von Eduard Stoof
In keinem Fachbuch der Musik trifft man auf ihren Namen. Zu ihren Ehren gab’s noch keinen
donnernden Applaus, denn ihr Publikum ist auserwählt, nur wenige sind’s, die sie hören
konnten in ihrer unvergleichlichen Erhabenheit. Ihre Konzerthalle ist der größten eine, die
schönste Freilichtbühne, denn ihre Szenerie ist nicht Kulisse, sie ist jahrhunderttausende
alter Fels, die im Halbrund um den wunderbaren See und Kessel liegenden Riesen des
Paringmassivs. Die Künstler der Gâlcescu-Sinfonie aber heißen Wind und Sturm, Klippe,
Spalt und Riss.
Mit vierzig Pferden unter der Haube schafft unser Geländewagen den Weg von Petroşani zur
Rusu-Hütte in einer knappen halben Stunde. Heute noch sollen unsere Zelte am kleinen
Paring stehen. Wir steigen stetig im Niedergang der Sonne. Dass wir sie heute zum letzten
Male sehen für viele Tage, das lassen uns die hohen Zirruswolken noch nicht ahnen. Oben
aber beginnt das gewohnte Treiben, wie es der Zeltbau mit sich bringt, wir kommen rasch
damit zu Rande, schon schickt das Feuer lautlos sein Geflacker in die Runde, die Zigarette
glüht, und wir lauschen dem Gebell der Hunde vom jenseitigen Hang, wo nach Berichten der
Hirten nachts der Bär sein räuberisches Wesen treibt.
Am Morgen stehen die Zelte feucht in der grauen Watte, dunkle Nebelschwaden wälzen sich
heran. Der Raum um uns wird eng und klein und schalldicht. So kann es dann geschehen,
dass Ilie einfach da ist, Ilie von der Skihütte Petroşani, er und Gyuri, sein Pferd. Er wird uns
ohne Fährnis über Cârja, Mândra und Coasta lui Rus zum See geleiten, versichert uns Ilie.
Gyuri lässt sich gutwillig die Rucksäcke querüber legen, wir steigen los. Zuerst durch
schütteren Fichtenwald, dann in sanfter Steilung höher, bis sich die Steilwand der wilden
Cârja vor uns aufbaut. Bewundernswert, mit welcher Sicherheit der kleine Gaul die vertrackte
Steilung nimmt. Wir haben Mühe nachzukommen, der dichte Nebel reißt an unseren Kräften.
Dann geht es wieder abwärts. Die Cârja liegt schon hinter uns und nun, nach abermaligem
bedeutend leichterem Steigen, stehen wir bei dem Mal, der Spitze der sonst so schönen
Aussicht bietenden Mândra. Heute aber sehen wir einen „Dreck“, wie Horst, der jüngste in
der Mannschaft, wütend feststellt. Blind haben wir diesen schönen Teil des Paring
durchwandert, und blind geht es nach kurzer Atempause durch den Nebel weiter. So blind,
dass nach etwa einer guten Stunde der brave Ilie mit ratlosem Gesicht erklärt, wir seien „daţi
dracului“ (zum Teufel) und „vai de capul nostru“ (es läuft nicht gut für uns), denn wo wir uns
im Augenblick befänden, „dracu o mai ştie“, das weiß der Teufel. Nun, Bezard-Kompass,
Karte und Schlüsse aus Wegstunden gezogen, überzeugen Ilie bald, dass auch die aus
Sibiu was wissen vom Gebirge. Wir haben den seit einer halben Stunde fälligen Übergang
über den Grat unterhalb der Coasta lui Rus verpasst. Umkehren und wieder hinauf – nur das
nicht im Gebirge! In nicht rosiger Laune erreichen wir den Grat, und siehe da, hier ist ja auch
die Markierung. Erleichtert folgen wir dem nun bedeutend besseren Pfad und sind auch bald
beim Tor, wo es steil und ziemlich schwierig abwärts geht zum ersten Kessel, zum kleineren
Gâlcescu-See. Dann durch Latschenfelder und endlich, am Ufer des großen Gâlcescu,
streben wir über den Abfluss, der Geburtsstätte des Lotru, zur anderen Seite, wo zwischen
Latschen in guter Deckung unsere Zelte stehen sollen. Wir schlagen sie auf, mit Mühe
zünden wir ein Feuer an, essen und kriechen in die Zelte. Und dann beginnt der Wind...!
