von Ingmar Weiss
Nähert man sich Braşov von Norden, Süden, Osten oder Westen, immer ist es die
Bergkuppe der Zinne, die auf die Nähe der Stadt aufmerksam macht. Am Rande des
Burzenlandes, inmitten der Ausläufer des Schuler gelegen, erhält die „Stadt unter der Zinne“
ihr eigentümliches Gepräge zum großen Teil durch diese Anhöhe. Mehr aber als ein bloßer
Ausläufer des Schuler ist die Zinne eine markante Persönlichkeit unserer reichgestalteten
Bergwelt.
Man ist es gewohnt, die Zinne von unten aus der Perspektive der Zinne, zu betrachten. Zur
Abwechslung stellen wir Ihnen die Zinne aus dem Blickpunkt ihrer selbst, d.h. ihrer eigenen
Geschichte vor.
Unsere Geschichte nimmt vor rund 140 Millionen Jahren ihren Anfang. Wir befinden uns am
Ende des Jura, in vollem Erdmittelalter. Siebenbürgen ist Meeresboden, aber hier, an der
Stelle, wo heute die Zinne über der Stadt aufragt, ist das Wasser nur wenige Meter tief, klar
und warm. Unter diesen Bedingungen können die winzigen Blumen- oder Korallentierchen
ihr Werk beginnen. In jahrtausendelanger, geduldiger Arbeit entsteht ein Korallenriff mit
seiner ungeahnten Vielfalt an Lebensformen, so wie wir es heute nur aus tropischen Meeren
kennen.
Doch dann muss das Meer weichen.
Im Tertiär falten sich die mächtigen Ablagerungen des Meeresbodens auf und bilden den
Gürtel der Karpaten. Unser Korallenriff wird mit emporgehoben. Unter dem Druck der in
Bewegung befindlichen Erdschichten entsteht aus dem bizarren Geäst der Korallen und aus
den Kalkschalen der Schnecken, Muscheln, Krebse, Moostierchen u. a. gepanzerter
Meeresbewohner ein kompaktes Gestein. Die Geologen nennen den Vorgang Diagenese.
An den diagenetisch veränderten und von Wind und Wetter zernagten Kalkfelsen der Zinne
sind die reichhaltigen Strukturen des ehemaligen Korallenriffs kaum noch zu erkennen.
Dennoch gelingt es dem Paläontologen anhand der wenigen, aber typischen Abdrücke und
auf Grund versteinerter Schalen, Alter und Herkunft des Berges zu bestimmen.
Wir aber stehen heute auf dem 960 m über dem Meeresspiegel ragenden Felsen der
Zinnenspitze, genießen die grünende Weite des Burzenlandes und die schroffen Höhenzüge
des Königsteins, Schuler, Hohensteins und Krähensteins rings umher, der Vorstellung des
Meeresbodens einer längst verflossenen Flut weit entrückt.
Verlassen wir die Aussichtswarte der Spitze und verfolgen den Kammweg nach Osten,
stoßen wir auf den steilen, stadtabgewandten Abhängen der Zinne abermals auf Zeugnisse
einer fernen Vergangenheit. Diesmal ist es der Botaniker, der ihre sprießenden und
blühenden Aussagen entschlüsselt und unter den Vertretern der Zinnenflora die Relikte einer
einstmals in Südosteuropa weit verbreiteten Steppenvegetation entdeckt. Es sind Überreste
der nacheiszeitlichen Wärmeperiode, die heute nur noch an wenigen, sonnigen Steilhängen
anzutreffen sind und daher als floristische Kostbarkeiten gehegt werden. Schon seit dem
Jahre 1908 ist die Zinne, ihrer einmaligen Pflanzenwelt wegen, Naturschutzgebiet, eines der
ersten des Landes.
Aus der Fülle der hier vorkommenden Seltenheiten sei in erster Linie die Zwerghyazinthe
(Hyacinthella leucophaea) erwähnt, die in der Steinsteppe der Dobrudscha beheimatet, hier
ein inselartiges Reliktvorkommen aufweist. Als besondere Zierde der Zinnenflora sei der
Diptam (Dictamnus albus) mit seinen aromatisch duftenden Blütenkerzen, der Spaltblättrige
Rittersporn (Delphinium fissum) und der Türkenbund (Lilium martagon) genannt. Auch die
bleiche Osterluzei (Aristolochia pallida) und die sehr seltene Zarte Schachbretttulpe
(Fritillaria montana) sind hier noch anzutreffen. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen, da
Julius Römer bereits 1892 auf der Zinne nicht weniger als 555 verschiedene Pflanzenarten
nachgewiesen hat.
Wenn wir unseren Weg am Zinnengrat fortsetzen, über den in Stein gemeißelten
Treppenweg in den Sattel zwischen Zinne und Schneckenberg gelangen und von da am
Felsenweg auf die Burgpromenade wandern, wobei sich uns immer neue Blickpunkte auf die
Stadt eröffnen, werden wir in den schattigen feuchten Felsnischen auch das
Siebenbürgische Leberblümchen (Hepatica transsilvanica) an seinem erstmals
beschriebenen, klassischen Standort kennenlernen.
Mögen die weißen Zinnenfelsen seit Jahrmillionen ins Burzenland hinausragen, mögen auch
die seltenen Pflanzen seit undenklichen Zeiten auf den steilen Hängen Fuß gefasst haben,
so erhält die Zinne ihren einmaligen Charakter doch erst durch ihre innige Beziehung zur
menschlichen Geschichte.
