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Schuh der Venus, Frauenschuh

von Eckbert A. Schneider

Irgendwo in dem malerischen Winkel am Eingang zum Rotenturmpass, wo am Fuße des Wartberges und der Landskrone bei Talmesch der Zoodt und der Zibin sich mit den trüben Fluten des Alt vereinigen, stand an einem sonnigen Maienmorgen des Jahres 1976 ganz unerwartet und wie aus dem Boden gezaubert die schönste der heimischen Orchideen vor uns im Gekräut: der Frauenschuh.

Schon seit Jahrzehnten durchstreifen wir das abwechslungsreiche, dem Fogarascher und Zibinsgebirge vorgelagerte Hügelgebiet im Süden Siebenbürgens zu allen Jahreszeiten, doch noch nie hatten wir hier das Glück, dieses schöne und überall sehr seltene Kleinod der Pflanzenwelt anzutreffen. Da die Pflanze seit vielen Jahrzehnten aus der Gegend nicht mehr gemeldet worden ist, rechneten wir auch nicht im Geringsten damit, ihr hier eines Tages zu begegnen. Umso größer war darum jetzt unsere Überraschung und Freude über ihre Entdeckung, und vor allem über die Tatsache, dass diese unter Naturschutz stehende Pflanze im Gebiet zumindest an einer, freilich sehr verborgenen und wenig begangenen Stelle doch noch existiert. Zwischen lichtem Rotbuchen-, Hasel- und Weißbuchengebüsch am Rande eines steilen Abhangs, den wir nicht ohne Mühe gerade erklommen hatten, stand sie nun plötzlich im Lichtgeflimmer des Waldschattens vor uns.
Wir genießen freudig überrascht den seltenen Anblick. An einem kaum kniehohen, mit vier großen, langovalen, rinnigen Blättern versehenen Stängel hängen zwei voll entfaltete Blüten. Ein Sonnenfleck, der gerade durch das frische Grün der umstehenden Sträucher auf eine der Blüten fällt, lässt die vier purpurbraunen Perigonblätter, die die äußere Blütenhülle bilden, hellrot aufleuchten. Den Mittelteil der Blüte bildet die grünlich goldgelbe, blasig aufgetriebene Lippe oder das Labellum. Da diese schuh- oder pantoffelähnlich gestaltet ist, benannte der Volksmund die Pflanze Frauenschuh, ihr wissenschaftlicher Name ist Cypripedium calceolus, Venusschuh, rumänisch Papucul doamnei, auch Blabornic.
Da stand er nun vor uns, der Wunschtraum mancher Botaniker und vieler Natur- und Blumenfreunde, in Gestalt einer voll erblühten einzelnen Pflanze, ein einmaliger Anblick. Wo einer ist, können mehrere sein, überlegten wir dann, und begannen in der Umgebung gespannt nach weiteren Exemplaren Ausschau zu halten. An den Gebüschrändern entdecken wir die zart nach Zitrone duftende Immenblume (Melittis melissophyllum) mit den rosa gefärbten Lippenblüten. In lockeren Beständen stehen die dunkelvioletten, kontrastreich weiß gezeichneten Ruthenischen Schwertlilien (Iris ruthenica) im Gras. Wir müssen nicht lange suchen, dann fällt unser Augenmerk auf eine Gruppe von drei, nein fünf, dann zwölf Frauenschuhen, immer mehr können wir zählen, bis es einige Dutzend sind. Schließlich entdecken wir an einer Böschung unter einem dichten Haselstrauch – wir trauen unseren Augen kaum! – eine Gruppe von Pflanzen, die auf engstem Raum zu einem dichten Strauß vereinigt, nicht weniger als 59 Blüten aufweist! Man staunt immer wieder, man beobachtet, man fotografiert schwarzweiß und color, sorglich darauf bedacht, keine Pflanze zu knicken und vor allem keine auffälligen Spuren zu hinterlassen. Denn leider kann man nicht damit rechnen, dass jeder, der diese botanische Kostbarkeit zu Gesicht bekommt, sie auch gehörig zu schätzen und zu respektieren weiß!
Botanisch gehört der Frauenschuh zur Pflanzenfamilie der Knabenkräuter oder Orchideen – den Edelsteinen unter den Blumen. Diese sind vor allem in den großen Waldgebieten der warmen Klimazonen in einer unwahrscheinlichen Formenfülle und Farbenpracht verbreitet. Mit etwa 20.000 Arten gehören sie zu den artenreichsten Pflanzenfamilien überhaupt und haben auch in den gemäßigten Breiten zahlreiche durch Blütengestalt und –farbe oder Duft auffallende Vertreter. In der Flora Rumäniens sind 25 Gattungen mit 53 Arten bekannt. Unter diesen ist der Frauenschuh unstreitig der schönste und auffälligste. Er ist in lichten „Laubwäldern“ der gemäßigten Klimagebiete Europas und Nordasiens weit, aber sehr zerstreut verbreitet. Bei uns wird er im Hügel- und Bergland besonders in der Buchenstufe auf kalkhaltigem Boden angetroffen.
Als auffällige Pflanzenschönheit und Seltenheit ist er in vielen Teilen seines Verbreitungsareals gefährdet und steht deshalb in den meisten europäischen Ländern, in denen er vorkommt, unter Naturschutz. Auch in Rumänien wurde er als Naturdenkmal unter den Schutz des Gesetzes gestellt und darf weder gepflückt noch gesammelt werden.
