von L. G.
Unlängst kam mir dieses Bild (ein röhrender Hirsch) unter die Augen, und da fiel mir eine
teils heitere, teils ärgerliche Begebenheit ein, die sich während eines Gebirgsausflugs
ereignet hatte. Es war Ende September, und wir zogen zu fünft frohgemut lichten
Bergeshöhen entgegen. Die warme Sonne, der tiefblaue, wolkenlose Himmel, die bunte
Herbstpracht und das lockende Ziel: die Felsenburg des Hohenstein, versprachen einen in
jeder Hinsicht schönen Tag. Wer hätte auch Böses ahnen können!
Eine Wanderpause wurde neben der Abzweigung des Familienwegs eingeschoben, die
durch die Bärenschlucht zum Leiterweg führt. Plötzlich erscholl im Tal ein undefinierbares
Gebrüll. Während die einen ihm keinerlei Beachtung schenkten, fragten unsere zwei
Ängstlichsten sofort misstrauisch: „Was war das?“ Gespannte Aufmerksamkeit! Wird „es“
näher kommen? Da! Wieder hörte man es brüllen. „Das werden wohl Hirsche sein“, sagte die
Gleichmütigste. Ja, prosit! Wie kann man ängstlichen Leuten zumuten, sich mit einer so
einfachen Erklärung zufrieden zu geben? „Das sind Bären“, jammerte der eine Angsthase,
und der andere konnte nur noch flüstern: „Kommt schnell weg von hier...“.
So zog man weiter, bergauf, weg von der Schlucht mit dem so ominösen Namen. Aber die
gute Laune war weg. Gespitzte Ohren und Fluchtbereitschaft kennzeichneten die
Ängstlichen, Neugierde die Unentwegten. Da! Vor uns im Wald, ganz nahe, brüllte es wieder.
Im selben Moment hatten unsere beiden Hasenfüße schon kehrt gemacht und strebten
käseweiß bergab. Mit Mühe brachten wir sie wenigstens zum Stehen, in der Hoffnung, der
Hirsch werde sich zeigen, was die Gemüter beruhigt hätte. Aber die lauten Stimmen hatten
das arme Tier schon längst verjagt. Was tun? Die einen wollten trotz allem weiter, die
anderen wiederholten stur: „Kommt zurück! Sicher ist sicher!“ Umsonst alle unsere
Versicherungen: „Es sind röhrende Hirsche, im September ist die Brunstzeit.“ Umsonst auch
alle Überredungsversuche... Also musste Rückzug geblasen werden – für alle! Konnte man
denn zwei vor Angst schlotternde Menschenkinder allein lassen? Nun, Segenswünsche
waren es nicht, die einige von uns in den Bart murmelten. Es klang ehe wie „vermasselter
Ausflug.“
Weiter unten, an einer Quelle, wurde erneut beratschlagt. Die „Gefahr“ lag nun hinter uns.
Könnte sich die Gruppe nicht doch noch teilen? Eine der Mutigen entschloss sich, bei den
„Heimkehrerinnen“ zu bleiben – als Schutz sozusagen. Also zogen die übrigen nun allein los,
zwar noch ein wenig verärgert ob der verlorenen Zeit, aber immerhin schon wieder
beschwingten Schrittes. Die schönen Ausblicke ließen sie jedoch auch das letzte Fünkchen
Ärger bald vergessen ... Der Hüttenwirt aber musste lachen, als er hörte, dass ein röhrender
Hirsch imstande war, Ausflügler ins Bockshorn zu jagen.
Spät abends erst kehrten die beiden Wandervögel heim. Sie waren müde, aber zufrieden.
Der Tag hatte schließlich – wenn auch nur für sie – doch noch gehalten, was er versprochen
hatte.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 74, S. 155 – 157)
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155 | ohne Titel |
157 | Bei der Bärenschlucht. |