Die Schlüsselblumen der Karpaten
von Erika Schneider
Zum ersten Frühlingsschmuck der Wiesen gehören auch die im Hügelland, vor allem aber in den Bergen verbreiteten Primeln oder Schlüsselblumen. Primula bedeutet „kleiner Erstling“. Primeln sind Frühlingsboten, deren Blütenglöckchen schon im März den Frühling ankünden. Nicht viele Primelarten zieren unsere Karpaten. So schrieb der bekannte siebenbürgische Botaniker Julius Römer 1899: „Zu den auffallendsten Eigenschaften der siebenbürgischen Flora gehört ihre verhältnismäßige Armut an Arten der Gattung Primula. Von diesen blüht die eine Hälfte rosaviolett, die andere gelb.“ Elf Primelarten (einige von ihnen mit zahlreichen Unter- und Abarten) kommen als seltene oder verbreitete Bergbewohner im Karpatenraum vor.
„Primula veris“ bedeutet „Erste (Blume) des Frühlings“; es ist die weitbekannte und
verbreitete Frühlingsschlüsselblume, Himmelsschlüssel oder auch Arzneiprimel genannt.
Ihre rumänische volkstümliche Benennung „Ciuboţica cucului“ („Kuckucksstiefelchen“)
kennzeichnet sie auch als Frühblüher, als Blumen, mit denen der Kuckuck einzieht.
Ihre dottergelben, leuchtenden Blütenglöckchen sind zu einer vielblütigen Dolde
zusammengefasst, die auf dem 2 – 20 cm langen Blütenschaft schlüsselartig baumeln. Sie
erinnern an einen Schlüsselbund.
Die „Schlüsselchen“ mit ihrem warmen, freundlichen leuchtenden Gelb waren im
Althochdeutschen als „himilsluzzil“ („Himmelsschlüssel“) bekannt und sollten mit ihren
besonderen Kräften, die ihnen die Germanen zuschrieben, zum Schatzfinden dienen.
Später, im 15. Jahrhundert, findet sich neben der Bezeichnung „himelslüzzel“ auch die der
„slussilblome“. Diese Blumen wurden in der Volksmedizin – und sind zum Teil auch heute
noch – „Schlüssel“ zum Heilen verschiedener Krankheiten. Aus den Blüten wurde ein Tee
gekocht, der in der Heilung von Husten und Brustbeschwerden, Rheumatismus und Gicht
Anwendung fand. Ein aus den getrockneten Blättern bereiteter Tee wird als
Nervenstärkungsmittel, außerdem gegen Schwindel und Migräne verwendet. Die Wurzel mit
ihrem Saponingehalt fand Verwendung als Zusatz zu Waschmitteln.
Die Kräuterbücher des Mittelalters erwähnen die Schlüsselblume und ihre Verwendung in
der Heilkunde. Ein „weniger“ Auszug der Blüten, auch „Schlüsselblumenwein“ genannt, tat
gegen alle Leiden gute Dienste. Über die Eigenschaften der Frühlingsschlüsselblume
schreibt der siebenbürgische Apotheker-Botaniker Peter Sigerus 1789: „Wurzel sehr
gewürtzhaft. Blüten als Thee, herzstärkend; theilen dem Wein einen angenehmen Geruch
mit. B. (Blüten) für die Bienen; (Blätter für) Kräutersalat.“
Auf Wiesen, Weiden, Lichtungen und an Waldrändern ist die Frühlingsschlüsselblume, außer
in der Rumänischen Tiefebene und der Dobrudscha, im ganzen Land in der Hügelregion und
der montanen Stufe unserer Berge verbreitet. Zu ihrer engen Verwandtschaft gehört auch
die herzblättrige Schlüsselblume (Primula columnae). Sie blüht von April bis Mai auf
sonnigen Hängen oder in lichtem, trockenem Gebüsch der montanen Stufe. So finden wir sie
im Rarău-, Ceahlău-, Giurgeu-, Ciucaş-, Bucegi- und Burzenländer Gebirge. Sie fehlt auch
nicht im Fogarascher Gebirge, wo sie an kristalline Kalkfelsen gebunden ist. Auf der Cozia
ziert sie die Wiesen Anfang Mai, wenn die Birkenzweige sich mit zartem Grün bedecken. Sie
schmückt an einigen Stellen auch die lieblichen Bergwiesen der Westkarpaten (Munţii
Apuseni).
