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Zu Besuch in Rumänien

Unser Ziel: der Retezat

von Astrid Kühn, Rosenheim

Mein Mann konnte bei unseren ersten Ausflügen in den Alpen nicht verstehen, dass ich bei jedem Wässerchen halt machte und ohne Bedenken zu trinken bereit war, so wie ich es in Rumänien im Retezat, am Königstein, in den Fogarascher Bergen gewohnt war, dass ich alles und jedes in den Bergen mit dem Retezat verglich, dass ich manchmal in ein Freudengeheul ausbrach und „wie im Retezat!“ ausstieß.
Inzwischen lernte ich wandern, ohne alle Wässerchen, denen man unterwegs begegnet, zu kosten, denn erstens soll man’s nicht und zweitens ist hier das Wasser nicht mehr so einwandfrei. Der Retezat als Maßstab aller Berge blieb jedoch für mich bis zum heutigen Tag bestehen.
Um nun diesen meinen Maßstab, diesen Berg mit so magischer Anziehungskraft, dem ich die Treue über Grenzen hinaus halte, auch meinem Mann vorzustellen, unternahmen wir im Sommer 1977 eine Reise in meine alte Heimat. Es war eine Reise in die Vergangenheit für mich: Alte Bekannte wurden besucht, Orte und Ortschaften besichtigt, die mir in lieber Erinnerung sind. Für meinen Mann dagegen war es eine Reise voller Überraschungen: Die Schönheit und Vielfältigkeit der Natur überraschte ihn ebenso wie die vielen Neubauten in Stadt und Land, die Gastfreundschaft der Leute, ihr Entgegenkommen und ihre Herzlichkeit. Endlich waren wir am Ziel meiner Wünsche. Wir konnten unsere Rucksäcke schultern und... „Servus, alter Freund, da bin ich wieder!“ Ja, es ist ein sonderbar beglückendes Gefühl, nach Jahren der Sehnsucht endlich wieder Retezat-Pfade unter den Bergschuhen zu haben!
In der Genţiana-Hütte schlugen wir unser „Basislager“ auf. Von da wanderten wir am ersten Tag selbstverständlich das Pietrile-Tal hinauf in den Bucura-Sattel. Die Aussicht von hier auf den Bucura-Kessel mit all seinen Seen und auf die umliegenden und fernen Bergzüge ist überwältigend und unbedingt als erstes einem Retezat-Neuling, wie mein Mann es war, zu zeigen. Dennoch war damit noch längst nicht mein ganzes Pulver verschossen. Denn jedes Tal hat seine Reize, jede Spitze bietet andere Ausblicke, jeder Gletscherkessel hat ein anderes Gesicht, jedes Wasser – und damit ist dieses Massiv bekanntlich gesegnet – hat seine eigene Persönlichkeit.
Was das Wetter anbelangt, hatten wir Glück: drei schöne Wanderungen, die uns u. a. zur Peleaga, in die Valea Rea, den Stânişoara-Kamm entlang und zum Galeş-See führten, an drei aufeinanderfolgenden Tagen, ohne dass uns der Regen irgendwie dazwischengefunkt hätte. Bei einer dieser Wanderungen stießen wir auf einen Hirtenpfad (mit Steinmännchen markiert), der nahe dem Galeş-Bach die Touristenmarkierung links liegen lässt und in steilem Aufstieg direkt beim Tăul dintre Brazi herauskommt. Für mich ist es immer eine besondere Freude, mir noch unbekannte Pfade ausfindig zu machen, sozusagen auf Entdeckungen zu gehen nach dem Motto: Mal sehen, wo dieser Pfad wohl hinführt.
Nach drei solchermaßen vollauf genossenen Tagen fühlten wir das Bedürfnis, einen Ruhetag einzuschalten. Wir wollten in der Nähe der Hütte in der Sonne faulenzen. Aber... erstens kommt es anders, zweitens als man denkt. Denn an dem Tag regnete es fast pausenlos. Wir saßen in der Hütte und freuten uns: Wie gut, dass wir gerade heute Ruhetag haben!
Das Nichtstun war uns gut bekommen. Als wir am nächsten Tag loszogen, kamen wir überraschend schnell vorwärts. „Beflügelten Schritts“ eilten wir neuen Gipfeln entgegen. Bucura und Retezat sollten die Krönung unserer Retezat-Wanderungen darstellen, und so war es auch. Es war in jeder Hinsicht der schönste Tag unseres Rumänien-Urlaubs. Was mich besonders begeisterte: die phantastisch klare Sicht bis weit hinaus ins Land. Ich hatte wohl schon manch klare Tage im Retezat erlebt, aber eine so gestochen scharfe Fernsicht doch noch nie.
Am Abschieds- und Abstiegstag weinte der Himmel, weinten die Gipfel und uns war es auch so ähnlich zumute. Es war immerhin ein Abschied auf lange Sicht von unserem lieben Berg. Ja, „unserem“, denn meinem Mann ist dieses Massiv nun auch ans Herz gewachsen, er hat das kristallklare Wasser des Retezat getrunken und über seine zu mächtigen Gipfeln aufgetürmten Felstrümmer gestaunt... Und als wir uns auf der Rückreise an der Adria auf ähnlichen Felstrümmern sonnten – was meinen Sie, wer sagte da schelmisch lächelnd „wie im Retezat?!“

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 78, S. 159 – 161)

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160 So gut wie in den Bergen schmeckt das Wasser nirgends.
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