von Walter Kargel
Krähenstein – Ciucaş – heißt die Berggruppe zwischen Teleajen- und Telejenel-Tal im
großen Karpatenbogen, deren Gipfelfelsen aus Konglomeraten und stellenweise weißem
Kalkstein über Nadelwälder, Wiesen und Almen ragen. Und der jüngste (Wieder-)Entdecker
dieser Bergwelt heißt Andrei Vârlan, 17, Bukarester Mittelschüler und begeisterter Bergfex.
Schon mit 16 veröffentlichte er einen enthusiastischen Artikel in der Reisezeitschrift
„România pitorească“, die auch eine Doppelseite für Wanderer und Bergsteiger bereithält.
Schon bald kreuzte Andrei beim Refugio Coştila auf, wo er mit seinem frischen Kindergesicht
und der tadellosen, hypermodernen Kletterausrüstung mitten in die alte Klettergilde mit ihren
zerfransten Hosenboden wie eine Bombe hineinplatzte. Und bald kam der Sonntag, wo er
mich in den Ciucaş lotste.
Glühend heißer Bukarester Mittsommersamstagmittag. Eisenbahn. Ploieşti – Măneciu
Ungureni. Bus. Cheia. Dämmerung. Schwitzen. Muntele-Roşu-Hütte. Mitternacht. Ciucaş-
Hütte. Im Halbdunkel einer verrußten Petroleumlampe langt sich die Hüttenwartfamilie aus
einer phantastisch duftenden Pfanne Kebab (kleine Fleischstückchen) und Bratkartoffeln,
dazu Gurkensalat und Berliner Pilsner. Heißhungrig keilen wir uns zwischen die
abenteuerlich aussehenden Familienmitglieder, um in Reichweite der Pfanne zu gelangen.
Am Morgen bummeln wir lässig über die blühenden Almenrauschhänge zum Tigăilor-Sattel.
Jenseits des Sattels steht unser Felsenturm. Roland Welkens und Ion Coman, welche die
Erstbesteigung machten, nannten ihn Goliath und beschrieben ihren Weg in Comans Buch
„Alpinism – odinioară şi azi“ (Bergsteigen – früher und heute).
Nach dem im Buch veröffentlichten Bild erkennen wir den Einstieg und die Hakengalerie, die
quer nach rechts in den Kamin führt. An einem Holzkeil gesichert, turne ich über einen
Klemmblock und gelange durch ein Loch in eine Höhle. Andrei kommt nach, und dann
blicken zwei zweifelnd hinauf. Ein weiter Kamin, senkrecht bis überhängend, ganz hoch oben
ein Haken. Kamine sind nicht meine Leidenschaft. Zögernd beginne ich mich empor zu
stemmen, doch der wunderbar griffige Fels entzündet bald meine abgekühlte Kletterlust. Die
Tiefe nimmt rasch zu. Wenn du jetzt fliegst!!! Vor Anstrengung übersehe ich einen Bong, der
tief im Kamin steckt. Endlich der Haken. Er ist fest. Der Überhang. Ein Bohrhaken. Stand in
einer Höhle. „Nachkommen!“ Das ist die Stelle, wo es zwei Varianten geben soll: 1. eine
außen links unter dem Dach quer zu einer Scharte; 2. durch einen unmöglich eng
scheinenden Durchschlupf hinüber auf die andere Bergseite. Andrei lässt es sich nicht
nehmen, den Durchschlupf zu versuchen. Unendlich langsam robbt er über die abschüssige
Platte, bläst die Luft aus, um seinen schmächtigen Kinderkörper noch flacher zu gestalten,
und kommt durch. Nun bin ich dran. Ich bin ja auch nicht dick, doch bleibe ich stecken. Ganz
festgekeilt. Über mir der massive Block, groß wie das Hotel „Intercontinental“. Wenn er sich
jetzt ein paar Zentimeter tiefer setzt? Die Brusttasche des Anoraks hatte ich schon vorher
geleert. Nun streife ich auch noch das Seil von der Brust ab, Schlingen und Karabiner lege
ich beiseite und schiebe aus Leibeskräften, Andrei feuert mich mit Rufen an, ich überwinde
den toten Punkt. Der Rest ist Spiel. Sonne. Haken. Klettern. Sonne? Es donnert, dicke
Regentropfen, Wasser rieselt von den Überhängen. Mitten aus der letzten Seillänge seile ich
mich ab, und wir stehen an den Fels gepresst, um dem Regen zu entgehen. Pause. Rasch
hinauf. Da ist unter dem Gipfel ein letzter Überhang, ein letzter Holzkeil.
Das heißt, es sind zwei Keile, Zwillinge, um den breiten Riss auszufüllen. Ich betaste sie:
total morsch und lose. Vorsichtig ein Hammerschlag: sie drohen auseinander zugehen.
Frech eine Trittleiter hinein, ich mache mich ganz leicht und belaste sie: es hält. Rasch
hinweg! Strömender Regen beim Abstieg. Ich versuche, mich mit einem Plastikumhang
dagegen zu wehren. Andrei geht gleichmütig mit bloßem Kopf, im Pullover, der Regen rieselt
über seine Haare, in seinen Nacken. „Man muss den Regen rinnen lassen“, ist sein
Wahlspruch. „Er entspannt nach der Hochspannung des Kletterns“.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 74, S. 264 – 265)
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