Ein Blick in die geologische Vergangenheit
von Dr. H. G. Kräutner
Ein Rundblick von hohen Karpatengipfeln, ein Aufstieg durch das Felsengewirr steiler Hänge oder eine stille Ruhestunde im kühlen Walde mag wohl manchem Wanderer die Frage aufkommen lassen: Wann und wie entstanden die Gesteine und felsigen Höhen der Karpaten?
Durch mühsame Arbeit mit Hammer, Lupe und Mikroskop gelang es den Geologen schon in
den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts, die Entwicklungsgeschichte der Karpaten aus
den Sedimentablagerungen, in welchen versteinerte Zeugen ehemaliger Tier- und
Pflanzenwelt erhalten blieben, bis zum Ende des Paläozoikums bzw. zur Anfangszeit des
Mesozoikums abzulesen. Unserem heutigen Wissensstand gemäß beträgt diese Zeitspanne
ungefähr 300 Millionen Jahre. Damit war jedoch die Bildung der Gesteine, aus denen die
Karpaten aufgebaut sind, bei weitem noch nicht bis in ihre tiefste geologische Vergangenheit
verfolgt. Den älteren Gesteinen, so z.B. den kristallinen Schiefern, war ihre Bildungszeit nicht
unmittelbar abzulesen, da weit zurückliegende tiefgehende Umwandlungen die üblichen
paläontologischen Hinweise verwischt haben.
Heutzutage verfügt die Geologie über moderne Methoden zur Altersbestimmung. So kann
z.B. der Zerfall der radioaktiven Isotope des Kaliums (40K) zu Argon (40Ar) plus Kalzium
(40Ca) und des Rubidiums (87Rb) zu Strontium (87Sr), oder das Isotopenverhältnis vom Blei
(207Pb/204Pb; 206Pb/204Pb) aus Mineralien und Gesteinen für die Bestimmung des Alters
des betreffenden Gesteins ausgewertet werden. Auch die temperatur- und druckbeständigen
Mikrosporen können Hinweise auf die Entstehungszeit älterer, metamorphosierter Gesteine
liefern.
Die Ergebnisse dieser physikalischen und palynologischen (Sporen-) Forschungen weisen
darauf hin, dass der Werdegang der Gesteine, welche die Karpaten aufbauen, sich während
einer Zeitspanne von 900 Millionen Jahren in vier Hauptetappen vollzogen hat. Jede dieser
Etappen entspricht weltverbreiteten Ablagerungszyklen und Orogenesen (Gebirgsbildungen).
Die erste Entwicklungsetappe wurde von einer 800 Millionen Jahre zurückliegenden
Orogenese am Ende des mittleren Präkambriums abgeschlossen. Ihr entsprechen die
ältesten hochmetamorphen Gesteine der Karpaten.
Die zweite Etappe liegt 750 – 550 Millionen Jahre zurück und ist durch mächtige
Sedimentablagerungen und vor allem durch eine intensive vulkanische Tätigkeit
gekennzeichnet. Sie umfasst das obere Präkambrium und endet durch die spätassyntische
oder baikalische Orogenese im mittleren Kambrium.
Die dritte Entwicklungsperiode umfasst die Zeitspanne 500 – 300 Millionen Jahre. Sie
entspricht der paläozoischen Ära und wurde durch die herzynische Orogenese
abgeschlossen. Die Gesteinsablagerung war im Allgemeinen mannigfaltiger als in den
beiden vorangehenden Etappen und wurde im Devon und Unterkarbon sowie im Perm von
einem weit verbreiteten Vulkanismus begleitet.
Zurzeit befinden sich die Karpaten am Ende eines vierten Sedimentations- und
tektonomagmatischen Zyklus, und zwar am Ausklang der alpidischen Orogenese, die sich
von den Alpen über die Karpaten, den Kaukasus und Taurus bis in das Himalaja-Gebirge
erstreckt. Die Sedimentablagerung begann vor 225 Millionen Jahren, die erste Hauptfaltung
vor 100 Millionen Jahren. Durch schwache Spätfaltung vor 1,5 Millionen Jahren, Erlöschen
der vulkanischen Tätigkeit und ein ständiges Heben der Karpaten mit kompensierendem
Einsinken der Vorebene geht in der letzten Million Jahre, im Quartär, die alpidische
Orogenese ihrem Ende entgegen. Aus dieser Zeitspanne stammt größtenteils die Bildung
des gegenwärtigen Formenschatzes der Karpaten.
Die erwähnten wiederholten Abwechslungen von Sedimentation (Gesteinsablagerung) und
die darauf folgende Festlandbildung durch Orogenesen soll man sich nicht fälschlich an Ort
und Stelle des heutigen Karpatenlandes vorstellen. Kontinenten entsprechende ausgedehnte
Erdkrustensegmente befinden und befanden sich auch in geologischer Vergangenheit
ständig in einer durch erdinnere Bewegungen verursachten Migration. So muss man sich
z.B. vorstellen, dass durch Unterschiebung (Verschlingung) eines Krustenteils unter den
Karpaten und durch die dabei verursachte Einengung des Karpatenraums durch
Gesteinsauftürmung (Deckenbau) die Entfernung zwischen einem außerhalb und einem
innerhalb der Karpaten liegenden Punkt (z.B. Braşov und Moskau) in den letzten 100
Millionen Jahren um mehrere hundert Kilometer zusammengeschrumpft ist, das dadurch
entstandene Krustendefizit jedoch an anderer Stelle, durch Neubildung ozeanischen
Grundes, ausgeglichen wurde.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 74, S. 44 – 46)
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45 | Tăul Tapului im Retezat-Gebirge. |