von Hans Martin Stamp
Irgendwo sitzen Weidmänner beisammen. Im Laufe langer und oft heftiger Fachsimpeleien
fällt das Wort „Karpatenhirsch“. Plötzlich herrscht Stille in der Runde und jeder sinnt
gewesenen Erlebnissen nach oder sehnt sie herbei.
Viele haben von ihm gehört, wenige ihn gesehen. Aber fast jeder Naturverbundene wünscht
ihn kennen zu lernen, möchte aus dem Wort einen Begriff schaffen und den Karpatenhirsch in
seinem ursprünglichen Lebensraum beobachten. Das ist verständlich, denn der
Karpatenhirsch ist eine der urwüchsigsten Formen unter den Hirschen Europas und am
wenigsten von fremdem Einschlag betroffen.
Wo und wann man ihn kennen lernen kann? In fast allen unseren Bergwäldern zur Zeit der
Brunft (September – Anfang Oktober). Die Anfahrtswege sind aber meist zeitraubend und die
Fußmärsche von der Unterkunft zu den Brunftplätzen lang und unbequem. Dem Naturfreund
bietet sich jedoch die Möglichkeit, rasch und leicht in eine landschaftlich schöne Gegend zu
kommen, die zugleich eines der besten Hirschreviere ist: in das Zoodt-Tal.
Die Anfahrt beginnt in Sibiu auf der Nationalstraße DN 7 (E 15 A) Richtung Roter-Turm-
Pass. Nach 17 km Fahrt erreicht man die Gemeinde Talmesch. Hier zweigt kurz vor der
Zoodt-Brücke der weitere Weg gegen Westen ab, in Richtung Sadu (8 km). Von hier geht es
auf einer Landstraße den Zoodt aufwärts bis zur Schutzhütte Gâtul Berbecului (aus Sibiu
insgesamt 40 km). Die Hütte liegt in 1275 m Höhe am Ufer des Zoodter Stausees und ist als
Ausgangspunkt für Hirschbeobachtungen geeignet. Günstiger liegt jedoch die Jagdhütte
Rozdeşti, etwa 6 km flussaufwärts. Hier ist man allerdings auf eigene Verpflegung
angewiesen, die aber durch einen nahe gelegenen und gut versorgten Lebensmittelladen
erleichtert wird.
Nun ist der Reisende wohl am Ziel der Fahrt, jedoch noch lange nicht am Ziel seiner
Wünsche. Vorerst sollte er sich einen Überblick über „sein“ Gebiet verschaffen. Von einem
freien Berg in der Nähe kann ein großer Teil des Geländes gut übersehen werden.
Das im allgemeinen von Westen nach Osten führende Zoodt-Tal beginnt am Stefleşti-Sattel,
der Wasserscheide zwischen Zoodt und Frumoasa. Nördlich des Sattels erhebt sich der
Cindrel (2245 m), südlich der Stefleşti (2240 m). Von beiden Spitzen fallen sanfte Rücken ab
und begrenzen das Tal. Auf dem linken Ausläufer, vom Cindrel her, erheben sich einige
niedrigere Spitzen – Cânaia, Niculeşti, Rozdeşti, Bătrâna und als letzte bedeutendere
Onceşti, über dem Kurort Hohe Rinne. Von da an wird der Kamm immer niederer und
erreicht bei Sadu die Zibinssenke.
Auf der anderen Talseite fällt der Rücken von Stefleşti nach Westen über Balindru, Conţu
zum Negovan. Hier biegt er nach Norden, um dann oberhalb des Stausees wieder westlich
zu verlaufen und über Prejbă und Muma zum Zibinstal abzufallen. Beide Rücken senden
ihrerseits Ausläufer in das Tal, zwischen denen klare, kühle Bäche dem Zoodt zufließen.
Von seinem freien Stand aus kann der Bergfreund ein großes Gebiet überblicken, und schon
der erste Eindruck macht ihm klar, dass er sich in einem idealen Hirschrevier befindet. Dichte
Fichtenwälder ziehen sich die Hänge hinauf, oft sind Lichtungen eingestreut, die günstige
Äsungsplätze bieten. Dickungen bieten Schutz vor den Unbilden des Wetters, und zahlreiche
Weichhölzer in den Bachtälern helfen dem Hirsch, über die harte Zeit der meist
schneereichen Winter zu kommen.
