die Schwierigkeiten der ersten (touristischen) Eroberung dieser Berge (um 1850) kaum verdrängen.
Von den Spitzen bis hin, wo die Ausläufer der Grate in die Wälder am Fuße der Berge tauchen, sind sie zu überblicken. Wie aufgerollte Karten liegen die von der Eiszeit geprägten Täler und Berge vor uns, ein Stück Geschichte unserer Karpatenlandschaft, ein sehenswertes Plätzchen für den Wanderer.

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 80, S. 262 – 271)

Seite Bildunterschrift
 
264 Blick vom Netedu über den vom Paltinu auslaufenden Nordgrat – Piscul Bâlii bis zur Laiţa und dem Negoi.
265-o Jgheabu Văros, der kleine botanische Garten im Hochgebirge.
265-u Der kleine „Tăul cu rogoz“ gehört mit zu den Sehenswürdigkeiten der Valea Doamnei und ist auch naturwissenschaftlich bemerkenswert.
266
  1. Siebenbürgische Esparsette (Onobrychis transsilvanica);
  2. Karpatenspitzkiel (Oxytropis carpathica);
  3. Südlicher Tragant (Astragalus australis);
  4. Edelraute (Artemisia petrosa);
  5. Hellblauer Storchschnabel (Geranium coeruleatum);
  6. Gefiederte Flockenblume (Centaurea pinnatifida);
  7. Kopfiger Waldmeister (Asperula capitata)
268 An der Schwelle zur „Tiefe“ – das Doamnei-Tal nach Norden gesehen Wasserrinnen und Ufer des Baches, sowie kleine Mooraugen bergen lebendige Zeugen der Eiszeit.
269-o Das Siebenbürgische Heidekraut (Brukenthalia spiculifolia) ist in den Bergregionen über der Waldgrenze häufig anzutreffen. Mitunter steigt es auch in tiefere Lagen bis zu den Vorbergen oder sogar in die Senken am Fuße der Gebirge hinab.
269-u Alpenminze, Schönster Thymian und Ungleichblättriges Labkraut gehören auch in den bunten Teppich um den Piscul Laiţii.
270 Federnelke (r)
Schmalblättrige Nelke (l)
271 Geborgen im Talkessel liegt der Iezerul Doamnei und der viel kleinere von Ried umsäumte „Tăul cu rogoz“ (Blick vom Piscul Laiţii zum Paltinu).
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