Die Bezeichnung Himmelsschlüssel oder Frühlingsschlüsselblume kommt auch der Hohen
Primel (Primula elatior oder Primula carpatica) zu. Bei uns ist sie vielmehr als
Karpatenschlüsselblume bekannt und wurde lange Zeit als selbständige Art oder besondere
karpatische Rasse von der in Europa verbreiteten Hohen Schlüsselblume unterschieden. Die
Pflanze liebt frische Böden vor allem der Bergregionen, wo sie besonders zwischen 1000
und 1800 Meter Höhe, aber auch in tieferen Lagen im gesamten Karpatenbereich vorkommt.
Auf den alpinen Matten, im südöstlichen Winkel der Karpaten, wächst eine auch aus den
Pyrenäen, Alpen und balkanischen Gebirgen bekannte, schwefelgelbe Schlüsselblume –
Primula intricata. Ihre länglich-elliptischen Laubblätter sind schmäler als die der Hohen
Schlüsselblume und gehen allmählich in den breiten Stiel über. Während der Blütezeit ragen
die Blüten kaum aus dem Blätterstrauß hervor. Bei einer Juni- oder Juliwanderung durch das
Bucegi-Gebirge oder den Königstein, kann ein aufmerksamer Beobachter diese in unseren
Bergen sehr seltene Art antreffen.
Große, hellgelbe Blüten zu einem kurzstieligen „Sträußchen“ zusammengefasst, das hellgrüne, runzlig-längliche Blätter einrahmen. Niedrig, an den Erdboden geduckt, entfalten sich die leuchtenden Blüten dieser Pflanze schon im März, wenn die Natur kaum zu erwachen beginnt, an hellen Gebüschrändern, an Bachböschungen, auf Waldlichtungen. Manchmal sind ganze Hänge von der gelben Blütenpracht übersät. Ihre Heimat liegt im Einflussbereich des atlantisch-mediterranen Klimas. So fühlen sie sich auch bei uns im Südwestwinkel der Karpaten, d.h. im südwestlichen Karpatenvorland, dem Gebiete mit milderem Winter am besten. Von hier strahlen sie in östlicher Richtung aus und kommen ganz vereinzelt und selten auch in der Moldau vor.
Die rotlila bis hellpurpurnen, seltener bläulichen Blüten der Mehlprimel (Primula farinosa)
sind zu einer vielblütigen, aufrechten Dolde zusammengefasst, die sich auf einem
Blütenschaft über den Boden erhebt. Als Entstehungsherd dieser weit verbreiteten
Mehlprimelart können die Gebirge Asiens angesehen werden, von wo sie sich wohl während
der Eiszeit nach Westen hin verbreitet hat.
Ähnlich und wohl oft mit der Mehlprimel verwechselt wird die auch zur Verwandtschaft der
Mehlprimeln gehörende Langblütige oder auch Hallers Schlüsselblume (Primula halleri bzw.
Primula longiflora).
An sonnigen, steinigen Stellen schmückt sie alpine Kalkfelsrasen. Wer die Alpen, die
Gebirge des Balkans, Kleinasiens oder des Kaukasus kennt, wird sich freuen, die
Langblütige Schlüsselblume als einen guten bekannten auch in den Karpaten vorzufinden.
So können wir sie im Rodnaer Gebirge antreffen, ebenso im Giurgeu-Gebirge auf dem
Hăghimaşul Mic, der sich seiner bunten, vielfältigen Kalkfelsenflora wegen unter
Naturfreunden eines besonders guten Rufes erfreut. Auch im Burzenländer Gebirge – am
Schuler und Königstein (Hohenstein?) – ist sie zu Hause. Der zwischen die kristallinen
Schiefer eingelagerte kristalline Kalk bietet der Langblütigen Schlüsselblume auch im
Fogarascher Gebirge geeignete Standorte. Und schließlich schlagen die Fundorte im Ţarcu-
Godeanu die Brücke zu denen im Balkan-Gebirge.
Im südwestlichen Teil der Karpaten, wo die Gewässer der Donau zustreben, warten auf
einen Naturfreund, der nur die Pflanzenwelt der Ost- und der hohen Südkarpaten kennt, eine
Reihe von Überraschungen. Sie sind geborgen in jenen Kalkgebirgen, die sich zu beiden
Seiten des Cerna-Tales erheben, u. zw. im Cerna- und im Mehedinţi-Gebirge.
