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Ödwegfelsen

Ein neues Klettergebiet wird entdeckt

von Walter Kargel

Von den Skigipfeln der Predealer Berge hat man einen freien, weiten Blick auf die höheren Berge in der Runde: Königstein/Piatra Craiului, Bucegi, Gârbova, Krähenstein/Ciucaş, Hohenstein/Piatra Mare und Schuler/Postăvarul.
Von der 1804 m hohen Schulerspitze zieht gegen Westsüdwest ein langer, zackiger Kamm, dessen letzter Teil im krassen Gegensatz zu den vorherrschenden bewaldeten Hängen, felsig ist. Diese Felsen sollten wir 1973 für unseren geliebten Klettersport entdecken. De Schulersüdwand, aus weißem Kalk aufgebaut, heißt auf der alten SKV-Karte „Ödwegfelsen“.

November 1973

Die Felswelt der Bucegi steckt tief im Winter, vorbei die Kletterzeit. Auch die Predealer Berge sind bereits schneebedeckt als wir bei Trei Brazi aus dem Bus steigen, Radu und ich, auf der Suche nach dem Sommer. Steil geht es den winterlichen Wald hinab ins verzauberte Tal zu Füßen der Ödwegfelsen – den „Langen Graben“ Groapa Lungă.
Jenseits des sprudelnden Baches sind die Hänge frei. Steil streben die Wiesen empor zur Sonnenwand, noch ein schmaler Waldstreifen und wir erreichen den warmen Fels, wie das Dornröschenschloss von südlich wuchernden, duftenden, stacheligen Gestrüpp getarnt. Wir sind zum ersten Mal hier. Wo wird hier geklettert? Bald entdecken wir hoch oben in der Wand einen verrosteten Haken.
Der Fels ist gelb und brüchig und die Haken rar, immer wieder haben wir Orientierungsschwierigkeiten.
Doch zuletzt führt eine klare Rissverschneidung schnurgerade empor. Wir freuen uns... zu früh! Denn bald ist der letzte Haken erreicht – weiter geht’s nicht mehr. Der Fels ist kompakt – hier kommt man nur mit Bohrhaken weiter. Also zurück!
Die gastfreudigen Holzhacker nehmen uns in ihrer gemütlichen, warmen Hütte auf. Der Morgen ist bitter kalt. Die Hände in den Hosentaschen, steigen wir zur Wand empor. Nach einigem Suchen entdecken wir eine weitere Führe. Bis heute kennen wir nicht ihren Originalnamen. Wir nennen sie Reh-Kante, weil gerade ein Reh vorüber huscht. In freier Kletterei geht es wie auf einer steilen Leiter empor, hie und da ein Haken als Beweis, dass andere schon vor uns da waren. Die Kletterei ist erregend, wir beschließen das Gebiet gründlich kennen zu lernen.

