von Ingmar Weiß
Am späten Nachmittag kommen wir an: ermüdet vom steilen Aufstieg, bepackt mit Zelten und Schlafsäcken, Kochgeschirr und Konserven. Auch ein Faltboot ist dabei. Dann geht es auf der Suche nach einem schönen Zeltplatz rund um den See. Wir haben diesmal Glück und finden am sonnigeren Westufer mit seinen vereinzelt stehenden Tannen noch einen freien Zeltplatz. Hell klingen die Axtschläge am Metall der in den Boden dringenden Heringe und – die Zelte stehen. In der hereinbrechenden Dämmerung ziehen wir noch schnell einen Wassergraben um die neue Wohnung. Sicher ist sicher, denn schon wetterleuchtet es über den Fichtengipfeln und von ferne grollt der Donner.
Mit steifen Gliedern wachen wir am Morgen auf. Ein warmer Tee wäre nun das Richtige,
aber wer entfacht das Feuer mit nassem Holz bei nieselndem Regen? Enttäuscht kriecht
man wieder in den Schlafsack und denkt an jene fern liegenden Tage, da an diesem
Fleckchen Erde Feuer zur Tagesordnung gehörte.
Damals, im Jungtertiär, einem der rezentesten (bis in die Gegenwart reichend) Kapitel der
Erdgeschichte, ging es im Zuge der Auftürmung und Auffaltung mächtiger
Meeresablagerungen zur Bergwelt der Karpaten hier stürmisch zu. Tiefe Risse und Brüche
entstanden entlang den emporwachsenden Faltengebirgen und ermöglichten der glühend
heißen Lava, sich als mächtige Feuerströme in die Täler der jungen Bergwelt zu ergießen.
Die gesamten Ostkarpaten bis hinauf zum Vihorlat-Gebirge, nördlich der Grenzen unseres
Landes, waren durchzogen von einem Band Feuer speiender Schlote: die längste
Vulkankette, die es damals in Europa gab. Vermag die Erinnerung an jene Feuer speiende
Zeit uns heute kaum mehr zu erwärmen, verdanken wir ihr dennoch viel: die reichen Erzlager
im Norden der Maramureş, die 2000er des Căliman-Gebirges und nicht zuletzt hier, am
südlichsten Zipfel des einstigen Feuerbandes, den einzigen Vulkankrater, der Jahrtausende
überdauerte und wie zum Zeichen seines endgültigen Erlöschens in seiner Mitte das Wasser
des Sanktannensees beherbergt. Die letzten Auswirkungen der Macht aber, die hier mit
Feuer und Flammen am Werke war, sind auch heute noch erkennbar, und da das Wetter
alles andere als zum Baden einladet, beschließen wir, ihnen den Tag zu widmen.
Wenn wir den Kraterkessel an seinem NO-Abhang, am Weg, der zur Schutzhütte hinaufführt,
verlassen und uns am gelb markierten Weg nach Osten wenden, gelangen wir nach etwa
zweistündigem Marsch zum Sanatorium Toria, am Puciosul- oder Büdös-Berg gelegen. Hier
entweicht dem Boden als Nachwirkung der einstigen vulkanischen Tätigkeit auch heute noch
Kohlendioxid und Schwefelwasserstoff, letzterer durch seinen unangenehmen Geruch die
Benennung des Berges bestimmend (pucios = büdös = stinkend). Besonders deutlich sind
diese Gasemanationen (Austritte), echte Mofetten (CO2-haltige Quellen) und Solfatare
(Austrittsbereich schwefelhaltiger Gase), in den kleinen Grotten und Erdspalten unmittelbar
unter dem 1143 m hohen Berggipfel des Puciosul. Die „Mörderhöhle“, eine mit Gasen
erfüllte, steil abfallende Erdspalte, soll 1802 nach einem Erdbeben eingestürzt sein, die
etwas tiefer gelegene „Büdöshöhle“ (10 m lang, etwa 2 m breit und zwischen 2 und 6 m
hoch) besteht aber auch heute noch. Das „Giftgas“, zu über 95 Prozent aus Kohlendioxid
bestehend, dem geringe Mengen Schwefelwasserstoff beigemengt sind, erfüllt, da schwerer
als Luft, nur die Bodenschichten der Höhle, über deren Eingangsschwelle es ununterbrochen
entweicht. Bis zu 400 kg täglich! Da die Grotte schräg nach hinten abfällt, wird die
Gasschicht umso höher, je tiefer wir in die Grotte eindringen. Dabei muss aber darauf
geachtet werden, dass der Kopf nicht in dieser Schicht untertaucht, da dieses augenblicklich
zu Bewusstlosigkeit und nach wenigen Minuten zum Erstickungstod führen kann.