Für die Seltenheit vieler Orchideenarten dürfte der Umstand mitverantwortlich sein, dass sie fünf bis neun Jahre zu ihrer Entwicklung brauchen, bis sie blühreif sind. Mitte Mai bis Juni öffnet der Frauenschuh seine herrlichen großen, zart duftenden, zweiseitig-symmetrischen Blüten. Sie sind nicht nur farblich reizvoll und schön, sondern bieten auch in biologischer Hinsicht manches Interessante.
Wie die Formen- und Farbenfülle der Blumen in der Landschaft letzten Endes der Ausdruck der millionenfachen Beziehungen sind, durch die alle Organismen einer Lebensgemeinschaft miteinander verbunden sind, so ist auch beim Frauenschuh die Gestaltung und Färbung der Blüten nicht Selbstzweck. Es wird mit ihrer Wirkung auf die Sinne bestimmter Insektenarten gerechnet, die unfreiwillige Dienste bei der Bestäubung dieser sogenannten entomogamen Blüten leisten müssen, wenn die Erhaltung der Art gesichert werden soll. Die Bestäubung wird auf eine listige und äußerst sinnvolle Art mit Hilfe von kleinen Bienen und Fliegen gesichert, die zu diesem Zweck von der Pflanze auf raffinierte Weise eingefangen werden. Die aufgeblasene Blütenlippe, der „Schuh“, dient dabei als regelrechte Kesselfalle. Sie ist so geformt, dass oben eine ovale Öffnung bleibt, in die die angelockten Insekten sofort hineinfallen, wenn sie sich auf deren glattem Rand niederlassen wollen. Die eingefangenen Kerfe können dann das Verlies nur an einer Stelle verlassen, wo ein dichter Haarpelz das Hinaufklettern an den sonst spiegelglatten Wänden ermöglicht. Auf diesem einzigen Weg ins Freie muss das Insekt – meist eine kleine Erdbiene – sich an der Narbe und den beiden Staubgefäßen vorbeizwängen. Dabei streift es den weichen, schmierigen Pollen des Staubbeutels ab. Begierig nach den saftreichen Futterhaaren auf dem Boden der Lippe, wird das Bienchen bald eine neue Blüte suchen und den mitgebrachten Pollen an der rauen Narbe des Griffels abgeben und sich von neuem mit Pollen beladen.
Nach erfolgter Bestäubung reift der Fruchtknoten zu einer länglichen, aufspringenden Kapsel mit zahlreichen winzigen Samen, die vom Wind ausgestreut werden. Der 30 – 40 cm hohe Blütenstängel treibt alljährlich neu aus den ausdauernden, aus kurzen Jahresgliedern zusammengesetzten Wurzelstock. Man kann die Pflanze darum an ihren Standorten jedes Jahr aufs Neue antreffen.
Wenn du mich jetzt nach einem dieser Standorte fragst, interessierter Leser, so verzeihe mir, wenn ich ihn nicht gleich und ohne weiteres verraten kann. Nicht aus Selbstsucht und Geheimniskrämerei, sondern gerade aus der allgemeinen Erfahrung heraus, dass botanische und zoologische Kostbarkeiten, deren Existenz durch den Menschen bedroht ist, am besten geschützt und bewahrt werden, wenn man keine laute Reklame für sie macht! Wenn du aber durchaus darauf bestehst, die Pflanze einmal zu Gesicht oder vor das Fotoobjektiv zu bekommen, so zeige, dass du für sie Einsatz und Opfer zu bringen bereit bist. Schnüre den Ranzen und wandere, ohne viel auf Weg und Steg zu achten – bei uns ist es glücklicherweise noch möglich! – durch die maigrünen Laubwälder des Beg- und Hügellandes, wo die Wahrscheinlichkeit, auf die Wunderblume zu stoßen, am größten ist (siehe Flora Rumäniens, Band XII). Je mehr du wanderst, desto mehr siehst du, desto größer ist die Aussicht, dass sie an einem sonnigen Maien- oder Junitag vor dir steht und du deine Augen an ihr weiden kannst!
Zuletzt nur eine Bitte noch an dich, naturfreundlicher Leser: Wenn du ihr begegnen solltest, freue dich an ihr, bewundere sie, doch bewahre sie davor, das Opfer deiner Blumenfreundlichkeit zu werden! Und vergiss dabei auch nicht, dass unser Frauenschuh nur eine von den ungezählten Wunderwesen ist, an denen du bei jeder Wanderung auf Schritt und Tritt vorbeigehst!

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 78, S. 210 – 215)

Seite Bildunterschrift
 
212-l 1. Edelstein unter den Blumen – der Frauenschuh;
212-r 2. Klein, aber oft ebenso farbenfroh und zierlich wie exotische Arten, sind die Blüten unserer heimischen Knabenkräuter zu einer Ähre vereinigt: Helm- Knabenkraut (Orchis militaris);
213-l 3. Auf felsigem Gesteinsgrus von Südosteuropa bis China verbreitet: Ruthenische Schwertlilie (Iris ruthenica);
213-r 4. In sonnigem Gebüsch an warmen Waldrändern Honigquelle der Bienen: Immenblume (Melittis melissophyllum);
214 Gehäufte Kostbarkeiten (Frauenschuh)
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