Die Kleintierwelt der hohen Südkarpaten
von Eckbert A. Schneider
Es klingt vielleicht übertrieben, stimmt aber im Grunde, wenn Karl Fuss, einer der Klassiker
der siebenbürgischen Naturforschung, im Jahre 1848 über das Dunkel, welches bisnoch
„fast alle Teile der Naturgeschichte Siebenbürgens in cimmerische Nacht verhüllt“, klagt.
Zwar hat es auch vorher an Bestrebungen nicht gefehlt, die überaus mannigfaltigen
Naturerscheinungen Siebenbürgens in verschiedenster Richtung hin zu untersuchen, doch
waren es meist einzelne, besonders Begeisterte, die sich die Erforschung der Geographie,
der Gesteine und Mineralien, der Pflanzen und der Tiere zum Ziel setzten. Erst mit der
Gründung des Siebenbürgischen Vereins für Naturwissenschaften im Jahre 1849 beginnt
das Zeitalter der vielseitigen und planmäßigen Erforschung der Naturverhältnisse
Siebenbürgens und der angrenzenden Teile der Ost- und Südkarpaten.
Dass trotz der intensiven Forschungsarbeit der letzten Jahrzehnte die Südostkarpaten in
naturwissenschaftlicher Hinsicht noch lange nicht endgültig erforscht sind, zeigen die
zahlreichen Tierarten, die in den letzten Jahren neu entdeckt und beschrieben wurden. Ein
nicht geringes Aufsehen in der Fachwelt erregte die Entdeckung einer gänzlich unbekannten
Heuschreckenart in der alpinen Stufe des Fogarascher Gebirges, zwischen Surul und
Tătaru, im Jahre 1951. Diese Art, mit der wissenschaftlichen Bezeichnung Podismopsis
transylvanica, ist ein boreo-alpines Eiszeitrelikt, dessen nächstverwandte Art fossil in
diluvialen Schichten der nördlichen Karpaten in Ostgalizien gefunden wurde.
Ähnliche Entdeckungen sind noch zu erwarten. Weniger wahrscheinlich, ja geradezu
unwahrscheinlich ist die Auffindung neuer Arten unter den Wirbeltieren. Überraschungen
sind jedoch auch bei diesen nicht ganz ausgeschlossen. Als vor einigen Jahren (1957) in
einem Bergflüsschen an der Südflanke des Fogarascher Gebirges eine für die Wissenschaft
neue Fischgattung und –art (Romanichthys valsanicola) entdeckt wurde, war es eine
wissenschaftliche Sensation von europäischem Ausmaß!
Seit dem Tode von Karl Fuss sind 102 Jahre vergangen. Wenn sich seither im Karpatenland
Siebenbürgen auch manches grundlegend geändert hat, so gilt es doch mit Recht noch
immer als Land der urwüchsigen Hirsche, Luchse, Wölfe und Bären. In den letzten
Jahrzehnten wurden Hunderte von Kilometern Forststraße angelegt, mit dem Zweck, die
reichen Holzreserven leichter ausbeuten zu können. Diese Straßen kommen aber auch dem
Tourismus zugute. In kurzer Zeit kann man auf ihnen motorisiert oder auf Schusters Rappen
in abgelegenste Gebirgsmassive vordringen und hier ein Stück Natur erleben, wie es sonst
in Europa nur noch in wenigen Gebieten möglich ist.
Nicht den Großen der Tierwelt wollen wir die folgenden Zeilen widmen; über ihr Leben und
Treiben ist aus Reisbeschreibungen, Abenteuer- und Jagdschilderungen und auch aus
Zeitungsberichten alter und neuester Zeit manches bekannt geworden. Auf das
ungerechterweise viel zu wenig bekannte und beachtete Kleingetier, das auf unseren
Wanderungen durch Fichtenwälder, auf den Hochgebirgsmatten oder an schroffen
Felswänden entlang unseren Weg kreuzt, wollen wir im folgenden unser Augenmerk richten.
Der Frühling beginnt im Gebirge verständlicherweise in den tiefsten Lagen. Das Aufsteigen
des Frühlings im Gebirge kann man förmlich mit dem Höhenmesser verfolgen, wenn man im
April und Mai in kürzeren Zeitabständen eines der vielen schönen Gebirgstäler des
Fogarascher Gebirges oder der benachbarten Massive aufwärts wandert.
Der Anmarsch erfolgt meist entlang eines schäumenden Gebirgsbaches. Hier unten im Tal,
in unmittelbarer Nähe des Wassers, beginnen auch die ersten Kräuter zu blühen, und auf
den Ufersteinen am Bach trippeln die eben aus dem Süden zurückgekehrten zierlichen
weißen Bachstelzen.