Seit alters her wird die Giftgrotte am Puciosul vor allem von Rheumakranken aufgesucht, da
das ausströmende Gas, obzwar nicht wärmer als die Umgebung, in Berührung mit dem
Körper ein angenehmes Wärmegefühl verursacht. Ebenfalls als Nachwirkung des heogenen
Vulkanismus kommen die sehr zahlreichen und gleichzeitig ihrer chemischen
Zusammensetzung nach sehr verschiedenartigen Mineralwasserquellen der Gegend hinzu.
Der bekannte siebenbürgische Naturforscher Ferdinand Schur besuchte vor mehr als
hundert Jahren dieses sowohl geologisch als auch botanisch so interessante Gebiet. Über
den damaligen „Kurbetrieb“ finden wir in seinen Reiseaufzeichnungen folgende Notizen:
„Das Plateau ist der Aufenthalt mehrerer Kurgäste, welche sich hier zum Gebrauch der
Gasbäder und der Mineralwasser einfinden. Sie wohnen hier kümmerlich in Laubhütten oder
auf Wägen, und wenn die Natur nicht Wunder bewirkt, so kann man nicht begreifen, wie
Kranke wenn auch nicht genesen, so doch wenigstens Linderung finden können... Die Leute
wenden diese Gasbäder gegen Augenkrankheiten, Gicht, Rheumatismus u. dgl. an, und es
sollen hier wirklich, ohne ärztliche Behandlung, manche kuriert worden sein...“
Für Bequemlichkeit und ärztliche Betreuung ist inzwischen gesorgt worden. Wer sich davon
selber überzeugen möchte, kann vom Sanatorium aus den 4 km entfernten, auf der Straße
Târgu Secuiesc – Bicsad gelegenen Badeort Balvanyos aufsuchen.
Am Rückweg zum Sanktannensee bietet sich uns einige Male ein weiter Ausblick nach
Norden, auf die von Bergen umkränzte Ebene der Ciuc-Senke. Zurzeit, als hier dem Boden
nicht allein Gas und Heilquellen entströmten, bedeckte diese Ebene ein gewaltiger See.
Heute noch sind seine Uferterrassen an den Berglehnen Zeugen seiner Ausmaße. Sie liegen
850 m über dem Meeresspiegel. So hoch muss folglich auch die Lavatalsperre gelegen
haben, die dem Alt den Weg nach Süden versperrte und dadurch zur Entstehung des Sees
führte. Heute fließt der Alt an dieser Stelle, bei Tuşnad, in der malerischen Talenge zwischen
Harghita-Gebirge und dem Ciomad, auf einer Höhe von nur 700 m über dem Meeresspiegel.
Wenn man sich vorstellen kann, wie lange es gedauert haben muss, bis das jetzige Flussbett
sich 150 m tief in den äußerst harten Andesit eingewaschen hat, bekommt man ein Bild von
der Dauer erdgeschichtlichen Geschehens.
Auch am heutigen Morgen ist das Wetter nicht schön. Kalte Nebel lassen einen schon beim
Gedanken an ein Morgenbad frösteln. Dieses ist am Sanktannensee das richtige Wetter für
einen kleinen botanischen Spaziergang zum nahe gelegenen Mohoş-Moor.
