von Alfred Schuster
150 km, dreieinhalb Autostunden nordwestlich von meiner Haustüre und trotzdem mein
Hausberg.
Aus meinem Fenster sehe ich ihn nur mit dem geistigen Auge, so wie ich ihn als Kind zum
ersten Mal vom Fogarascher Kamm gesehen habe, eine Pyramide über hellgrauen Wolken,
das Matterhorn meiner Träume.
Jahre vergingen, bis es mir gelang, meinen Traumberg zu besteigen. Ich näherte mich ihm
zum ersten Mal von Süden her. Da sieht er nicht mehr grau und spitz aus, sondern ist weiß
und breit, seine entfernte Eintönigkeit wird nur von einer Scharte unterbrochen. So sah ich
alles aus dem dahinklappernden Bus, der heute leicht über ein glattes Asphaltband rollt und
einen in einer Stunde aus Râmnicu Vâlcea nach Costeşti bringt. Haltestelle!
Straßenkreuzung! Alle Mann raus! Rucksäcke runter! Schneller. Der Fahrer ist ungeduldig.
Eine Staubwolke und wir stehen da und wissen nicht, wie die fast 10 km bis zum Fuß des
Berges leichter und schneller hinter uns zu bringen sind. (Heute fährt zweimal täglich ein Bus
von Râmnicu Vâlcea nach Bistriţa.)
Da, ein Bauer.
„Vânturariţa? Nie gehört!“
„Der Berg da hinten!“
„Ah, die Buila! Die Straße entlang, dann nach rechts bis Pietreni; was wollt ihr dort? Da gibt’s
nur Steine.“
„Los, Rucksäcke auf, der hat keine Ahnung, hört nur, Buila, sagt er, wo doch in allen
Büchern und auf allen Karten Vânturariţa zu lesen ist!“
Das Bistriţa-Kloster mit Tătărescus Fresken sehen wir uns an. Auch die Grabstätte Matei
Basarabs und das von ihm erbaute Arnota-Kloster sind einzigartig. Schlichtheit und Lage
beeindrucken uns gleichermaßen.
Dann schnell in die Bistriţa-Klamm, in der damals noch die schrillen Pfiffe der Decovil
(Schmalspurbahn) von einer Wand der anderen zugeworfen wurden. Endlich wandern wir,
die untergehende Sonne im Rücken, auf einem schmalen Pfad unterhalb des Steinbruchs in
Richtung Pietreni, dem Dorf am Fuße des Berges zu.
„Vânturariţa? Kennen wir nicht!“
Keiner im Wirtshaus hatte je von ihr gehört. Ich begann an meinem und am Verstand
anderer zu zweifeln, wo doch in jedem Buch und auf jeder Karte...
„Der Berg da, hinter dem der Mond aufgeht, wie kommt man da am besten hinauf?“
„Über Bărbăteşti auf dem Hirtenweg. Zwei Stunden von der Asphaltstraße im Tal hinauf, und
dann noch zwei Stunden durch den Wald bis zur Poiana Văcăriei und dann noch eine bis zur
Stâna Buila.“
„Wir sind aber in Pietreni.“
„Lasst den, der ist aus Bărbăteşti. Von hier geht’s die Forststraße hinauf bis zum Cantonul
Prislop, so 6 – 7 km. Am Tag fahren auch Lkw hinauf, jetzt, bei Nacht, muss man zu Fuß
gehen, aber die Costeşti-Schlucht ist auch bei Mondschein schön.“
Das war damals, heute wissen auch die Einheimischen, dass ihre Buila von den „verrückten“
Städtern, die mit Rucksäcken auf die Berge steigen, Vânturariţa genannt wird. Nur ich weiß
nicht, woher die Vorfahren dieser „Verrückten“ den Namen Vânturariţa herhaben.
Bis zum Cantonul Prislop schafft es auch ein Dacia, ein VW, aber auch eine Mobra. Besser
und schöner ist es, wenn wir unsere blechernen Untertassen im Dorf lassen und zu Fuß
weitergehen. Ärzte meinen, es sei das einzig sichere Medikament gegen Herzinfarkt.
Vom Cantonul Prislop führt rechts eine Forststraße ins Curmătura-(Buila-)Tal und von dort
ein guter Pfad. In einer Stunde erreicht man die Quelle mit der Troiţa am Rande einer
Waldwiese. Von hier geht es steil über die Wiese hinauf, der Hirtenweg bleibt unter uns und
in 5 Minuten steht man in der Curmătura Builei, 1540 Meter hoch. Eine der beiden Stâne hat
einen Raum auch für Gäste. Wer nicht in der Stâna übernachten will, kann sein Zelt hundert
Meter weiter in Richtung Quelle aufschlagen. Nicht weit vom Zeltplatz, 60 – 70 Meter im
Wald (Richtung NE) bietet ein großes Felsdach ebenfalls ein trockenes windgeschütztes
Nachtlager.
