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Der „Kleine Turm“ – Ţancul Mic

Übungsfels im Coştila-Gebiet (Bucegi)

von Willi Krempels

Jede Stadt mit Bergsteigertradition hat ihren Klettergarten: Die Münchner haben das Isartal, die Wiener die Rax, die Pariser Fontainebleau, die Innsbrucker den Hottinger Steinbruch, die Bukarester die Kletterfelsen um die Coştila-Hütte – wenn wir von der Kirchenruine von Chiajna absehen. Refugiul Coştila – die Coştila-Hütte – ist das Wochenendziel der Bukarester Kletterspezialisten.
Fährt man Samstag mit dem 16-Uhr-Schnellzug ab, kann man abends, bevor man in den Schlafsack kriecht, noch rasch eine „Intrerupta“ machen. Der „Spitze Turm“ – Ţancul Ascuţit –steht sozusagen im Hof des Refugiu. Rucksack abstellen, Schlafplatz markieren, Seil anlegen, ein paar Schritte im Gras abwärts gleiten und schon ist man am Einstieg der „Intrerupta“ (im Kletterführer heißt sie „Ţancul-Ascuţit-Südostkante“).
Die erste Seillänge schaffen gut trainierte Kletterakrobaten in 3 – 4 Minuten, man kann aber auch Leute sehen, die sich dreiviertel Stunden dort abplagen. Eine steile, gewölbte Reibungsplatte führt zum ersten Haken, ein weiterer Haken hilft über einen Schritt links. Dort setzt ein linksgeneigter Riss an, wo schon so mancher ins Seil gestürzt ist. Wo der Riss zu Ende ist, heißt es rechts in die Wand hinausspreizen, und da steht schon der rettende Baum. Stand! Die meisten begnügen sich mit diesen 20 m und seilen vom Baum wieder ab. Wer Zeit und Lust hat, geht die zweite Seillänge an. Haken markieren den Verlauf: quer links und die glatte Wand empor. Zuletzt ein tiefer Riss und Ausstieg nach rechts zum Stand auf einer Schulter. Beide Seillängen sollte man „sauber“ klettern, ohne Haken als Griffe zu benutzen oder gar Trittleitern einhängen. Vom zweiten Stand kann man entweder über die Wand zurück abeilen oder hinten herum im überaus steilen Wald absteigen – oder auch zum Gipfel des Ţancul Ascuţit ohne Haken weiterklettern. Hat man den Gipfel überschritten, steigt man seilfrei jenseitig zum Refugiu ab.
Am Sonntagmorgen wendet man sich dem „Kleinen Turm“ - Ţancul Mic – zu. Der steht dem Refugiu gegenüber. Zwei 40-m-Seile, 20 Karas oder mehr, einige Haken „für alle Fälle“. Man quert den Firn der Coştila-Rinne und folgt einem steilen, schwierigen Pfad im Schatten alter Fichten. Im Mai blüht hier das himmelblaue Siebenbürgische Leberblümchen, im Oktober fallen die gelben Blätter des Bergahorns und der goldene Regen der Lärchennadeln. Dazwischen liegen sechs Klettermonate.
Der Pfad führt zwischen Latschen und Wacholder zu den Südwandeinstiegen. Die ersten zwei sind schon nach wenigen Minuten erreicht: der „Gewundene“ und der „Sonnige Riss“ (Fisura Răsucită und Fisura Însorită). Die Stelle ist von einer wacholderbewachsenen Wandeinbuchtung gekennzeichnet. Von den beiden Rissen ist der „Gewundene“ leichter und genussvoller (IV und A0), während der „Sonnige“ (V und A1) bereits eine tüchtige Portion Kraft beansprucht, und das besonders und ausgerechnet in der ersten Seillänge, also vor dem „Warmklettern“.
1) Der „Gewundene“ beginnt mit einem Quergang rechts. Eine Hangelplatte mit zwei Haken und einem tiefen Loch für die linke Hand führen in „normales Klettergelände“. Drei Haken, ein Überhang, wieder zwei Haken, und schon erreicht man den ersten Stand, 20 m über dem Einstieg. Hier sitzt man bereits in der Sonne und überblickt den Wald, die sonnigen Grashänge des Policandru (Padina Vulturilor) und die „Big Wall“ darüber (Peretele Vulturilor), fern im Süden der Picătura-Grat des Caraiman. Mit sich selbst und der Welt zufrieden geht man die zweite Seillänge an. Empor zu einem Überhang, Spreizschritt links in die Wand hinaus und an Haken gesichert empor. Überhang. Hier hat jeder sein eigenes Rezept: Steigleitern oder an Haken hinaufziehen oder „sauber“ an natürlichen Griffen emporhangeln. Frei zum Stand an einer alten Fichte. Nach dieser Kraftprobe folgt die Schlüsselseillänge.
