Wanderung durch das Naturschutzgebiet Şesul Craiului
von Erika Schneider
Am Südrand des Gilău-Gebirges, wo seine kristallinen Schiefer – als Hauptbausteine – von
kristallinem Kalk unterbrochen werden, haben Wasser und Wind wahre Meisterwerke
geschaffen. Es ist jener Winkel, wo der Runcu-Bach, vereinigt mit Belioara und Pociovalişte,
und der Poşaga-Bach nach gewonnenem Kampf mit den Felsmassen ihre Wasser dem Arieş
zuführen.
In jenem Winkel liegt, geheimnisvoll und sagenumwoben, eine steinerne Schönheit aus grau-
weißem Kalk: das Scăriţa- (oder Scărişoara-)Belioara-Massiv, eine mächtige Ruine einer
einst weit ausgedehnten Hochfläche, zerklüftet und durchfurcht, gemeißelt und gefeilt von
Wasser und Wind. Es ist nicht ein Riese unter den Bergen, denn seine Höhe beträgt nur
1353 m, doch vereinigt das Scărişoara-Belioara-Massiv auf seinem breiten Rücken und den
abfallenden Felswänden alle Schönheiten und Seltenheiten des mittleren Arieş-Gebietes.
Aus dem Arieş-Tal führt der Weg von Poşaga talaufwärts durch die Klamm des Poşaga-
Baches (Cheile Poşegii) nach Belioara, am Südrand des Scărişoara-Belioara-Massivs. Nahe
dem Dorfe wachen die Vulturese-Felsen (Colţii Vultureselor) und kurz darauf, auf der rechten
Talseite, der Bujor-Felsen (Muntele Bujor) als Vorposten größerer Felsburgen, die bald nach
Belioara vor uns liegen. Dort, wo sich in einer Höhe von 708 m die beiden Arme des
Belioara-Baches vereinigen und die Felsen umsäumen, türmen sich diese bis zu Höhen von
1350 m. Die vom Belioara-Bach fast senkrecht oder in Stufen aufsteigenden Felsen lassen
das Gebirge noch größer erscheinen. Doch sind die steinernen Wächter des Poşaga-Tals
nicht die einzigen Vorposten der großen Felsenburg, denn wählt man den Weg von Ocoliş
aus dem Arieş-Tal (460 m) durch das Runcu-Tal, begegnet man auch hier den stummen,
lebendigen Zeugen einer bewegten Vergangenheit. Kurz vor seinem Zusammenfluss mit
dem Runcu-Bach, beim Dorf Runc, zwängt sich der Pociovalişte-Bach durch eine enge, tief
durch die Felsen gesägte Klamm, die man nur zu Fuß durchwandern kann.
Sei es nun der markierte Weg durch das Runcu-Tal oder der durch die Pociovalişte-Klamm,
die die Höhe des Scărişoara-Belioara-Massivs in der Nähe der Cornu-Petrii-Spitze (1353 m)
erreichen, oder der Weg durch das Poşaga-Tal, überall sind die Felsklippen mit den
verschiedensten Pflanzen bunt geschmückt. Wo all diese Bäche ihren Ursprung haben,
ragen aus einem Kranz von Buchenwäldern die Felsklippen hervor. Am sanfter geneigten
Nordhang steigt der „Sleaman“-Wald mit Buchen und darin verstreuten Fichten bis an den
Rand der Hochfläche, genannt Şesul Craiului.
Von der Hochfläche schweifen die Blicke nach Westen hin zum Muntele Mare (1828 m). Ein
alter Markierungsstab weist in nordwestlicher Richtung zum oberen Runcu- und Vadu-Tal
und zur Băişoara-Hütte. Gegen Süden weitet sich das Poşaga-Tal und hinter dem tiefen
Einschnitt des Arieş erheben sich breit und behäbig, fast mauerartig, die weißen Kalkwände
des Bedeleu-Massivs. Ein Ausblick nach allen Seiten fesselt die Blicke, doch nur kurze Zeit,
denn vor uns auf der weiten Hochfläche und an den schroffen Felswänden, den Rinnen und
Geröllhalden, liegt der schönste Pflanzenteppich, ein an Schönheit kaum zu übertreffender
„botanischer Garten“.
Pflanzen der Voreiszeit, gepaart mit Eiszeitrelikten und Steppenpflanzen der
nacheiszeitlichen Wärmeperiode, die auch in der siebenbürgischen Heide vorkommen,
geben sich hier ein Stelldichein. Es ist ein buntes Durcheinander endemischer Arten sowie
von Pflanzen aus Nord und Süd, Ost und West. Viele von ihnen sind den Karpaten, dem
Westgebirge oder sogar nur den Kalkklippen von Scărişoara-Belioara eigene Pflanzen.