1976

Erst drei Jahre später ist es so weit. Zur Sonnenwendzeit steigen wir zu dritt hinab in den Langen Graben – Radu, Amalia und ich.
Die Wiesen sind von Blumen übersät und laden zum Verweilen ein. Doch Amalia bleibt allein zurück. Wir steigen zu unseren Felsen empor. Es gilt, den großen Überhang in der gelben Wand zu überklettern. Den hatten Radu und Tapiru schon vor zwei Jahren angegangen, doch wurden sie gezwungen, nach drei Seillängen links auszuweichen und über die leichtere Ostkante den Ödwegfelsgrat zu erreichen.
„Das ist Tapiru’s berühmte Melone“ sagt Radu indem er einen kürbisgroßen, aus der Wand ragenden Block mit gemischten Gefühlen belastet. Unerwarteterweise hält die „Melone“. „Der Tapiru geizt mit den Haken, er leidet, wenn er einen anbringen muss, aber seine Haken sitzen bombenfest“ setzt Radu seinen Monolog fort.
Ganz spannend wird es, als Radu an einer schwindsüchtigen Bergweide 200 m über dem Wandfuß empor turnt und so das vorgeschobene Bollwerk des großen Überhangs überlistet. Kurz unter dem Überhang jedoch bricht ein haken aus und Radu bleibt im Seil hängen. Es dunkelt bereits – für heute langt’s, wir müssen uns beeilen, wenn wir nicht in der Wand biwakieren wollen. Bei Sternenlicht seilen wir ab. Von der Köhlerhütte im Tal blinkt Amalia mit der Laterne, doch wird es 11 bis wir bei ihr sind. Bukarest erreichen wir um 4 Uhr morgens.
Doch am nächsten Sonntag gelingt der Durchstieg. Radu nennt ihn „Geburtstagsführe“, weil heute gerade mein Geburtstag ist. Eine Woche später verpasst Radu den Zug. Erst mittags um 12 stehen wir am Wandfuß. So begnügen wir uns heute mit einem kurzen und leichten Kletterweg: „R“ an der „Aiguille de l’M“ einem Felszacken mitten im Wald. Die weiße Kletterfelskante ragt nur wenig aus dem dichten Busch und das eben macht ihren Charme aus, damit unterscheidet sie sich von allen anderen Felswegen. Einen Haken hat die Sache allerdings: man darf nicht allergisch auf Pollen reagieren!
Im Hochsommer ist es – von Regetagen abgesehen – in den Ödwegfelsen viel zu heiß. Doch im Herbst, da kommen wir wieder. Inzwischen taufte Radu die einzelnen Abschnitte der Felsen: Wand der Überhänge, Schiefe Wand, Kaminwand, Hohe Wand. An diesem goldenen Sonntag im Oktober gehen wir die Hohe Wand an. Dort hat mein Freund Viorel eine neue Führe begangen: die Verschneidungen der Hohen Wand. Eine reine Genusskletterei, mit 9 Seillängen die längste Führe der Ödwegfelsen. Eisenfester Kalk, bombensichere Haken und über allem die Herbstsonne.
Wettersturz. Am nächsten Sonntag schneit es, zwei Wochen später finden wir die Bucegi unter einer dicken Schneedecke. Doch die Schulersüdwand, unsere Ödwegfelsen, beherbergt noch heimlich den Sommer.
Wir gehen heute eine zweite Führe von Viorel an: den „Bösen Wolf“. Hier geht’s um die Wurst. Ganz anders als die Genusskletterei an der Hohen Wand. Zwar: auch hier eisenfester Kalk, doch die Kletterei besonders schwierig (V+), die Haken äußerst rar. 5 ½ Stunden an der Sturzgrenze nehmen einen ganz schön her.
Da sind die „Artif“-Passagen (künstliche Kletterei mit Haken und Stegleitern) in den letzten Seillängen die reinste Erholung.
Und wieder einen Sonntag später erledigen wir die dritte Viorel-Führe: Jepuraşul – die Haserl-Kante. Es ist Viorels leichteste Führe, ebenfalls luftig und äußerst rar mit Haken versehen doch umso mehr ausreichend mit festen Griffen.
So klingt der 43. Bergsommer aus. Wir sitzen im Gras oben am Grat, rollen das Seil auf, zählen die Karabiner, sind glücklich, dass noch genügend Zeit bis zum Abgang des Zuges bleibt, um nicht wie gewöhnlich hasten zu müssen. Steil geht’s abwärts von Baum zu Baum durch mannshohe Superbrennnesseln, die auch trocken noch die Finger für 24 Stunden lähmen. Auf einer Mischung von Geröll und trockenem Laub geht es hinab wie auf Skiern mit Kugellagern.
Nur muss man die richtige Rinne finden, die problemlos abwärts führt, sonst riskiert man plötzlich an einem unbegehbaren Wandabbruch zu stehen. Dann heißt es: zurück, hinauf, den richtigen Weg suchen, bevor es finster wird. Zuletzt geht es durch Jungwald, Busch, Dornengestrüpp und Brombeerfußangeln weiter steil hinab zum Talboden des langen Grabnes. Ein letzter Blick zurück auf die Ödwegfelsen, hinüber zum Königstein und die im Abendgold gebadete Törzburger Senke – dann schwitzend und schweigend die Gegensteigung zum Pferdsrücken, Abstieg in den Pferdsgraben und Abschied vom Berg in Obertömösch.

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 77, S. 210 – 221)

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