von Friedrich Thomas
„Fahren Sie doch in den Sommermonaten über den Braner (Törzburger) Pass! Verbringen Sie Ihren Urlaub in Podul Dâmboviţei!“ hatte mich vor Jahren ein Berufskollege ermuntert. Er stammte aus der Nähe von Câmpulung-Muşcel. „In Podul Dâmboviţei gibt es Wasser, Sonne, frische Luft“. Bald darauf haben wir dieser Einladung Folge geleistet – nicht einmal, sondern viele Dutzend Mal –, und immer wieder waren wir vom Reiz dieser Gegend entzückt. Kreuz und quer haben wir die Umgebung von Podul Dâmboviţei durchwandert, haben sie Schritt für Schritt für uns entdeckt.
Schwer lässt sich sagen, welche der alten Passstraßen in den Südkarpaten am
eindruckvollsten ist. In einer Hinsicht aber ist der Törzburger Pass allen anderen weit voraus:
ungehinderte Aussicht in eine herrliche Landschaft. Nicht in Tälern und Schluchten verläuft
die Straße, nein, sie schlängelt sich an den Hängen empor, erklimmt die Bergrücken,
überwindet insgesamt vier größere Höhenzüge. Bald fesseln die schroffen Westabstürze der
Bucegi, bald der schartige Kamm des Königsteins; dann wieder ruht der Blick auf der
formenreichen, tiefzertalten Măgura-Hochfläche oder auf den sanften, bis in den Spätfrühling
verschneiten Hängen der Leaota oder Păpuşa.
Mannigfaltig ist die Gegend entlang der Passstraße: hier schroffes Ödland, Karrenfelder,
bleiche Kalkklippen, knorrige windzerzauste Buchen, dort sanfte Linien, Bergwiesen und –
weiden, schlanke, silbrige Birken; Wassernot auf den Höhen, sprudelnde Quellen,
rauschende Bäche in den Tälern und Schluchten. Und in diese malerische Landschaft liegen
eingestreut – oft zierlich, oft stattlich, ja zuweilen richtige Wehrburgen bildend – die
zahlreichen Einzelgehöfte der Ortschaften Măgura, Peştera, Mânecuţa, Şirnea, Ciocanul und
wie sie alle heißen. Nicht vom spiegelglatten Asphaltband aus, nicht hinter dröhnenden PS
soll man diese Gegend kennen lernen und erleben. Man nehme sich Zeit, zu Fuß die Täler
zu durchwandern; das breite Măgura-Tal, das wasserreiche Tal der Sbârcioara, das endlose
Băngăleasa-Tal, die öde Valea Rogozii, die schroffe Valea Rudăriţei. Man scheue die Mühe
nicht, die Hänge zu ersteigen, die Ortschaften aufzusuchen. Abseits der großen
Verkehrswege konnte sich hier die eigenartige uralte Volkskultur fast unverändert bis heute
erhalten – eine vielseitige Hausindustrie, farbenfrohe Trachten, reichhaltige Bräuche. Zäh
sind die Bewohner, denn der Boden ist mager und durstig, das Klima rau. „In Şirnea
wachsen die Steine aus der Erde“, sagen die Einheimischen, und in Fundata erfährt man,
dass auf den Sommer unmittelbar der Winter folgt.
Steil fällt die Hochfläche nach Süden zur Dâmboviţa ab. Inmitten rauer, windiger Höhen
gleicht die Senke von Podul Dâmboviţei einer Oase. Gegen die Nordwinde durch Felswinde
abgeschirmt – man könnte meinen, einen Riesensprengtrichter vor sich zu haben oder eine
Riesendoline –, nach Süden hin mehr oder weniger offen, hat das Becken ein
verhältnismäßig mildes Klima. Und dazu kommt die malerische Umgebung: Schluchten,
Klammen, Abstürze – Sehenswürdigkeiten, wie sie an keiner anderen Stelle unseres Landes
so dicht gedrängt beisammen liegen. Dieser Besonderheiten wegen dürfte sich Podul
Dâmboviţei, die schmucke Ortschaft, deren Name auf die Brücke über den klaren Fluss
hinweist, in Kürze zu einem beliebten Ausflugs- und Kurort entwickeln. Die neue Schutzhütte
auf dem Dealul Sasului (wenn man sie so nennen kann) ist vielleicht der erste Schritt auf
diesem Wege.
In der Umgebung von Podul Dâmboviţei haben Laub- und Nadelwald ihre Rollen meist
vertauscht. Auf den trockenen windigen Höhen herrschen Buchen vor, dafür haben die
Fichten von den tief eingeschnittenen kühlen Kesseltälern und Schluchten Besitz ergriffen.