Dunkle, kleinere und größere Pyramiden tauchen aus dem Grase auf. Es sind vereinzelte
Waldkiefern (Pinus sylvestris), die hie und da in die blaugrüne, bunt gefleckte Blaugrashalde
eingesprengt sind. Schweift der Blick aber weiter, so erblickt man sie auch in kleineren und
größeren Gruppen. Im Osten des Şesul Craiului, über den stufenförmig abfallenden Felsen,
den so genannten „Scăriţe“ („Stufen“), hebt sich ein dunkles Wäldchen mit eingesprengten
Fichten vom weißen Felsgrund ab. Dieser kleine Kiefernwald, deren es noch einige wenige
an natürlichen Felsstandorten in den Karpaten gibt, ist ein Reliktwald der weit ausgedehnten
Kiefernwälder vom Ende der Eiszeit.
Auch an den steilsten Felswänden klammern sich die Wurzeln dieser Bäume fest an. Doch
da sind nicht nur Kiefern. Ein helleres Grün leuchtet uns entgegen. Kleine Gruppen von
Lärchen, mehr vereinzelt, kann man am Rande der „Groapa Mare“ erblicken. Unter der
Colţu-Negru-Spitze, im westlichen Teil des Gebirges, steht ein kleines Lärchenwäldchen, viel
kleiner als der Lärchenwald von Vidolm im Arieş-Tal, auf dem Weg von Ocoliş gegen Turda
zu.
Weite Blaugrashalden (aus Steifem Blaugras – Sesleria rigida) dehnen sich über die
Hochfläche des Şesul Craiului, besiedeln Felsbänder und Felsvorsprünge. Kleine rosa
Blüten auf zierlichen Stängeln, mit schmalen, spitz auslaufenden Blättern stehen zwischen
Blaugrashalmen und Steinen. Sie gehören einer endemischen Federnelke (Dianthus
simonkaianus) an, die nur aus diesem Gebirge bekannt ist. Zu ihr gesellt sich eine etwas
größerblütige Nelke, eine Abart der Nadelblättrigen Federnelke (Dianthus spiculifolius var.
petraeiformis), die auch nur in den Kalkmassiven der Karpaten heimisch ist. Die dritte im
Bunde, eine noch seltenere Pflanze, ist auch eine Federnelke (Dianthus Julii Wolfii). Ihre
Verbreitung beschränkt sich auf Poşaga de Sus und die Turdaer Schlucht.
Blaue, glockenartige Blüten ragen aus dem Grase heraus, eine endemische Akelei –
Aquilegia subscaposa –, die auch nur in den Bergen von Scărişoara-Belioara zu Hause ist.
Daneben steht eine bis 30 cm hohe Pflanze mit gelben, manchmal weißlichen Blüten, die
köpfchenförmig angeordnet sind. Es ist das Rosettige Leimkraut (Saponaria bellidifolia), das
in den Bergen Frankreichs, Norditaliens und der Balkanhalbinsel vorkommt, und in den
Karpaten an felsigen Stellen, nur in diesem Gebiet sowie an einer Stelle bei Herkulesbad,
wächst. Als voreiszeitliches Relikt gehört das Rosettige Leimkraut zu den Arten von
besonderer pflanzengeographischer Bedeutung.
Doch bietet dieser bunte Pflanzenteppich auch weitere Überraschungen. Dunkelgrüne,
lederartig glänzende Blätter überziehen stellenweise den Boden. Besonders am Rande der
Hochfläche, wo diese in Stufen zu breiteren und schmäleren Felsbänden abfällt, ist der
Pflanzenwuchs sehr dicht. Hier ist die Blaugrashalde von Bärentraube (Arctostaphylos uva
ursi) durchflochten. Sie gehört wohl, wie man aufgrund neuer Forschungen annimmt, zu den
voreiszeitlichen Relikten in diesem Gebiet und scheint balkanischen Ursprungs zu sein, ist
also nicht ein nördlicher Einwanderer der Eiszeit. Neben voreiszeitlichen Reliktpflanzen
wächst auch die Silberwurz (Dryas octopetala), ein Eiszeitrelikt, dessen einziger Standort
außer im Westgebirge in diesem Gebiet liegt. Rosettiges Leimkraut, Bärentraube, Silberwurz
sind einzigartige Bausteine des Pflanzenteppichs von Belioara. Doch zu den Besonderheiten
zählt auch das Alpen-Fettkraut (Pinguicula alpina), ebenfalls ein Eiszeitrelikt, das am
Nordhang des Scărişoara-Belioara-Massivs wächst.