In einen zweiten, höher als der Sanktannensee gelegenen Krater des Ciomad gebettet, ist
das etwa 80 ha große Moor von der Schutzhütte her in wenigen Minuten zu erreichen.
Deutlich von seiner Umgebung abgegrenzt, eine wahre Vegetationsinsel inmitten des breiten
Tales, fällt das Mohoş-Moor schon von weitem auf. Seine Geheimnisse aber enthüllt es nur
denen, die den Sprung über den Wassergraben wagen, der es umgibt und ein wenig mit der
Botanik vertraut sind. An Stelle eines oligotrophen, d.h. nährstoffarmen Sees entstanden,
besitzt das Moor heute nur einige wenige offene Wasserstellen, und dem Besucher droht
somit kaum noch die Gefahr, im weich federnden, mit dichten Torfmoospolstern ausgelegten
Boden des Moores einzubrechen. Das Mohoş-Gebiet gehört zu den besterforschten
Hochmooren unseres Landes und steht seiner interessanten und seltenen Flora wegen unter
Naturschutz. Es ist eine sonderbare Pflanzenwelt, die hier in dauerndem Wettstreit mit den
üppig und stetig wachsenden Torfmoosen ihr Dasein erkämpft. Es sind zum großen Teil
Eiszeitrelikte, Pflanzen, die in unseren Breitengraden ausschließlich an die ökologischen
Gegebenheiten der Hochmoore mit ihren Sphagnum-Polstern gebunden sind und oft an
diesen Standorten die südlichste Grenze ihrer Verbreitung erreichen. Dabei ist das Mohoş-
Moor, wie auch die anderen Hochmoore Rumäniens, als Pflanzengemeinschaft keineswegs
während der Eiszeit entstanden, wie man lange Zeit fälschlich angenommen hatte, sondern
weitaus jünger. Seine charakteristischen Pflanzen aber während der letzten Eiszeit bei uns
weit verbreitet, fanden, als die nacheiszeitliche Wärmeperiode einsetzte, hier eine letzte
Zufluchtstätte. Allen voran die uns so vertraute, aber nur durch forstwirtschaftliche
Bevorzugung nicht zu einer botanischen Seltenheit gewordene Kiefer oder Föhre. Während
der Eiszeit war sie bei uns weitestverbreitete Gehölz, musste aber, als die Gletscher sich
nach Norden verzogen, der Buche weichen. Hier im Mohoş-Moor ist einer der wenigen
natürlichen Standorte dieses Baumes, der jedoch unter den ungünstigen Bedingungen des
Moores nur in kümmerlicher Zwergform gedeiht. Zur Kiefer gesellten sich eine ganze Reihe
von Pflanzen, die heute in der arktischen und subarktischen Zone weiterverbreitet sind, bei
uns aber zu den botanischen Kostbarkeiten gehören.
Das Mohoş-Moor wurde auf diese Weise für alle diese charakteristischen Pflanzen der
Eiszeit zu einem natürlichen Reservat, lange Zeit bevor der Mensch auf den Gedanken kam,
dieser Landschaft den Status eines gesetzlich geschützten Naturdenkmals einzuräumen.
Aber nicht die Eiszeitpflanzen allein rechtfertigen diesen gesetzlichen Schutz. Die heute
stellenweise bis zu 10,5 m dicke Torfschicht, aus den unteren absterbenden Teilen der
Torfmoospflänzchen entstanden, stellt durch die äußerst günstigen
Konservierungsbedingungen für verschiedene Pflanzenteile, aber vor allem für Pollenkörner,
eine Chronik unschätzbaren Wertes dar. Die Untersuchung dieses Pollens, Schicht um
Schicht im Laufe der Zeit abgelagert, ermöglicht es, die Entwicklung der Pflanzendecke und
damit im Zusammenhang die Entwicklung des Klimas viele Jahrtausende zurückzuverfolgen.