Hat der Beobachter Glück, hört er schon bei diesem ersten Ausflug den Brunftschrei eines
oder mehrerer Hirsche, und seine Erwartung steigert sich zur Ungeduld.
Am nächsten Morgen ist es endlich soweit. Noch im Dunkeln beginnt der Aufstieg zum
Brunftplatz, unter Führung oder wenigstens nach Anweisung des erfahrenen Hegers. Um
diese Jahreszeit liegt schon Reif, der leise unter den Schuhen knirscht. Gefrorenes Gras
knickt unter dem Tritt. Die Luft ist reichlich frisch, und warme Kleidung nur zu empfehlen.
Langsam beginnt es zu dämmern, sobald der Brunftplatz erreicht ist. Nun heißt es, Geduld
üben und Stille bewahren. Das Warten dauert eine Stunde, zwei oder mehr, je nach der
Laune des Erwarteten. Dann, endlich, ertönt ein Brunftschrei. Immer näher ist er zu
vernehmen, und dann ist plötzlich eine Bewegung unter den Fichten. Langsam, ohne jede
hastige Bewegung kommt das Glas ans Auge. Nein, es ist noch nicht der Hirsch. Es ist
vorerst sein Tier, das lange und vorsichtig sichert, ehe es langsam auf die Lichtung tritt und
zu äsen beginnt. Es dauert noch eine Weile, dann ist wieder eine schwache Bewegung
zwischen den Stämmen. Und dann kommt der Ersehnte, dem unsere Geduld und Mühe galt.
Der Hirsch tritt aus: Über dem noch undeutlich sichtbaren Kopf blitzen die weißen Enden in
der Dämmerung. Es beginnt das Zählen. Wie viel Enden hat er? Zehn, zwölf oder mehr?
Vielleicht habe ich Glück, bekomme einen Zwanzigender zu sehen. Der Hirsch bewegt den
Kopf, die Enden schieben sich ständig übereinander, das Zählen ist nicht einfach. Dann steht
er endlich frei und zieht langsam seinem Tier nach. Seine ganze Schönheit kann nun
bewundert werden, der schlanke und doch kräftige Körper, das schön geschwungene, starke
Geweih und die Leichtigkeit und Sicherheitseiner Bewegungen. Dann hebt er langsam den
Kopf, das Geweih legt sich fest auf den Rücken, und es schallt der dumpfe, weit zu hörende
Brunftschrei in die Dämmerung. Wohl jeder, der ihn auch nur von weitem hört, wird durch
diesen Ton geradezu elektrisiert. Einmal, zweimal, öfter folgt das Schauspiel. Von irgendwo
aus den Wäldern kommt Antwort. An mehreren Stellen hört man sie.
Langsam wird es heller. Auf den Bergspitzen scheint die Sonne, und einzelne Wolkenballen
ziehen über den sonst klaren Himmel. Die Hirsche werden unruhig, hören auf zu äsen und
ziehen wieder dem Wald zu. Noch ein letzter Brunftschrei, und sie sind zwischen den Fichten
verschwunden.
Nun hat der Beobachter Zeit, sich umzusehen. Die klare, kühle Herbstluft ermöglicht eine
weite Sicht, ausgedehnte Gebiete können überblickt werden. Dunkelgrüne Wälder mit
eingestreuten Blößen, deren helleres Grün schon einen leichten gelben Schimmer zeigt,
bedecken die Hänge. Darüber folgt der Latschengürtel und ganz oben die schon
herbstgelben Matten. Alles ist von einer milden Sonne beschienen, und lange sitzt der
Bergfreund und genießt die Schönheit dieses Teiles der Karpaten. Dann macht sich aber die
kurze Nachtruhe bemerkbar. Er geht langsam zu seiner Unterkunft, um am Nachmittag, am
nächsten Morgen wieder sein Glück zu versuchen. An einem der anderen Brunftplätze, die
ihm durch das Rufen der Hirsche verraten wurden.
Nicht immer winkt einem das Glück. In manchen Jahren kennt nur der erfahrene Heger den
Beginn der Brunft. Kein Ruf ist zu hören, kein Hirsch zu sehen. Ein Jahr mit „stiller Brunft“.
Die Witterung, aber auch andere, noch unbekannte Einflüsse führen dazu, den Hirsch still
brunften zu lassen. Selbst in diesem Falle wird der Bergfreund nicht völlig enttäuscht, bleibt
doch die Schönheit des Gebirges.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm mit 76, S. 70 - 74)
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