Der Wald ist jetzt erfüllt vom Wettgesang der Vögel; Buchfinken schlagen im Unterholz,
Rotkehlchen tickern im Gebüsch, Singdrosseln und Amseln flöten in den höchsten Zweigen
der Buchen, Zilpzalp und Waldlaubvögel treiben sich durch die Kronen. Sattgelbe
Zitronenfalter gaukeln durch die Luft, Tagpfauenauge, Kleiner Fuchs und Trauermantel sind
aus ihrer Winterstarre erwacht und wärmen sich an der Sonne. Reißenden Fluges wirbeln
braunrote Buchenspinner durch die hellen Stämme daher.
Ein warmer Frühlingsregen lockt die braunen Grasfrösche und die grün-braun getarnten
Wechselkröten, den orangebauchigen Bergmolch und den prächtigen Feuersalamander aus
ihren Winterquartieren unter Laub- und Wurzelwerk hervor. Sie begeben sich zum nächsten
ruhigen Tümpel, um dort ihrem Laichgeschäft nachzugehen. Bald bevölkern unzählige
Kaulquappen und Jungmolche die Wasserpfützen und Gräben.
Auch die Welt der Gliederfüßler und Weichtiere ist erwacht. Hier hat sich am Wegrand ein
goldgrüner Laufkäfer an einem sich verzweifelt windenden Regenwurm festgebissen, dort
kommt eine riesige Wegschnecke angekrochen und da gleitet ein rotbrauner Tausendfüßler
über das feuchte Buchenlaub.
Der Buchenwald umfasst den Höhengürtel zwischenungefähr 700 und 1250 m. In Nordlagen
und in schattigen Tälern reicht er viel weiter herab und ist an solchen Stellen auch im
Hügelland anzutreffen. Von 1250 m Höhe aufwärts dehnen sich bis zur Waldgrenze in etwa
1750 – 1850 m die dunklen Fichtenwälder. Durch ihr dichtes Gezweig dringt wenig Licht bis
zum nadelbedeckten Waldboden.
Der Fichtenwald ist das Revier des Auerwildes. Zwischen Heidelbeergesträuch balzen hier
im frühen Frühjahr die Auerhähne. Durch lautes Krächzen meldet der Tannenhäher schon
von weitem jeden fremden Eindringling. Im stillen Hochwald meißelt sich der scheue
Schwarzspecht in alte Fichtenstämme seine Bruthöhlen. Scharen von Tannenmeisen turnen
durch die Zweige, Haubenmeisen suchen im Geäst nach Insekten, winzige Goldhähnchen
piepsen den Waldrand entlang. In den Wipfeln macht sich ein Flug Fichtenkreuzschnäbel an
den reifen Zapfen zu schaffen. Bedächtig streichen feuerbrüstige Gimpel von Baum zu
Baum. Am dürren Stamm einer abgestorbenen Fichte klettert ein Dreizehenspecht aufwärts.
nachts streichen lautlos die Eulen durch das Gehölz. Das Gewölle unter ihren Schlafbäumen
verrät uns, dass sie sich fast ausschließlich von kleinen Nagern des Waldes ernähren.
In der oberen Fichtenstufe, wo der Wald in die Krummholzzone übergeht, nistet die
Ringdrossel in den Latschen. An ihrem weißen Brustlatz ist sie von weitem zu erkennen. An
den Felsen und Steilwänden vor allem der Kalkmassive kann man manchmal den
Mauerläufer bei der Nahrungssuche beobachten, und an Geröllhalden huscht uns vielleicht
einmal das Steinrötel über den Weg...
Man glaubt sich in die nördliche Tundra versetzt, wenn man in 2000 – 2500 Meter Höhe über
die kurzrasigen, mit knisternden Rentier- und Wurmflechten bewachsenen Alpenmatten der
Südkarpaten wandert. Die niedere Jahresmitteltemperatur, die kurze Vegetationszeit und die
rauen Winde halten strenge Auslese unter den Lebewesen, die diese Höhen bewohnen. Wie
entzückt ist aber das Auge des Wanderers, wenn er aus dem blumenarmen Fichtenwald
heraustritt in die Blütenpracht der Alpenwiesen. Der Alpenflora der Südkarpaten sind eine
Reihe schöner Bücher gewidmet worden, doch was sind diese gegen den Formen- und
Farbenreichtum der Wirklichkeit! Am eindrucksvollsten entfaltet sie sich wohl in der zweiten
Junihälfte. Es ist die Zeit der Alpenrosenblüte, wenn ganze Berghänge von einem wahren
Alpenglühen erfasst werden.
Weniger auffällig, mehr im Verborgenen lebend, ist die alpine Tierwelt der Südkarpaten.
