Aber nicht das ist hier die Frage, sondern: Wo ist der Retezat am einsamsten?
von Georg Hromadka
Ist es wahr, was manche Leute sagen: dass auch in unseren Bergen der Touristenverkehr
sich hauptsächlich auf den „Magistralen“ abwickelt? Ja und nein. Übertrieben klingt das
„hauptsächlich“. Man muss aber zugeben: Die Zahl derer ist nicht gering, die in unsern
Hochmassiven auf ausgetretenen Pfaden von Hütte zu Hütte pilgern und sich einbilden, sie
erleben den Butschetsch, den Retezat. (Die Fogarascher Berge nennen wir nicht, denn auf
ihrem Kamm muss man sowieso, um weiterzukommen, in Richtung Hütte wandern – aber
das ist etwas anderes.) Denken wir nur an den Butschetsch: an den Menschenstrom, der
sich sonntags auf der „Hüttenmagistrale“ Vf. cu Dor – Babele hin und her wälzt. Verlässt
jemand die „Heerstraße“, um zu den (ein paar Steinwürfe nur vom breit ausgetretenen Weg
entfernten) Jepii-Gipfeln zu steigen? Kaum.
Was ist eine „Gebirgsmagistrale“? Meinen wir damit einen markierten Weg? Einen
kommoden Gebirgspfad? Eine Bergstraße?
Auch im Gebirge ist die Magistrale ein Hauptweg. Meist ist sie gut und ausgiebig mit
Wegzeichen versehen. Als klassisches Beispiel kann im Retezat die Trasse Pietrele-Hütte –
Bucura-See – Buta-Hütte angesehen werden, schon darum, weil sie keine Probleme stellt
und keinen hohen Schweißtribut fordert. In den meisten Fällen handelt es sich um uralte,
klug angelegte Hirtenwege, die noch vor wenigen Jahrzehnten keine andere Aufgabe hatten
als diese: die Bergbauern und ihre „Käsekarawanen“ rasch ans Ziel zu bringen. Aber welch
ein Funktionswandel in kurzer Zeit: Auf denselben Pfaden ziehen heute viel tausend
Touristen im Jahr gipfelwärts (so, als ob es nie anders gewesen wäre), die meisten mit dem
brennenden Wunsch, der großartigen Bergnatur ein echtes Erlebnis abzuringen.
Wer sich nun im Retezat davor hütet, auch nur einen Fingerbreit von der „Magistrale“
abzuweichen, wird sich zwar von der Erhabenheit der Granitburg einen Begriff verschaffen,
dem Eigensten dieser Landschaft aber wird er nicht auf die Spur kommen. Erst in der
Einsamkeit entlegener Gipfel, Kare und Seen, weit weg von der leider auch in unsern Bergen
um sich greifenden Wegwerfkultur, in direkter Auseinandersetzung mit den Steilwänden, den
Felshängen, den Geröllhalden, den Latschenfeldern (die zu überlisten nicht immer gelingt),
enthüllt das Gebirge sein wahres Gesicht.
Markierungen gibt es im Retezat, sieht man von den „momâi“, den Steinmännlein der Hirten
ab, erst seit einem Vierteljahrhundert. Heute sind alle wichtigen Wege bezeichnet. Aber nicht
alle bezeichneten Wege sind gefragt. Ein Beispiel: Auf dem dramatisch hochgehenden
„Tibetanerweg“ (Serpentinenweg zwischen Stâna din Râu und Custura) sieht man Wanderer
höchst selten. Dasselbe darf man vom Kammweg sagen, der sich von der Custura ostwärts
über die Gruniu-Kette zieht.
Es ist überhaupt seltsam, dass der südöstliche Bezirk des Retezat, eine Zone mit
hochinteressanten Objekten, so wenig Beachtung findet. (Möglich, dass der schwache
Zuspruch nur auf das Fehlen einer Schutzhütte im oberen Râu-Bărbat-Tal zurückzuführen
ist.) Seltsam und bedauerlich: denn hier ist das unvergleichliche Quellgebiet des Râu-Bărbat
mit seinen eigenartig geformten Gletscherkesseln und Seen, hier ragt die Gruniu-Kette
(Lanţul Gruniu) auf, die vielleicht schönste, gewiss fotogenste Gruppe des Retezat.
Von wo immer man die Gruniu-Kette betrachtet (ob aus der Ferne etwa von den Kalkbergen
Albele und Piule im Südwesten oder aus der Nähe vom Lănciţa-Rücken im Norden), sie
macht einen gewaltigen Eindruck: südseitig mit ihren mächtigen Buckeln (wie ein riesiger
Höcker sticht der Gruniu-Gipfel aus der Mitte hervor), nordseitig außerdem mit ihren sechs
oder sieben Hochkaren und ebenso vielen parallel abfallenden Bergrippen, nicht zuletzt auch
mit der bunten Palette ihrer Gesteinsfarben.
Wie gesagt, geht die Gruniu-Kette vom Vf. Custura, dem Südostpfeiler des Retezatgebirges,
aus (mit 2457 Metern ist die Custura der vierthöchste Gipfel im Retezat). Am anderen
(östlichen) Ende der Gipfelkette erheben sich der 2290 Meter hohe, kuppenförmige Vf.
Lazăru und dahinter die etwas unscheinbare, aber immer noch 2237 Meter erreichende
Văcarea (Custura Văcarea). Dazwischen ragen fünf weitere Zweitausender empor, einer
pyramidaler als der andere. Von West nach Ost sind es der Vf. Valea Mării (2383), der Vf.
