home - Komm mit - 1974 - Die Schildwache vom Höllenschlund
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Die Schildwache vom Höllenschlund

(Sentinela de la Gâtul Iadului)

von Walter Kargel

September 1973. Unsere beiden Zelte, ein rotes und ein blaues, stehen im Hof eines bergsteigerfreundlichen Einheimischen zu Füßen des Altarsteins. Vom reichlichen Tau tropfnass ist das Gras, als wir um 5 herauskriechen. Amalia hat mir schon am Abend ein Päckchen für die Wand vorbereitet: Butterkipfel mit Aprikosenjam, Äpfel, eine Flasche Pflaumenkompottsaft. Wir trinken noch einen kalten Milchkaffee und ziehen los, Săndilă und ich, eingepackt in unsere Pullis und Anoraks, behängt mit blauen und roten Seilen, Karabinern und Trittschlingen. Der Weg zum Höllenschlund ist kurz, 2 km Asphaltstraße. Schon bald sind wir am Einstieg und verlassen die Straße, um die wenigen Meter über die Grasschrofen zur Felswand zurückzulegen.
Die erste Seillänge führt Săndilă. Er hat sich bereits den Klettergürtel angelegt und sich angeseilt, die Karas hängen griffbereit, die Steigleitern, der Hammer. Ich sichere, während er den Karabiner feierlich in den ersten Haken einschnappen lässt, Trittleiter und rotes Seil hinein – auf geht’s! Der zweite Haken. Kara, Trittleiter, blaues Seil. Die Finger tasten suchend am Fels, er findet einen Griff für die Linke, krallt sich fest, sucht einen Griff für die Rechte, krallt sich fest, er zieht den rechten Fuß hoch, versucht den Tritt, er ist gut, er setzt den Fuß auf, zieht den linken nach. Mit der Zeit erreicht er den Stand. Zwei Haken Selbstsicherung einhängen. „Nachkommen!“
Tritt für Tritt, Griff für Griff, steige ich Săndilă nach, hänge die Karas aus und sammle sie auf einer Schlinge. Erreiche den Stand und klettere über ihn hinweg. Nun führe ich, die zweite Seillänge. Dritte Seillänge. Săndilă führt. Eine Verschneidung empor, unter einem Überhang quert er nach links und verschwindet aus meinem Blickfeld.
Langsam gleiten die Seile durch meine Hände. Schluss. Die 40 m sind ausgeklettert. Das Tosen des Baches übertönt die Rufe. Ob er wohl den Stand erreicht hat? Ich hänge die Selbstsicherung aus und klettere nach. Der erste Holzkeil. Weiter. Vier Meter über dem Stand angle ich nach einem Griff. 1/100 Sekunde. Ein eine halbe Tonne schwerer Block löst sich, streift meinen Kopf und die linke Schulter und poltert zur Tiefe, explodiert, und eine Steinlawine rollte über die (zum Glück!) in dieser frühen Morgenstunde leere Straße. Ich hänge im Seil, finde jedoch rasch Halt und taste mich ab. Mein Kopf blutet, die rechte Hand blutet, der Anorak hat einen Riss abbekommen, nichts Ernstes. Noch eine Seillänge, zittere ich, dann bin ich wieder ruhig. Die Sonne ist da! Pulli und Anorak sind schweißdurchtränkt. Wir ziehen sie aus und binden sie um. Einen Schluck Saft, einen Apfel, ein Butterkipfel – weiter.
Abwechselnd führen wir. Wenn Săndilă führt, habe ich Zeit auf die Straße hinab zu blicken. Zuschauer haben sich angesammelt. Autos fahren die Straße hinauf und hinab. Die riesigen Dächer der Touristenamtbusse bewegen sich langsam wie Würmer, halten, Leute steigen aus und schauen hinauf, zeigen sich gegenseitig die Narren, die da oben herumkraxeln, fotografieren, steigen wieder ein, die Dächer setzen ihre Bewegung fort. Auch Amalia, der kleine Radu und Lia sitzen am Ufer des Bicăjelbaches und verfolgen unsere Bewegungen. Weder ist meine Reihe da, nachzusteigen, dann die nächste Seillänge zu führen. Viele Ringhaken haben offene, nicht verschweißte Ringe, dann wieder folgen Holzkeile mit alten Reepschnurschlingen, die schon 10 Sommer und Winter ausgehalten haben, die Hitze der Südwand, die für Nylon mörderische UV-Strahlung, die klirrende Kälte des Ostkarpatenwinters. Zögernd und zweifelnd hängen wir die Karabiner ein. Hält so ein Bindfaden im Falle des Falles?
Die senkrechte, gelbe Fluh folgt. Hakenleiter. 4 Seillängen kommen wir überhaupt nicht aus den Trittleitern heraus. Besonders eindrucksvoll ist ein Quergang. Ich hänge an zwei Haken. Über mir hängt wieder so eine dünne Reepschnur, einen Meter zwischen zwei wackeligen Haken gespannt, in der Mitte eine kleine Schlinge. Săndilă hängt nonchalant (sorglos) eine Trittleiter hinein und klettert darüber hinweg!
Der gelbe Fels geht in schwarzen über. Ich klettere einem Überhang zu, überwinde ihn, erreiche ein abschüssiges Grasband, wo ich mich hinsetze. Zweifel überkommen mich: es ist schon spät und die Wand noch lange nicht zu Ende. Kommen wir heute noch aus ihr heraus, oder gibt es ein Biwak? Ich bin durstig und hungrig und kann mich doch nicht entschließen, die „Vorräte“ aus der Anoraktasche gänzlich zu verschlingen. Müssen sie vielleicht bis morgen aushalten? Kompakter, weißer Fels folgt, wunderschöne Kletterei unter dem letzten, obersten Dach. Phantastisch ausgesetzt, riesig luftig, senkrecht über 200 m tief unter uns die Straße, wo es jetzt in der Abendstimmung wieder still geworden ist. Die letzten Sonnenstrahlen beleuchten den Fels und gegenüber die kleinen Häuschen auf den Wiesen von Bicăjel.

Plötzlich ist das letzte senkrechte Wandstück unter uns, wir stehen am Grat. In freier Kletterei turnen wir über den schmalen Felsgrat zum Gipfel. Gleich dahinter beginnt der Wald. In der Ferne im Osten erkennen wir den Ceăhlau, im Westen die Berge um Lacu Roşu. Und übergangslos beginnt es zu regnen. Durch den nassen Wald steigen und rutschen wir ab ins Tal, ziehen die Schuhe aus und waten durch den Bach zur Straße. Das Zelt! Amalia hat Bratkartoffeln und einen wunderbaren Salat aus Tomaten, Gurken und Paprika zubereitet. Wir sitzen noch lange am Feuer, trocknen unsere Sachen und erzählen von der Wand.

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 74, S. 102 – 104)

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103 Kargel-Karikatur
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