Die Natur hat ihren Taktstock geschwungen, der Einsatz war ein gelindes, zischendes
Pfeifen in den langen Nadeln der Legföhren, wir hatten unsere Zelte vorsorglich auf eine
kleine Lichtung mitten unter sie gestellt. Der Ton kroch in die Höhe mit zunehmender
Windstärke. Ich musste hinaus, die Heringe sichern und die Verspannungen nachziehen,
denn die Zeltwände begannen zu schwappen, trotz der undurchdringlich scheinenden Mauer
der Latschen. Auch aus dem zweiten Zelt war einer hervorgekrochen, der tat wie ich, und
dann standen wir beide still und lauschten. Schwarz war die Nacht um uns und
undurchdringlich. Auch in der Höhe gab es keinen Wechsel zwischen Licht und Dunkel. Für
einen, dem die natur nicht Mutter war, der nicht zu Hause war in ihrem Schoß, gewiss
unheimlich wirkend im Zusammenklang: des Sturmes Pfeifen und Gejaule und das
schwappende Geräusch der wild ans Ufer schlagenden Wellen des Gâlcescu. Wir aber
suchten beruhigt wieder unsere Zelte auf, das Unsere hatten wir getan, nun sollten Wind und
Wetter tun nach ihrer Weise.
Seicht war der Schlaf und kurz für alle. Das erste Morgengrau fand uns schon alle auf den
Beinen, sogar ein kleines Feuer anmachen war gelungen, dampfende Teebecher machten
die Runde, mit klammen Fingern hielt ein jeder seinen heißen Becher an die Lippen. Es
wurde nicht gesprochen, und dennoch waren wir einig im Beschluss: Ein weitergehen von
hier kam vorerst nicht in Frage; nun waren wir schon seit einer Stunde wach, und immer
noch war die Dämmerung dieselbe. Der Abstieg zur Obârşia Lotrului bei diesem Wetter – er
könnte eine Katastrophe werden. Wir blieben, wir waren ausersehen, die größte aller
Sinfonien in einer Wucht zu hören, die uns erkennen ließ, dass alles menschliche Vermögen
zu gering ist, sie darzustellen und ließe man sämtliche Sinfonien der Welt auf einmal spielen.
Der Sturm, der um die Grate tobt, hat längst den Nebel aus dem Kessel aufgesogen, nun
aber ist der Eindruck noch gewaltiger, zum Ton gesellt sich Bild und Vision: Was da in allen
Tönungen zwischen schwarz und grau, in Wirbeln, Fahnen, Ballen über Kamm und Zacken
jagt, ist unbeschreiblich. Schneidend pfeifen die vom Sturm tief gebeugten Latschen, in der
Höhe aber dröhnt es wie aus ungeheuren Orgeln. Der Sturm wühlt sich in das weiche Bett
des Sees, treibt Wellen vor sich her wie aufgeschreckte Wasservögel, so, als wollte er den
Kessel trocken fegen. Die Dunkelheit nimmt plötzlich zu, und tiefschwarz wälzt es sich heran
in rasender Geschwindigkeit, es scheint nach uns zu greifen, der Höhepunkt der Sinfonie,
das Furioso, jagt hart über unseren Köpfen dahin, ... Gewitter! Zugleich mit ungeheurem
Donnerschlag fährt aus der gegenüberliegenden Steilwand oder dem darüber liegenden
Plateau ein ungeheurer, eosinrosa gefärbter Doppelblitz in gezackter schräger Bahn ins
unheimlich schwarze Gewölk hinauf. Kein Irrtum! Der Blitz fuhr nach oben, ich hab’s genau
gesehen! Dann aber kommt das Wasser. Vor seinem Rauschen aber schwindet jedes
andere Geräusch, die Saiteninstrumente, die Harfe, sie sind ertrunken, nur Trommelwirbel
und Paukenschlag haben noch ihren Part, in höllischem Duett wetteifern sie entfesselt mit
dem Rauschen, die Lichtorgel aber dieser ungeheuren Regie wirft rote und weiße Bündel
greller Strahlen in die Kulisse einer unwahrscheinlich erhabenen Szenerie – sind es Minuten,
sind es Stunden? – das Zeitmaß ging verloren, es schien, als sei’s der Anfang irgendeines
Endes.
Eine Stunde vielleicht liegen wir noch und lauschen diesem Aufruhr der Elemente, dann aber
werden die Pausen zwischen den Paukenschlägen immer länger, immer leiser ward das
Rauschen der Tropfen auf dem Doppeldach des Zeltes, immer heller wird’s im Zelt, und auch
das Klatschen der Wellen an den Ufersteinen ist zum kaum wahrnehmbaren Geplätscher
geworden. Dann stehen wir in der Sonne. Unendlich klar ist die Sicht, die Farbkontraste im
Gefels sind kräftiger geworden, das Grün der Latschen und der niederen Gewächse ist
unwahrscheinlich satt, die an die Felsen geklebten Flechten aber sind nun voll gesogen, ihre
Ränder haben sich gehoben , sie bilden kleine Schüsselchen, in denen nun unendlich klare
Wassertropfen, kleine gläserne Kügelchen liegen.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 76, S. 111 – 113)