Zu Besuch in Rumänien
von Günter Fischer, Leipzig
Unser Zelt stand in Borşa am Aufstieg zum „Gipfel der Gipfel“ des Rodna-Gebirges. Grau
war der Himmel. Die starke Luftfeuchtigkeit am Abend ließ unsere Sachen im Zelt klamm
werden. Mein Begleiter Thomas und ich hofften sehr, dass die Abendsonne ein einziges Mal
durch den Wolkenvorhang brechen und sich der Pietrosul zeigen möge. Aber unsere
Wünsche erfüllten sich nicht. So krochen wir mit bangen Gedanken an das Wetter der
kommenden Tage in die Schlafsäcke. Sollte etwa unsere Kammtour zum Prislop-Pass dem
Regen zum Opfer fallen?
Über Nacht hatte sich das Wetter nicht geändert. Während des Morgenimbisses gingen
immer wieder die Blicke in jene Richtung, in welcher der Pietrosul vermutet wurde. Bald
waren die Rucksäcke geschnürt und der Aufstieg entlang des blau markierten Weges
begann. Thomas, der in einem kleinen Ort an der Ostseeküste lebt, startete damit seine
erste Gebirgswanderung. Trotzdem legte er ein beachtliches Tempo vor, und so waren die
letzten Häuser von Borşa schnell hinter uns zurückgeblieben. Jetzt führte der Pfad
geradewegs auf eine weiße Wand zu. Lichtete sich der Nebel für wenige Augenblicke, war
die untere Waldgrenze schemenhaft auszumachen. Wenige Meter davor fegte ein Windstoß
urplötzlich die Nebelmassen auseinander. Vor uns lag in seiner Schönheit und Mächtigkeit
das Rodna-Gebirge!
Natürlich spornten uns die Sekunden klarer Sicht an. Wir stiegen weiter, in Gedanken an die
Gipfel versunken. Nachdem wir den Baumgürtel durchquert hatten, wurde der Weg immer
beschwerlicher. In manchen Windungen liefen mehrere Spuren zusammen, und einer von
uns musste erst das blaue Markierungsband suchen in dieser „dicken Luft“. Deshalb waren
wir sehr überrascht, als sich vor uns ein weiter Kessel mit einer meteorologischen Station
auftat. Wir hatten vermutlich die dichtesten Nebel- und Wolkenbänke durchstiegen, denn die
Sicht besserte sich. Der Himmel jedoch blieb steingrau, kein Sonnenstrahl vermochte die
Felswände zu erreichen. Die Landschaft schien wie in tristes Grau getaucht.
Nach einer kräftigen Mahlzeit am Rande eines kleinen Baches ging der Aufstieg weiter. Noch
eine Wegstunde bis zum Gipfel, verriet uns ein Wegweiser. Nun zog sich der Weg in immer
engeren Serpentinen empor. Zwischen den Steinen wuchsen viele Büschel blühender
Alpenrosen, wir entdeckten prächtige Exemplare des Punktierten Enzians. Endlich hatten wir
die Stelle erreicht, an der sich der Weg zum Pietrosul und zur Rebra-Spitze hin gabelt. Der
Wind pfiff tüchtig. Wir stellten die Rucksäcke in eine windgeschützte Mulde, die uns auch als
Biwakplatz geeignet erschien, und stiegen die letzten 400 m zum Gipfel ohne Gepäck.
Leider blieb uns der erhoffte Rundblick auf die Höhenzüge des Gebirges verwehrt. Die
unbeweglich scheinende Masse aus Nebel und Wolken hing einfach zu tief.
Das Bergzelt war schnell errichtet, und so streiften wir etwas im Sattel zwischen Pietrosul
und Rebra umher. Auffallend die reiche Pflanzenwelt. Das zierliche Alpenglöckchen, die
Gemswurz und die behaarte Glockenblume gehörten zu dieser mannigfaltigen Auswahl. Die
Freizeit am späten Nachmittag nutzte jeder auf seine Weise. Thomas saß auf ein paar
Steinen und nähte eine geplatzte Naht am Rucksack zusammen, und ich lag im Zelt und
schrieb Tagebuch. Plötzlich hörte ich Thomas mit aufgeregter Stimme rufen. Ich kletterte
schnell aus dem Zelt – und was bot sich für ein Anblick! Über uns blauer Himmel mit einer
strahlenden Abendsonne, unter uns ein weißes Meer von Wolken. Ein leichter Wind trieb
ständig kleinere Wolkenfetzen aus südlicher Richtung heran. So veränderte sich die herrliche
Szenerie von Augenblick zu Augenblick. Die Rebra-Spitze lag rechterhand zum Greifen
nahe. Der Kammweg zwischen Buhaescul Mare und Repedea wurde sichtbar, der große
Negreasa thronte über brodelnden Wolken. Unser Blick reichte bis zum Puzdra-Gipfel,
unserem nächsten Tagesziel. Thomas war von dem grandiosen Naturschauspiel fasziniert,
und auch ich hatte so etwas in dieser Vollkommenheit in den Bergen noch nicht erlebt. Alle
Mühen des Aufstiegs waren vergessen. Wir standen und schauten dem Tanz der Wolken zu,
bis die Sonne hinter dem Pietrosul verschwand.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 78, S. 161 – 163)
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162 | Abendstimmung im Rodna-Gebirge. |