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Einsamer Gipfel: Ciortea

von Erhard Mathias

Bei unseren Bergwanderern ist es schon fast zur Prestigefrage geworden, den Fogarascher Kamm „gemacht“ zu haben. So begeben sich in der Sommersaison bis zu hundert Touristen pro Tag von Hütte zu Hütte, alle auf dem Normalweg.
Kein Wunder, wenn da mancher Bergsteiger Sehnsucht verspürt, auch mal einen kühnen, einsamen Gipfel zu erobern. Einen Gipfel, dessen Wegmarkierungen nicht aus leeren Konserven und Plastiktüten besteht, wo statt Schafe in den Schrofen Gämsen klettern.

Schon innerhalb der ersten Kammetappe Surul – Negoihütte bietet sich ein abseits liegender Gipfel – die Ciortea (Hohe Scharte) als lohnender Abstecher. Im westlichen Randgebiet des Fogarascher Gebirges ist noch wenig vom späteren Hochgebirgscharakter zu sehen, man wandert meist über ausgedehnte, begraste Hochflächen. In diesem Kammteil ist die Ciortea die einzige Ausnahme. Mit vier Gipfeln überragt sie die 2400-Meter-Grenze und damit ihre „zahmen“ Nachbarn Surul, Budislav, Vârtopul Roşu, Gârbova und Scara.
Vorrausetzungen für die Besteigung sind Vorsicht (kurze Kletterstellen), Bergerfahrung und günstige Wetterverhältnisse!
In der Zeit des SKV (Siebenbürgischer Karpatenverein) scheint die Hohe Scharte ein beliebtes Ausflugsziel gewesen zu sein. Ein Kenner des Fogarascher Gebirges, Dr. B. Szalay, markierte am 4. August 1907 mit roter Miniumfarbe den Aufstieg aus dem Turmsattel, südöstlich über Geröllhalden aufsteigend, bis in die Einsattelung zwischen Westzacken und Mittelzacken.
Besser erhalten ist die Miniumfarbe aus dem Jahre 1934, als die mathematische Überquerung des Massivs, aus dem Seesattel in den Gârbovasattel, markiert wurde. Im Seesattel verlässt man den Normalweg, welcher sich zum Frecker See senkt, und verfolgt weiter den Hauptkamm. Bald erkennt man blassrote Punkte auf Felsen: die alte Markierung. Der schroffe Seeturm wird westlich umgangen, und man gelangt in den schartigen Turmsattel. Man überquert diesen und umgeht östlich einen Felsturm. Nun steht man vor der Wahl: Aufstieg 1907 oder 1934? Letzterer nähert sich, steil ansteigend, wieder dem felsigen Hauptgrat und überquert diesen in westlicher Richtung (Kletterstelle), es folgt eine Überquerung großer Geröllblöcke in südlicher Richtung, wobei eine senkrechte, von Kaminen durchzogene Felsstufe westlich umgangen wird. Man gelangt in eine anfangs steile, später immer sanfter werdende, begraste Rinne, in welcher man schnell an Höhe gewinnt. Plötzlich geht es nicht mehr höher, große Felsplatten, darauf ein zementierter Steinhügel bezeichnen den Ciorteagipfel, 2426 m. Der Gipfel bietet eine wunderbare, nach allen Richtungen unbehinderte Aussicht.
Die Ciortea besteht aus einem etwa 400 Meter langen, von drei Gipfelzacken überragten, von Spalten durchzogenen Felsplateau. Es ist von großen Felsplatten und Blöcken bedeckt. Die drei Gipfelzacken sind durch zwei leichte Einsattelungen getrennt. Die Plateauränder brechen alle steil in Felswänden ab.
Vom Westzacken zweigt in südwestlicher Richtung der Olanul ab, ein schartiger Grat, welcher in zwei Felszacken gipfelt (2380 m). Südlich davon wird der Grat sanft und weist einen grasigen Gipfel auf (2335 m).
Vom östlichen Teil des Gipfelplateaus zweigt der südöstlich verlaufende Mâzgavul (Kegelkopf) ab. Der anfangs schmale, schartige Felsgrat endet in einem kegelförmigen Gipfel, 2442 m (höchster Punkt!).
Südlich vom Kegelkopf treten an Stelle der Felsen Almwiesen. Dort hatte ich ein aufschlussreiches Gespräch mit einem alten Schafhirten aus Boişoara. Den Kegelkopf nannte er Vârful Molii. Weiter im Süden befindet sich eine große Wiesenfläche: Faţa lui Sfântu Ilie. Da wurden in alten Zeiten Volksfeste und Märkte abgehalten. Aus Muntenien und Siebenbürgen trafen sich rumänische Hirten und Bauern. Heute zeugen Tonscherben von einstigen Festen. Die Siebenbürger kamen zu Pferd über den Bârcaciu und den Scarasattel und setzten ihren Weg nach Süden in Richtung Mâzgavul fort. So kam es wohl durch Verwechslung zum heutigen Namen des vom Scarasattel östlich gelegenen Gipfels: Moscavul. Der rumänischen Sprache und des Ortes wenig kundige Vermessungsbeamte um die Jahrhundertwende sind vermutlich für die Verwechslung zuständig. Wahrscheinlich kannten sie die Bedeutung des Wortes „mâzgă“ (= Schlamm) nicht und so wurde auch noch obendrein aus Mâzgavul – Moscavul.
Noch eine Besonderheit hat der (richtige) Mâzgavul zu bieten: er stellt die Verbindung zu dem weit im Süden liegenden Cozia-Gebirge her.
Zwischen Olanul und Mâzgavul befindet sich der mit Gesteinstrümmern bedeckte Grohotişkessel (grohotiş = Geröll), einsam und unwegsam, deshalb von Gämsen bevorzugt. Der Abstieg vom Ciortea-Ostzacken in den Gârbovasattel findet über steile Grashänge statt, wobei der Grat immer links bleibt.
Auf halbem Abstieg tritt an Stelle der kristallinen Schieferplatten weißer Marmor, durchsetzt von silbrig glänzenden, strahligen Tremolitkristallen. Etwas für Mineraliensammler. Hier kann man den Hauptkamm in Richtung NW überschreiten, auf einem anfangs gut erkennbaren Weg, die alte Markierung ist stellenweise gut erhalten. Man erreicht schnell die zum Frecker See abfallende östliche Geröllhalde, auf welcher man in der Falllinie absteigt. Kurz oberhalb vom Seeufer stößt man auf den Normalweg.
Abschließend eine Bitte: Erweisen Sie sich diesem fast unberührten Flecken Natur würdig! Um besser verstanden zu werden: Im August 1973 säuberten wir, mehrere Salvamontmitglieder, den Frecker See, beliebter Rastplatz für Touristen; über 1000 (tausend) leere, rostige Konservenbüchsen wurden aus dem See „gefischt“!

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 74, S. 158 – 161)

Seite Bildunterschrift
 
159 Kartenskizze
160 Der Ciortea-Gipfel, vom Scărişoara-Grat gesehen.
161 Alte Markierung, man erkennt zwei „Verewigungen“ aus dem Jahre 1938.
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