Neben Vogelarten, die auch im Tiefland vorkommen, wie Hausrotschwanz, Wasserpieper
und Feldlerche, suchen hier die Alpenbraunelle, die sehr seltene Ohrenlerche und der nur
ganz vereinzelt in den Karpaten beobachtete Mornellregenpfeifer ihr Fortkommen.
In früheren Jahren sah man nicht selten in den Weiten des Himmels, über allen Gipfeln die
großen Greifvögel ihre Kreise ziehen. Kuttengeier, Gänsegeier und Steinadler sind zu
größten Seltenheiten geworden. Auf Schritt und Tritt stößt man hingegen auf die Vertreter
der alpinen Kleintierfauna. Goldglänzende, kupferbraune oder blau bepanzerte Laufkäfer
eilen hastig durch das kurze Gras der Matten, rundliche Pillenkäfer, schwarze Aaskäfer und
Gebirgsschnecken verschiedenster Art bevölkern den steinigen, flechtenbewachsenen
Boden.
Von Schmetterlingen sind es vor allem dunkelbraune Moorenfalter, graue Spanner,
scheckige Perlmutterfalter und rot betupfte Bluttröpfchen, die hier das Bild beleben. Von
tiergeographischem Gesichtspunkt besonders interessant sind manche Arten, die als
Überbleibsel des Eiszeitalters angesehen werden. Sie kommen heute nur noch in den
höchsten Gebirgen Mitteleuropas, den Alpen, Karpaten und Pyrenäen einerseits und im
Norden Europas, in der Tundra und Taiga andererseits vor, haben also eine arktisch-alpine
oder boreo-alpine Verbreitung. Dazu gehören unter vielen anderen die Alpen-Smaragdlibelle,
die ihre Larvenentwicklung in hochgelegenen Moortümpeln durchmacht, der Lappländische
Moorenfalter, der Karpaten-Perlmutterfalter, das Hochgebirgs-Bluttröpfchen u. a.
In den Südkarpaten gibt es besonders unter den Käfern und Schnecken zahlreiche
endemische Tierarten, d. h. Arten, die eine begrenzte Verbreitung in diesem Gebiet haben
und oft auf bestimmte Gebirgsmassive beschränkt sind. Sie tragen ausschließlich lateinische
Benennungen, da sie dem Nichtfachmann unbekannt sind und kaum zu Gesichte kommen,
wenn er nicht speziell nach ihnen sucht. Manche ihrer wissenschaftlichen Benennungen
widerspiegeln die lokale siebenbürgische Toponimie, wie die Gattungsnamen Cibinia und
Carpathica, die Artnamen Herita dacica, Alopia bogatensis, Campylaea faustina barcensis,
sarmizaghetusae, talmacensis, cibiniensis u.a. Andere tragen die Namen ihrer Entdecker
oder bekannter siebenbürgischer Naturforscher, wie die Schneckengattung Bielzia, die
Käfergattung Deubelia, die Arten Alopia fussi, Duvalius kimakowicsi, Vitrea jickelii, Agardhia
bielzi romanica, nach den Forschern Eduard Albert Bielz, Friedrich Deubel, Karl Fuss, moritz
v. Kimakowics, Carl Friedrich Jickeli.
Einem der bedeutendsten von ihnen wollen wir hier auch das letzte Wort als Abschluss
lassen: „Gewährt es schon eine gewisse Befriedigung, aus der unendlichen Menge der
Insekten, oder der Naturprodukte überhaupt, diese und jene mit Namen benennen und aus
den anderen herausheben zu können, so ist es um so fesselnder, auch ihre Lebensweise
und ihre Wirkungen zu beobachten; es geht uns dann wie manchen Menschen, zu denen wir
uns je mehr hingezogen fühlen, je besser wir mit ihrer Denk- und Handlungsweise vertraut
werden. Die Natur wird so unsre Bekannte, und überall tritt uns die Gestalt eines
befreundeten Wesens entgegen“ (Karl Fuss, 1851).
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 76, S. 211 – 221)
Seite | Bildunterschrift |
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212 - 213 |
Aus der Vogelwelt der Hohen Südkarpaten:
Vögel am Bergbach:
1. Wasseramsel,
3. Tannenhäher,
12. Steinrötel,
14. Mornellregenpfeifer, |
215 | Bei den Lotru-Stromschnellen (1964) |
216 | Lurch oder Echse? – der Feuersalamander |
217 | Aglia tau – der Rotbuchenspinner |
220 | An der Waldgrenze im Fogarascher Gebirge |
221-o | Die Siebenbürgische Alpenrose, Rhododendron kotschyl |
221-ul | Sumpfdotterblumen |
221-ur | Die Schuppenwurz |