Die Farbenpracht am Şesul Craiului bestimmen auch die Blüten des Wundklees (Anthyllis
vulneraria), die des roten Alpenklees (Trifolium alpestre), der Türkenbund (Lilium Martagon),
der Gelbe Lauch (Allium flavum), der Pannonische Schottendotter (Erysimum pannonicum),
die Kugel-Teufelskralle (Phyteuma orbiculare), die Alpen-Aster (Aster alpinus), die Blaudistel
(Carduus glaucus), eine balkanische Art, die Filz-Flockenblume (Centaurea triumfetti), mit
ihren filzig-weißen Blättern und den blau-roten Blütenköpfchen, die Purpur-schwarze
Flockenblume (Centaurea atropurpurea), eine im Westgebirge – Munţii Apuseni –
endemische Flockenblume (Centaurea reichenbachioides –f. dacia), eine südliche
Himmelsschlüsselart (Primula columnae) und viele andere. Im Mai schmücken die blauen
Kelche des Großblütigen-Enzians (Gentiana clusii) die Matten am Şesul Craiului. Auf kleinen
Vorsprüngen, Felsbändern und in Spalten vermehrt sich das bunte Pflanzenmosaik noch mit
vielen karpatisch-balkanischen Felsenpflanzen.
Große Geröllhalden reichen bis zum Fuß des Gebirges. Auf diesen gedeiht der wärme- und
kalkliebende Berggamander (Teucrium montanum), eine südliche Art, zusammen mit
zierlichem Schillergras (Koeleria gracilis), Wimper-Perlgras (Melica ciliata), Fiederzwenke
(Brachypodium pinnatum), dem rundblättrigen Siebenbürgischen Thymian (Thymus
comosus), einem niederliegenden Tragant (Astragalus monspessulanus), der vor allem auf
den Steppenhängen des siebenbürgischen Hügellandes anzutreffen ist, mit den leuchtend
gelben Stauden des Schwärzlichen Geißklees (Cytisus nigricans), der Großen Kuhschelle
(Pulsatilla grandis), Sibirischer Glockenblume (Campanula sibirica), Strahlendem
Schuppenkopf (Cephalaria radiata), Ästiger Zaunlilie (Anthericum ramosum), Johanniskraut
(Hypericum perforatum) und vielen anderen.
An mehreren Stellen der Geröllfelder, wo diese schon etwas gefestigt sind, ist der bei uns
seltene, an Kalkfelsen gebundene Stinkende Wacholder oder Sadebaum (Juniperus sabina)
anzutreffen. An feuchten Stellen, am Fuße der hochstrebenden Kalktürme gedeiht das
Glaskraut (Parietaria officinalis) in großen Beständen.
Wo man auch hinsieht, hat jedes Plätzchen seine Eigenheit, seine Welt, die dem großen
Bauwerk der Natur eingefügt ist.
Şesul Craiului – ein sagenumwobener Name eines Fleckchens Erde von besonderer
Schönheit!
Erfüllt von all dem, was dieses Naturschutzgebiet in sich vereint, versucht man, etwas davon
mit der Kamera einzufangen. Lässt sich aber so viel Schönheit im Bilde festhalten oder
bewundert man die bunte Vielfalt der Pflanzenwelt in freier Natur, freut sich ihrer und nimmt
das schönste Bild dann als Erlebnis mit?
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 76, S. 234 – 242)
Seite | Bildunterschrift |
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235 | Blick auf das Scărişoara-Belioara-Massiv vom Dorfe Beliora. |
236-o | Blick vom Şesul Craiului nach Südosten ins Poşaga-Tal. Jenseits vom tiefen Einschnitt des Arieş-Tales erhebt sich fast mauerartig das Bedeleu-Massiv. |
236-u | Die Purpur-Schwarze oder Dunkle Flockenblume (Centaurea atropurpurea), eine Pflanze, deren Hauptverbreitung im westlichen Balkangebiet liegt wächst auch auf den Felsen von Scărişoara-Belioara. |
237 | Die Hochfläche Şesul Craiului, die Felswände, Rinnen und Geröllhalden bergen einen an Schönheiten kaum übertroffenen „botanischen Garten“. Im Osten des Şesul Craiului (oben links) hebt sich ein dunkles Kiefernwäldchen vom weißen Felsengrund ab. |
238-239 |
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240 | Auf dem Weg zur Băişoara-Schutzhütte durchwandert man die Straußgras- Rotschwingelwiesen des oberen Runcu-Beckens, wo die Heuhäuschen wie Spielzeuge in der Landschaft liegen. |