Wir befinden uns jetzt in der Ostwand, und unsere Kletterkünste werden vom Refugiu mit kritischen Augen verfolgt. Ein feiner senkrechter Riss mit weit auseinander liegenden Sicherungshaken verlangt schon einiges Können. Ganz hoch oben grinst unverschämt ein riesiger Ring: Wie erreicht man den???!... Ganz einfach und ohne Kraftaufwand (wenn man’s kann), möglichst links an guten Griffen und winzigen Tritten empor. Ein von unten unsichtbarer Haken rechts gibt uns die nötige seelische Unterstützung. Vom Ring waagerecht rechts zum Stand auf einem kürbisgroßen Block, der aus der Wand hinausragt. Haken und eine verdörrte Fichte dienen zum Selbstsichern. Die folgenden Seillängen sind entschieden leichter. Vierte SL: Über Risse schräg rechts empor (Haken) zu einem Latschenbalkon. Fünfte SL: Senkrecht in freier Kletterei empor (zwei Haken) auf eine Schulter. Hier stößt der „Sonnige Riss“ zum „Gewundenen“. Sechste SL: Aus der Ostwand zurück in die Südwand! Haken weisen den Weg: Verschneidung, Überhang, Quergang links, ein kleines Latschenfeld und Ausstieg auf eine Schulter. Ringhaken zur Sicherung in der Nordwand. (Hier kann man über die Nordwand zum Refugiu abseilen: 1. Am Ringhaken zu einer Fichte; 2. an der Fichte über ein Dach zu einem Stand; 3. an vorhandenen Ringhaken 40 m hinab; 4. und 5. an Bäumen hinab in den Rinnengrund der Coştila.)
Siebente SL: Den latschen- und fichtenbewachsenen Gipfelgrat empor zum Gipfel des „Kleinen Turmes“; die Steilaufschwünge werden dabei teilweise in der Nordwand umgangen. Vom Gipfel frei abklettern; erster Stand in einer Scharte; hier Ausstieg der „Hermann-Buhl- Gedächtnisführe“; zweiter Stand nach Umgehung der letzten Steilstufe durch die Nordwand in einer zweiten Scharte; hier Ausstieg der „Roten Fahne“ und des „Eichhörnchens“; über einen kleinen Zacken in die dritte Scharte; hier an einer Fichte 15 m in die Südwand abseilen. Ende der Schwierigkeiten.
2) Der „Sonnige Riss“ beginnt an der gleichen Stelle wie der „Gewundene“, doch führen die Haken direkt zu einem Überhang. Stark überhängend geht es schräg links empor (Steigleitern oder kräftig an Haken empor hangeln). Eine Rampe schräg rechts, unbequemer Stand. Zweite SL: ein senkrechter Kaminriss führt in freier Kletterei zu einem Stand. (Hierher kann man auch aus dem „Gewundenen Riss“ durch Quergang links vom zweiten Stand gelangen.) Dritte SL: Quergang links über eine glatte, senkrechte Platte (Steigleitern, zementierter Haken), wobei es gilt, einen Haken links in einem Riss zu erreichen. Darauf empor zum Stand. (Hier gibt es eine Möglichkeit, durch Querung links den ersten Stand der „Hermann-Buhl-Gedächtnisführe“ zu erreichen.) Vierte SL: Immer schräg links unter Überhängen empor zum Stand. Fünfte SL: In leichter Kletterei einen Kamin empor zum fünften Standplatz des „Gewundenen Risses“ auf einer Schulter. Von hier ab, siehe „Gewundenen Riss“.
3) „Hermann-Buhl-Gedächtnisführe“. 40 m höher als der „Gewundene“ und der „Sonnige Riss“ befindet sich der Einstieg der „Hermann-Buhl-Gedächtnisführe“. Eigentlich sind es zwei Einstiege, da es seit 1976 eine Variante gibt. Die Führe verläuft über den schräg links geneigten, markanten Riss, der die Wandmitte durchzieht. Die erste SL der Originalführe beginnt mit einem leicht linksgeneigten, überhängenden Verschneidungsriss, der ohne Steigleitern in athletischer Kletterei überwunden wird. Quergang rechts und eine Hakenleiter mittels Steigleitern empor zu einem Band (hierher führt ein Quergang aus dem „Sonnigen Riss“, dritter Stand). Ein kurzer, senkrechter Kamin endet am ersten Stand auf einer Kanzel. Die Variante des Einstiegs befindet sich rechts des Originaleinstiegs und führt direkt empor unter Vermeidung des ersten Risses und des Quergangs. Die zweite SL stellt die Verbindung zum Hauptriss her: Quergang links – Riss empor – Quergang links – Riss – Grasstufen – Felsrampe schräg links empor – Stand im schrägen Hauptriss. Nun – dritte SL – den Hauptriss schräg links empor – es ist eher eine überdachte Rampe. Stand in einer Höhle. Vierte SL: Aus der Höhle schräg links in die Wand hinausqueren, einige Rippen und schräge, überhängende Risse, ein Holzkeil an der Schlüsselstelle, leiten zum vierten, bequemen Stand auf einem Felsbalkon. Fünfte SL: In schöner Kletterei wird mit weiten Spreizschritten eine kurze Verschneidung überwunden und ein senkrechter Felswulst links umgangen. Der Fels legt sich nun zurück, und in freier Kletterei geht es empor zu einer Baumgruppe. Eine letzte Felsstufe (trockener Baum) leitet links hinüber zum Ausstieg in die Scharte des Gipfelgrates. Abstieg in freier Kletterei und zuletzt Abseilen wie unter (1) beschrieben.
4) „Susanne“ (VI A0). Die von slowakischen Alpinisten eröffnete Führe stellt eine Direttissima dar, die schnurgerade in der Gipfelfalllinie ansteigt und dabei in der Mitte die „Hermann-Buhl- Gedächtnisführe“ überschneidet. Der Einstieg befindet sich 50 m über dem Hermann-Buhl- Einstieg. Die erste SL beginnt mit einem senkrechten Riss, der in freier Kletterei überwunden wird. Die nächsten SL führen in durchwegs künstlicher Kletterei (Bohrhaken) die plattige, ungegliederte Wand empor. Der Hakenabstand ist groß und zwingt immer wieder zu ausgesetzter Freikletterei an kleinen Griffen. (Einige Bohrhaken sind ausgebrochen und müssen ersetzt werden.) Der Anstieg endet am Gipfel des Kleinen Turmes. Abstieg wie unter (1) beschrieben.
5) „Rote Fahne“ (Flamura Roşie, IV). Im westlichen – linken – Teil ist die Südwand stark gegliedert. Eine tiefe Einbuchtung ist von einer steilen Grasrampe gekennzeichnet, die von links nach rechts ansteigt. Eine Folge von Kaminen, Überhängen, Verschneidungen und Felsblöcken bildet eine wuchtige Zickzacklinie, über welche der Anstieg erfolgt. Erste SL: Über eine Steilstufe wird die Grasrampe erreicht. Über diese erfolgt der Anstieg schräg rechts empor, darauf wenden wir uns links einem weiten, grasigen Kamin zu (Haken). Der Kamin endet unter einem Überhang (Standhaken). Zweite SL: Der Überhang wird mittels Haken und Steigleiter direkt überwunden. Es folgt eine steile Felsrampe, die entweder rechts in feiner Reibungskletterei oder auch links mittels Piaz-Technik (Hangeln an überhängender Felsrippe) überwunden wird. Nun einige Schritte auf schmalem Gesims quer rechts und einen Kamin schräg links empor. Standhaken am Ende des Kamins. Dritte SL: Eine Steilstufe und ein Gesims führt rechts in eine Nische. Es folgt der Ausstieg links, wobei ein schwieriger, bauchiger Felsblock überwunden werden muss. Die Kletterei endet in der unter (1) erwähnten zweiten Scharte. Nach Überklettern einer kleinen Felskuppe stehen wir in der dritten Scharte. 15 m abseilen an einem Baum auf die Südseite zum Wandfuß.
6) „Eichhörnchen“ (Veveriţa, III A1). Links der „Roten Fahne“ befindet sich der letzte Anstieg der Kleinen-Turm-Südwand. Die vorwiegend künstliche Kletterei endet auf einer der „Roten Fahne“ vorgelagerten, latschenbewachsenen Kanzel. Erste SL: Eine schwierige, grasbewachsene Steilstufe führt auf den Gipfel eines Felsblocks. Zweite SL: Baustelle: Auf den Schultern des Zweiten stehend, erreicht der Erste einen Haken und hängt eine Steigleiter ein, die er benutzt und für den Zweiten hängen lässt. Eine Hakenreihe, stellenweise durch größere Abstände unterbrochen, führt zum Ausstieg. Abseilen zum Wandfuß wie unter (1) bis (5) erwähnt.

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 79, S. 42 – 48)

Seite Bildunterschrift
 
43 Anstiegsskizze: Ţancul Mic, Ţancul Ascuţit
44 Anstiegsskizze: Fisura Intreruptă
46 Anstiegsskizze: Fisura Răsucită, Fisura Însorită
47-l Anstiegsskizze: Hermann Buhl Gedächtnisführe
47-r Anstiegsskizze: Veveriţa, Flamura Roşie
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