Ciumfu Mare (2335), der Vf. Ciumfu Mic, der Vf. Gruniu (2300) und ein unbenannter Gipfel,
neuerdings auf „Gruniu II“ getauft (2289). (Zu den Gipfelnamen einige Bemerkungen: 1. Der
Gruniu wird nicht selten, auch von Hirten, „Gruiu“ genannt. 2. Anstatt Ciumfu hört man auch
„Cionfu“, „Ciumu“ oder „Ciungiu“. 3. Auf alten Karten finden wir „Văcăria“ statt richtig
Văcarea. 4. Unfug wird mit dem Namen des neben der Custura zweithöchsten Gipfels
getrieben. Man nennt ihn bald „Vf. Valea Mare“, bald „Vf. Valea Morii“. Der Gipfel heißt Vf.
Valea Mării. Die Bergbauern von Câmpu lui Neag nennen das von der Custura und dem
Valea-Mării-Gipfel ausgehende Tal „Valea Mării“, Mariental. Die Genitivform des
Frauennamens Mărie = Marie klingt in der Sprache der Bauern von Câmp dreisilbig: Mă-ri-i.)
Zum Gruniu steigt man (sofern man von Petroşani – Lupeni anreist) auf Wegen, die von
Câmpu lui Neag über die Zănoage zur Văcarea oder von Gura Pilugu Mic (unterhalb Câmpu
lui Neag) zum 1755 Meter hohen, etwas abseits gelegenen Vf. Pilugu Mare führen. Aber:
Wer wird schon gleich am Anfang der Bergfahrt die Beschwernis eines vielstündigen
Aufstiegs auf sich nehmen?
Wir fahren besser, wenn wir von der 1580 Meter hoch auf der Südseite des Massivs
gelegenen Buta-Hütte mit leichtem Gepäck erst nordwärts zum Plaiu-Mic-Sattel steigen
(rotes Kreuz, eine Stunde), von dort NO-Richtung auf die Custura nehmen (anderthalb
Stunden mit dem blauen Dreieck bis in die Nähe des Custura-Gipfels) und darauf ein kurzes
unmarkiertes Stück bis zum 2457 Meter hohen Gipfel zurücklegen (wo sich außer den
gewaltigen Aufbauten im Nordwesten ein erster Einblick in den Custura-Kessel mit seinen
berühmten Seen anbietet). Von hier aus führen zwei schwache Markierungen (gelbes Kreuz
und rotes Band) über die Gruniu-Kette, auf einem Weg, der nur beim Abstieg von der
Custura zum Valea-Mării-Sattel einige Schwierigkeiten macht, sonst aber völlig problemlos
dahinläuft. Für die Strecke Custura – Lazăru braucht man zwei Stunden.
Der Weg, ein Hirtenpfad in etwa 2200 Meter Höhe, umgeht die Bergspitzen. Es ist aber gut,
sich besonders beim Hinweg keinen der schönen Gipfel entgehen zu lassen. Filmartig
wechseln die Bilder von Hang zu Hang, Gipfel zu Gipfel. Während im Süden das Schiltal
(Valea Jiului) mit seinen weiten, besiedelten Almen und Talwiesen menschlich-mild gestimmt
ist, wogt es auf der andern Seite wild erregt. Steilumwandete Gletscherkessel liegen
nebeneinander, übereinander. Polychrom leuchtet das herrliche Gewirr der Geröllhalden,
Latschenfelder und Gemsweiden. Ein Rauschen, bald laut, bald leise, erfüllt die Atmosphäre:
Aus mehr als einem halben Dutzend Seen stürzt über die Karschwellen das Wasser ins Râu-
Bărbat-Tal.
Beim Rückweg darf man ohne weiteres in den Custura-Kessel steigen. Die Zeit erlaubt es.
Für den Einstieg, wählt man entweder die „Rippe“ des Ciumfu Mare, auf der wir erst nord-,
dann westwärts, auf den Kleinen Custura-See zu, steuern, oder die „Abfahrt“ vom Valea-
Mării-Sattel direkt zum Großen Custura-See (wobei die Abfahrt stellenweise, auf den
Schneefeldern zur Schlittenpartie wird). Eine große Stille herrscht da unten. Ist hier, am
Uferrand des höchstgelegenen Bergsees unserer Karpaten, der einsamste Punkt des
Retezat berührt?
Aus dem Kessel heraus kommen wir am besten über die Nordwestflanke der Custura. Vom
westlichen Rand des Riesenkessels noch einen letzten Blick zurück auf die beiden Seen, auf
die sieben Gipfel, und südwärts geht es hinunter zum Plaiu-Mic-Sattel. Früh genug erreicht
man das Quartier, so dass man sich beim Hüttenwirt noch rechtzeitig eine „mămăliga cu
brânză“ (Maisbrei mit Schafkäse) bestellen kann.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 74, S. 97 – 101)
Seite | Bildunterschrift |
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98 | Kartenskizze: Gruniu-Kette |
99 | Mittelstück der Gruniu-Kette von NW aus gesehen: deutlich hebt sich der zentrale Gipfelkegel des Gruniu heraus. |
101 | Leichter, als unser Foto zeigt, kommt man vom Valea-Mării-Sattel hinunter zum Großen Custura-See, dem höchstgelegenen Bergsee Rumäniens * (2270 Meter). |
* Nach neueren Erkenntnissen ist der Lacul Mioarelor (2282 m) im Fogarascher Gebirge Rumäniens höchster Bergsee. (Falk Kienas)