In Spalten und auf Felsbändern, in den Kalkfelsrasen, wo der südliche Streifenfarn (Ceterach
officinarum) zu Hause ist, wo zwischen den Büscheln schmalblättrigen Blaugrases (Sesleria
filiifolia) die Pölsterchen von Rochels Steinbrech (Saxifraga rocheliana) und andere
balkanisch-mediterrane Arten wachsen, wo Perückenstrauch und wilder Flieder die Felsen
zieren und die Schwarzföhre mit ihrer abgerundeten Krone die grau-weißen Kalkklippen
beschirmt, ist auch die Aurikel oder Ohren-Schlüsselblume anzutreffen. Sie ist ein Teilchen
jener südlich-mediterran anmutenden Landschaft, die im südwestlichen Winkel des Landes
durch den Einfluss des Mittelmeerklimas bedingt ist.
Isoliert von den Fundorten in den Alpen, wo die Heimat der Aurikel ist, wächst sie in den
Karpaten im Mehedinţi-Gebirge z.B. am Domogled bei Herkulesbad und im Vulcan-Gebirge
auf dem Sturu. Während die Pflanze der Alpen ganzrandige oder kaum gezähnte Blattränder
hat, sind die der Aurikel aus den Südwestkarpaten richtig gezähnt. Es handelt sich um eine
für dieses Gebiet endemische Unterart (Primula auricula ssp. serratifolia).
„Habmichlieb“ ist in manchen Gegenden der Name der allgemein als Zwergprimel bekannten
Hochgebirgsbewohnerin der Ost-Alpen, Karpaten und Ost-Balkangebirge. Sie ist nicht nur
ein Zwerg unter den Schlüsselblumengewächsen, sondern gehört auch zu den kleinsten
Blütenpflanzen unserer Berge, wo sie auf steinigen, kalkarmen Böden, zusammen mit
anderen Eiszeitrelikten vorkommt. Sei es nun im Fogarascher Gebirge, am Cindrel, im
Parâng oder Retezat, überall erscheint sie kurz nach der Schneeschmelze als Zierde der
alpinen Matten, zwischen Krumsegge (Carex curvula), Kleinem Schwingel (Festuca supina),
Gamsbart (Juncus trifidus) u. a. Oft bildet sie richtige Teppiche. Auch finden wir sie
zusammen mit Dinarischem Leimkraut in Felsspalten mit geringer Feinerdeansammlung und
auf Felsvorsprüngen. Auf windgefegten Graten duckt sie sich zwischen die
Gemsheidepolster (Loiseleuria procumbens).
Eine kleine, sehr seltene endemische Pflanze steiniger Kalkböden im Bereich der alpinen
Stufe der Südkarpaten ist Baumgartens Schlüsselblume (Primula baumgarteniana).
Baumgartens Primel gehört in die Verwandtschaft der in den nordöstlichen Kalkalpen
endemischen Schlüsselblume Wulfens (Primula wulfeniana), die auf flachen Böden, in
kleinen Mulden wächst, wo der Schnee lange liegen bleibt.
Bedeutende Botaniker des vorigen Jahrhunderts verzeichnen die Pflanze in den
Südkarpaten im Bucegi-Gebirge, am Königstein und Schuler, so wie auch an einigen Stellen
im Fogarascher Gebirge. Ihre Spuren sind jedoch verweht. Die Pflanze wurde in neuerer Zeit
nicht wiedergefunden. Sicher wacht sie jedoch irgendwo in den steinernen Wänden der
hohen Südkarpaten.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 77, S. 227 - 234)
Seite | Bildunterschrift |
---|---|
229 |
|
231 | Cheile Ţesnei. Beim Kilometer 14 im Cerna-Tal mündet der Ţesna-Bach, nachdem er sich seinen Weg zwischen den Kalktürmen und Klippen gebahnt hat, in die Cerna. Hier steht auch eine Herberge „Hanul km 14“, die Bergwanderern und Autofahrern Unterkunft bietet. |
232-l | Frühling unter dem Fogarascher Gebirge. Hohe Schlüsselblume (Primula elatior) in Poiana Florilor unter dem Surul. |
232-r | Stengellose Schlüsselblume (Primula acaulis) am Rande eines Buchenwaldes bei Gura Văii an der Donau. |
233-o | Hoch oben in den Bergen sind die Felsbänder oft von der Zwergprimel (Primula minima) übersät. |
233-u | Von der Höhe des Paltinul-Sattels (Bâlea-Gebiet, Fogarascher Gebirge) schweift der Blick hinüber ins Doamnei-Tal zu den Kalkfelsen des Jghiabul Văros, der unter den vielen interessanten Kalkpflanzen auch die Langblütige Schlüsselblume (Primula haleri) birgt. |