von A. Conrad
Es war im August, als ich im Ursu-Massiv, unterwegs zu einer Stână, in ein fürchterliches
Gewitter geriet. Nachdem ich völlig durchnässt und frierend wie ein Hund die Hütte erreicht
hatte, setzte ich mich ans Feuer, hüllte mich in eine trockene Decke und trank heiße
Schafmilch.
Nachdem meine Sachen getrocknet waren (sie rochen, wie schon so oft, nach Rauch, Stână
und Schaf), trat ich vor die Hütte, um die Nachgewitterstimmung zu fotografieren. Die Hirten
fütterten ihre Hunde. Die Schafe begannen den Hang hinaufzusteigen. Da hörten wir in der
Nähe Äste brechen und sahen die Schafe erschrocken loslaufen. Dann stürmte, keine
zwanzig Meter von uns entfernt, ein ziemlich großer Bär mit dunkelbraunem ins Schwarze
spielendem Fell quer über den Hang hinter einem Schaf her. Einer der Hirten rief laut „Ursu!“
– „Der Bär“. Dieser blieb stehen, sah uns an und rannte erst wieder los, als Hirten und
Hunde, die auf ihn zustürzten, nur noch einige Meter entfernt waren. Nach ergebnisloser
Jagd kehrten alle zur Stâna zurück. Da sagte einer der Hirten: „Das kann nur die ‚schlaue
Bärin’ gewesen sein. Bei Tag hat sie bisher noch nie jemand gesehen, und nun kommt sie
uns schon bis an die Hütte. Nicht einmal die Hunde fürchtet sie mehr...“
Wir gingen hinein, bereiteten das Abendbrot vor, und der Hirt fuhr in seinem Bericht fort:
„Schon seit dem Frühjahr ist dieses Biest der Schrecken aller Hirten im Umkreis von zehn
Kilometern. Sie hat zwei Junge und, was sehr selten vorkommt, diese Jungbären sind nicht
gleich alt. Den Spuren nach ist der eine aus dem Frühjahr, während der andere ein bis zwei
Jahre älter sein dürfte. In der ersten Zeit raubte sich die Bärin jede Nacht ein Schaf, auch
von hier. Erst als man noch mehr Hunde aus dem Dorf holte, nachts die Schafe im Kral
eingesperrt hielt und an jeder Ecke ein Feuer brannte, ist die Bärenfamilie vorübergehend
abgewandert.“
Als ich fragte, warum man die Bärin „die Schlaue“ nannte, erzählte er weiter: „In einer Nacht,
zwei oder drei Wochen, nachdem die Bärin abgezogen war, erschien sie wieder. Aber nicht
bei der Herde, die gut 150 Meter weiter übernachtete, sondern bei der Hütte. Sie machte
sich im Stall zu schaffen, wo Kühe und Kälber eingesperrt waren. Die Hunde spürten sie
gleich auf und es begann die Verfolgung. Die Bärin lief in den Wald. Keine 50 Meter weiter
blieben die Köter plötzlich stehen und bellten eine dichte Tannengruppe an. Sie gebärdeten
sich wie verrückt. Da rief der Hirte, der bei den Schafen geblieben war ,Usru! Ursu!’ Alles
stürmte hin, aber es war schon zu spät. Die Bärin hatte sich einer der größten Schafe aus
der Herde geholt, und dieses Mal konnte es ihr niemand abjagen. Am Morgen danach
gingen die Hirten zu dem Tannendickicht, um nachzusehen, warum die Hunde hier gebellt
hatten. Sie fanden Kratzspuren an der Rinde der Tannen und wussten nun, dass die Bärin
das größere Junge dort versteckt hatte, um die Verfolger irre zu führen und sich in Ruhe ein
Schaf zu holen.“
Die Hirten meinten, so etwas haben sie noch nie erlebt. Nicht einmal der alte Senn, der seit
61 Jahren jeden Sommer bei einer Sennhütte war. „Nur großer Hunger“, meinte der Alte,
„triebe ein Muttertier zu einem solchen Risiko.“
An den nächsten Tagen, zeigte sich die „schlaue Bärin“ nicht mehr. Wahrscheinlich hatte sie
abermals ihr Revier gewechselt oder war ins Tal hinabgestiegen, wo die Himbeeren gerade
reif waren.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 77, S. 170 – 171)