Wenn wir dieses Anliegen dem hoch spezialisierten Fachmann überlassen müssen, wollen
wir das Moor dennoch nicht verlassen, ohne seine Heidel- und Preisel-, Moos- und
Rauschbeeren mit ihren einladenden blauen und roten Beeren zumindest gekostet zu haben.
Sicherlich wird auch niemand den Rückweg antreten, bevor nicht im dichten Moospolster die
zierlichen Blattrosetten des Sonnentaues entdeckt sind. Wer das bescheidene Pflänzchen
nach langem Suchen zum ersten Male zu Gesicht bekommt, wird ihm sein listiges
Mückenmorden, mit dessen Hilfe es im nährstoffarmen Moorboden dennoch zu überleben
weiß, nicht weiter verübeln.
Zum Sanktannensee zurückgekehrt, erkennen wir die ersten Anzeichen seiner beginnenden
Verlandung: Torfmoospolster, die vom Nordufer her in den See vordringen. Wie lange wird
es wohl noch dauern, bis auch hier die weite Wasserfläche dem Moore weichen muss?
Am Abend stechen wir mit dem Faltboot in den regungslosen See. Die Schattenriesen der
Ufertannen weichen mehr und mehr zurück, fügen sich ein in den dunklen Ring der
Kratermauern, die das Funkeln am Zenit stumm umschließen. Vom südlichen Uferbogen des
Sees, wo der Buchenhochwald unmittelbar zum Wasser herabsteigt und durch seine kühlen
Schatten dem See das einzig stille, von Zelten unberührte Plätzchen bewahrt hat, dringen
aufgeregte Worte zu uns herüber. Das Stimmengewirr, begleitet vom Aufleuchten der
Taschenlampen, pflanzt sich von Zelt zu Zelt, rund um den See fort. Ist die Bärin mit ihrem
Jungen, die regelmäßig an diese Uferstelle zur Tränke kommt, auch am heutigen Abend
gesichtet worden? Es dauert eine Weile, bis die Aufregung wieder erstirbt.
Die Sonnenstrahlen brechen sich in tausend Tautropfen: an jeder Tannennadel, im Gras, die
Zeltschnüre entlang. Im Zelteingang aber lacht uns eine Bäuerin aus Bicsad entgegen, mit
einem Korb frisch gebackener Baumstritzel. Nach festtäglichem Frühstück erwartet uns
endlich der See. Bei einem Umfang von 1750 m und einer Fläche von über 21 ha – 680 m
lang und 470 m breit. Wer braucht mehr Platz zum Schwimmen? Sanft nur fällt der Boden
der Seemitte zu ab. Sobald genügend Tiefe gewonnen ist, verzichten wir auf das Schlamm
aufwühlende Waten im lockeren Grund und schwimmen der Seemitte zu, beruhigt durch die
Messungen, die ergeben haben, dass die tiefsten Stellen 8,5 m nicht überschreiten, und
folglich der See keineswegs abgrundtief mit dem Meere in Verbindung steht, wie alte Sagen
zu berichten wissen.
Autos mühen sich den steilen Weg zum See herab, zelte wachsen aus dem Boden wie Pilze
nach dem Regen, und Rufe begleiten das vielfache Echo der Axtschläge im Kraterkessel –
während unsere Gedanken noch einmal in jene Zeiten zurückwandern, als hier am „einsam
gelegenen Sanktannensee“ noch keine Spur menschlichen Lebens vorhanden war. Dabei
drängt sich unmittelbar der Wunsch auf, dass der Sinn unserer Zeitgenossen diese ernste
Schönheit des Sanktannensees zu bewahren weiß.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 76, S. 243 – 250)
Seite | Bildunterschrift |
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243 | Sanktannensee |
244 | Kartenskizze |
248 | Morgennebel am See |
249 |
Pflanzen des Mohoş-Moores:
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250 | Hier täuscht der See noch Einsamkeit vor |