Die am Fuße der Zinne, am Schneckenberg, zutage geförderten Überreste menschlicher
Siedlungen aus der Steinzeit künden davon, dass dieser Berg, der zum Wahrzeichen einer
modernen Industriestadt werden sollte, schon damals zum Verweilen und Wohnen anregte.
Seither ist die Zinne wohl ununterbrochener und unmittelbarer Zeuge menschlicher
Geschichte geblieben.
Mehr noch. Als in der bewegten Zeit der Völkerwanderungen und Türkeneinfälle das Leben
draußen in der Ebene gefährlich wurde, ist die Zinne durch ihre schwer erklimmbaren Hänge
und durch den strategischen Fernblick, den sie gewährt, selber zu einem Brennpunkt der
Geschichte geworden. Wählen wir zum Abstieg in die Stadt weder Kamm- bzw. Treppenweg,
noch den breiten Serpentinenweg, sondern wenden uns von der Spitze nach Westen, um
über den „Rittersteig“ die Stadt zu erreichen, dann stoßen wir auf halbem Wege zwischen
Spitze und Zinnensattel, auf der Höhe der zur Stadt hin steil abfallenden Felsengruppe der
„Kleinen Zinne“, auf die Überreste der Brasoviaburg. Das Geheimnis ihrer Entstehung haben
die heute noch sichtbaren, einst 23.000 m² umschließenden Außenmauern, die Überreste
des Burgbrunnens und auch die erst 1933 wieder zutage geförderten Grundrisse der kleinen
Wohnbauten und der Burgkapelle, eine dem Heiligen Leonhard geweihte romanische
Basilika, bisher noch nicht verraten. Sicher ist nur, dass die Burg, vor der mittelalterlichen
Stadt entstanden, zur Zeit feindlicher Einfälle (auch nach der Gründung noch), d.h. seit
Beginn des XIII. Jahrhunderts, als Fliehburg diente.
Nach dem Erstarken der Stadt, vor allem durch den Ausbau der eigenen
Verteidigungsanlagen, verlor die Burg auf der Zinne ihre Bedeutung und wurde demzufolge
schon 1453 größtenteils abgetragen, wobei ihre Steine unten im Tale bei der Verstärkung
der Stadtmauern neue Verwendung fanden.
Im Schutze der Befestigungsmauern blühte die Stadt unter der Zinne in den darauffolgenden
Jahrhunderten auf, wuchs aus dem Kranze ihrer Mauern hinaus und begann ihrerseits den
Berg zu umkränzen, aus dessen Vogelperspektive sich heute diesseits des Kammes der alte
Stadtkern mit seinen engen, von der Schwarzen Kirche beherrschten Gassen, jenseits aber
die ausgedehnten Industrieanlagen und modernen Wohnviertel den Blicken unterbreiten.
Der Berg aber erlebt als altes Wahrzeichen, inmitten dieser wachsenden Stadt ein noch nicht
abgeschlossenes Kapitel seiner Geschichte: Tourismus und Technik fassen auf den
schroffen Kalkzinnen Fuß und prägen sein Aussehen.
Nicht mehr als zwei Minuten benötigt die neugebaute Gondelbahn, um täglich Hunderte
Schaulustiger auf die aussichtsvollen Höhen des Berges zu schweben. In der einem
Schwalbennest gleich an den Felsen geklebten Gaststätte unter der Spitze erwartet den
Aussichtsmüden Imbiss und kühler Trunk.
Und die Zukunft wird weiterbauen.
Die Geschichte des einstigen Korallenriffs wäre unvollständig, wollte man die Sage
vergessen, welche die Bewohner der Stadt ihrem Berg zudichteten.
Ein Student soll es hier gewesen sein, der an einem sonnigen Frühlingstag, dem Gesang
eines Vogels folgend, die Höhe des Berges erklommen. Am Eingang der Felsengrotte,
unmittelbar unter der Spitze, begegnet dem Zinnenbesteiger ein Zwerg, bereit, diesem die in
der Grotte gehüteten Schätze des Berges zu zeigen. Doch die Bedingung wird gestellt: die
Schätze dürfen nicht berührt werden! Der Student kann aber der Versuchung nicht
widerstehen. Zur Strafe verfällt er in einen hundertjährigen Schlaf. Wieder erwacht und in die
väterliche Stadt zurückgekehrt, ist ihm alles entfremdet, er selber ein Greis.
Die Naturschätze sind Wirklichkeit.
Der mahnende Zeigefinger des Berggeistes ist auf den gelben Tafeln des Naturschutzes
anwesend.
Wer aber fasst heute schon diese Sage als Gleichnis auf?
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 75, S. 204 – 209)
Seite | Bildunterschrift |
---|---|
204 | ohne Titel |
206 |
(a) Siebenbürgisches Leberblümchen,
(b) Bleiche Osterluzei, (c) Zwerghyazinthe, (d) Türkenbund, (e) Zarte Schachbretttulpe, (f) Spaltblättriger Rittersporn |
207 | Die Zinne: (1) Kammweg, (2) Treppenweg, (3) Burghals, (4) Felsenweg, (5) Burgruine, (6) Zinnensattel, (7) Rittersteig, (8) Burgpromenade, (9) Ragadotal, (10) Zum Schuler, (11) Serpentinenweg, (12) Gasthaus |
209 | Mit der Seilbahn auf die Zinne. |