Die sonnigen Stellen zwischen den Felsen im Becken hat sich die Cornellkirsche erobert,
und auf dem Gipfel des Muntele Ghimbavul, der die Ortschaft um annähernd 700 Meter
überragt, blühen Alpenrosen und Edelweiß. Steinmarder tummeln sich auf den warmen,
trockenen Lehnen zwischen den Felsen. Wildschwein, Wolf und Fuchs sind in der
Umgebung keine Seltenheit und mancher Bewohner von Podul Dâmboviţei klagt über
rücksichtslose nächtliche Besuche von Meister Petz („Moş Martin“).
Mannigfaltig ist auch die Geschichte dieses Landstrichs. Eine Völker- und Handelsstraße
zwischen Nord und Süd ist der Gebirgsübergang immer gewesen. Schon die Römer
errichteten am Nordausgang des Passes ein Castrum, die Erdenburg, um den östlichen Teil
des eroberten Daziens gegen feindliche Einfälle zu schützen. Jahrhunderte hindurch rollten
Kronstädter Waren über den Pass nach Süden, muntenische Erzeugnisse nach Norden, und
diesen Weg muss auch die älteste in rumänischer Sprache abgefasste Kunde genommen
haben: der Brief des Neacşu aus Câmpulung. In der Umgebung von Podul Dâmboviţei lässt
sich auch heute noch der Verlauf der alten Passstraße verfolgen, vor allem am Rand der
Abstürze unterhalb einer Burgruine. Unzählige Heere haben in der Vergangenheit diesen
Karpatenübergang benützt. Radu Şerban (Fürst der Walachei) schickte 1611 sein Heer
Michael Weiß (Stadtrichter von Kronstadt) zu Hilfe und siegte über Gabriel Bathori (Fürst von
Siebenbürgen). Schwere Kämpfe tobten während des ersten Weltkriegs am Südausgang
des Passes. Der Anblick der Gebeine Hunderter namenloser Gefallener im Kellergewölbe
des Mausoleums von Mateiaş mahnt zur Besinnung.
In Podul Dâmboviţei und Umgebung schieben sich immer mehr rote Ziegeldächer ins
Landschaftsbild, Säge- und Walkmühlen – früher entlang der Dâmboviţa und Dâmbovicioara
so zahlreich – sind hingegen im Verschwinden.
Nie hätte ich geahnt, dass ich in unmittelbarer Nähe dieser friedlichen und verträumten
Ortschaften das vielleicht aufregendste Abenteuer meines Lebens bestehen sollte. Während
eines Sommers verbrachte ich zusammen mit Freunden zwei unvergessliche Wochen in
Podul Dâmboviţei. Wir durchstöberten die Klammen und Schluchten der Umgebung, quälten
uns durch enge Höhlengänge, rätselten an Wasserschwinden und Karstquellen herum. Inge
(8) und Karin (4), meine beiden Töchter, die erstmalig mit von der Partie waren, fühlten sich
bald wie zu Hause. Den größten Spaß bereitete uns allen das Baden in der Dâmboviţa. Doch
da war große Vorsicht geboten.
Die Bewohner von Podul Dâmboviţei sind zum großen Teil in der Forstwirtschaft beschäftigt.
Bis zur Fertigstellung der Forststraße entlang der Dâmboviţa am Fuß des Păpuşa-Gebirges
stieß die Beförderung der Baumstämme auf Schwierigkeiten. Nur im Frühjahr führt die
Dâmboviţa genügend Wasser, um Stämme tragen zu können. Im Sommer und Herbst
musste ein Kunstgriff aus der Klemme helfen. Große Wehre stauten das Wasser am
Oberlauf des Flusses. Einmal täglich wurden die Schleusen geöffnet, und auf dem
ausströmenden Wasserschwall glitten die Stämme flussabwärts.
Diese tägliche Flutwelle, von den Einheimischen „lac“ (See) genannt, erreichte Podul
Dâmboviţei meist um die Mittagszeit. Der Ruf „Vine lacul!“ (der See kommt) lies alle
badenden vor Schreck zusammenfahren und schleunigst das Weite suchen.
Kaum hat der Fluss Podul Dâmboviţei verlassen, zwängt er sich erneut durch eine Schlucht
„Cheile de sub Muntele Ghimbavul“, auch Rucăr-Klamm genannt, die längste und wildeste
der Felsenengen. Der Einschnitt im mürben Sandstein zwischen Podul Dâmboviţei und
Rucăr (Posada-Sattel), die kürzeste Verbindung zwischen beiden Ortschaften, scheint dem
Fluss auf die Dauer nicht entsprochen zu haben. Eigensinnig hat er sein Bett bis tief hinein in
den Kalkschoß des Muntele Ghimbavul verlegt.