Länger, aber schöner ist der Aufstieg über den Südhang. Am oberen Dorfrand zweigt ein
Weg rechts ab, von dessen Ende es auf dem rechten Pfad weitergeht. immer parallel zum
Pârâul Sec, mal unter, dann wieder über vom Wind umgekippte Bäume hinweg, bis zum
Bărbăteştilor-Hirtenweg.
Von der Quelle geht’s zuerst steil hinauf, dann durch einen „heißen“ Buchenwald über zwei
Waldwiesen. Achtung, Brennnesseln! Schon sind wir bei der Stâna din Poiana Văcăriei.
Weiter geht es zum Muntele Cacova und dann immer den Kamm entlang. Den Einstieg zum
Weg in der Nordflanke findest du, lieber Leser, kaum und dabei ist es gar nicht schade, denn
der Weg bleibt im Wald und öffnet sich fast nie zu freier Sicht. Von oben genießt man den
Blick zum Hauptkamm sowie das Panorama des Căpăţâna-Gebirges, und wenn es sehr klar
ist, sieht man im Westen bis zum Parâng- und Vâlcan-Gebirge, und rechts unten liegt das
Oltenier Hügelland.
Ehe man es merkt, hat man die Pietrii-Spitze hinter sich und steigt durch einen Kamin,
Hududăul Mare genannt, in die Curmătura Builei ab, wo man im Sommer nicht gerade
gastfreundlich von einem oder einer ganzen Meute Schäferhunden empfangen wird.
Weiter geht es über die Buila-Spitze (1780 m) und die Stevioara-Zwillingsspitzen (1847 m
und 1843 m) bis zur südwestlichen Vânturariţa-Spitze (1885 m). Wer auch auf die NE-
Vânturariţa-Spitze will, muss sich noch eine Stunde lang durch dichtes Knieholz
durchkämpfen. Weiter ist es nicht ratsam, dem Grat zu folgen, da es gefährlich wird.
Vom Hauptkamm führen mehrere Hirtenstege in die Nordflanke bis zum Weg, der sich vom
Muntele Cacova zur Curmătura Comarnice hinzieht. Auf diesem Weg gelangt man gemütlich
zur Quelle unterhalb der Curmătura Builei.
Wer nicht denselben Weg zurückgehen will, wende sich nach Norden, den Plaiul Lespezile
entlang am Cantonul Groştii Bodeştilor und an der Stâna Lespezile vorbei, bis in die
Curmătura Govorei. Hier fällt nun die Entscheidung schwer. Geht’s über den Smeuraş (1988
m) am Forsthaus vorbei nach Malaia oder über die Preota- (1970 m), Gera- (1885 m), Folea-
Spitze und den Vârful lui Stan (1491 m) nach Brezoi hinunter? Beide Wege sind in einem
Tagesmarsch zu bewältigen, letzterer ist viel länger.
Die östlichste Spitze des Vânturariţa-Massivs ist die Claia Strâmba, obwohl der Stogşorul
und Stogul östlich des Pârâul Cheia noch zur Vânturariţa gehören.
Die Claia Strâmba ist ein Kletterparadies. Führen vom zweiten bis sechsten
Schwierigkeitsgrad sind da, und es macht Freude, einige Tage in den Wänden dieses
Zuckerhutes zu verbringen.
Wer nur klettern will, macht es sich leicht und fährt nach Olăneşti. Hier soll man nicht zu viel
Heilwasser trinken, wenn man gesund ist, denn jedes Gramm wiegt bergauf doppelt. Dann
geht es am besten per Anhalter bis zum Cantonul Mânzu (16 km) im Olăneşti-Tal. Von da
den markierten Weg über den Stogul zum Cantonul Cheia am Fuß der Claia Strâmba. Ein
Weg führt auch aus der Curmătura Comarnice herunter. Aber geben Sie Acht, sich nicht im
jungen Tannenwald zu verirren. Sollte es dennoch geschehen, suchen Sie links den Weg.
Gehen Sie unbedingt in die Cheia-Schlucht! Fast 2 km lang, 400 m tief und bis zu fünf Meter
eng. Sie ist die engste Schlucht der rumänischen Karpaten. 12 m Abseilstelle.
Nach Hause geht es über Olăneşti, nicht im Tal, sondern vom Stogul am Bergrücken immer
nach Süden, oder im Lotru-Tal nach Norden, über den Hădărău die Căprareaţa-, Bogdan-
und Gera-Spitze.
PS. Auf meinem Hausberg kann man wunderbare Skiwanderungen machen; Pistenfans, die am Abend ihren Schnaps an der Theke einer Schutzhütte trinken wollen, sollten ihn allerdings meiden!
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 74, S. 150 – 154)
Seite | Bildunterschrift |
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151 | Kartenskizze: Vânturariţa. |
152 | Blick zum Hauptkamm der Vânturariţa. |