Die Durchwanderung dieser Austrittsklamm hatten wir uns für das Ende unseres
Aufenthaltes gespart. Groß und klein sollte daran teilnehmen. Es sollte ein eindrucksvoller
und angenehmer Abschluss werden. Eindrucksvoll wurde er tatsächlich, aber alles andere
als angenehm! Jahre zuvor hatte ich die Schlucht mehrmals durchwandert. Begeisterte
Natur- und Bergfreunde aus Rucăr hatten dort Wege angelegt, an gefährlichen Stellen
Kabelsicherungen angebracht, Brücken und Laufstege über das Wasser gebaut. Man hatte
dem Wanderer ein Stück unverfälschter Natur erschlossen. Vier Jahre waren seither
vergangen!
Von Anfang an stand unser Ausflug unter einem ungünstigen Stern. Unverhofft hatten die
Freunde abreisen müssen. Am Vorabend war ein Gewitter niedergegangen. Der Morgen war
herbstlich kühl. Doch bald stachen die ersten Sonnenstrahlen durch den Nebel, golden
leuchteten die Felswände der Dâmbovicioara-Schlucht über dem wogenden weißen
Dunstmeer. Das sind gute Anzeichen.
Voll Zuversicht brachen wir auf. Der gut ausgetretene Pfad führte am linken Ufer
flussabwärts zur Klamm. Übermütig eilten die Kinder voraus, um unterwegs noch Himbeeren
zu pflücken. Bald näherten sich die Felswände, ein kalter Hauch schlug uns entgegen, dann
war der Weg plötzlich verschwunden. Unkraut und Gestrüpp hatten ihn überwuchert. Immer
häufiger zwang uns das Dickicht, Umwege zu machen.
Brücken und Stege fehlten nun. Wir setzten unseren Weg trotzdem fort, überquerten den
Fluss, einmal, zweimal, dreimal. Kostbare Zeit verrann. Jedes Mal die Schuhe ausziehen, die
Kinder einzeln über den Fluss tragen, die Schuhe wieder anziehen und weitermarschieren.
Inzwischen hatte sich das Wetter verschlechtert. Grau wie Sandstein lag der Himmel über
den Klammwänden. Regen prasselte auf uns herab. Wir hasteten vorwärts. Ein Zurück gab
es nicht mehr. Unterwegs würden wir unfehlbar dem Hochwasser begegnen.
Schnell zu den Bretterstegen! Schnell!! So schnell als möglich. Können wir sie vor Einsetzen
der Flut erreichen, so kommen wir heil aus der Klamm. Da! Der Anblick ließ mir kalten
Schauer über den Rücken laufen. Kein Brettersteg säumte die Felswand! Geknickte und
verbogene Eisenstäbe stachen vereinzelt in der Wand, Kabelenden hingen lose ins Wasser.
Steinschläge hatten die Stege vernichtet! Trotzdem mussten wir durch. Es war unsere
einzige Rettung!
Ich ließ Inge zurück. Mit Karin auf dem Rücken hastete ich im Bachbett vorwärts. Die Tiefe
des Wassers, die Blöcke, die durchnässten Kleider behinderten die Schritte. Ich fühlte weder
die Kälte des Quellwassers, das aus zahlreichen Austritten vom rechten Ufer dem Fluss
zusprudelte, noch die Schmerzen der wund gestoßenen Füße. Wir erreichten eine
Felsnische. Das war ein sicherer Hochsitz. Ich schob die Kleine hinauf, warf ihr meinen
Pullover zu, in dem sie zur Gänze verschwand, und eilte flussaufwärts. Mit aller Kraft musste
ich gegen die Strömung ankämpfen. Jetzt war unsere Lage geradezu verzweifelt, alle drei
waren wir voneinander getrennt. In diesem Augenblick von der Flut überrascht zu werden –
Schlimmeres könnte es nicht geben! Ich erreichte Inge. Sie bebte am ganzen Körper.
Übermüdung, Kälte und Angst hatten sie vollkommen zermürbt. Mit ihren acht Jahren gab
sie sich bereits Rechenschaft über den Ernst unserer Lage.
Mit Inge huckepack ging es im Eilschritt flussabwärts. Dann jagte ich weiter mit Karin. Das
Wasser reichte mir bis zur Brust. „Himmel, der See ist da, wir sind verloren!“ jagte es mir
durch den Kopf. Ein See, dunkel und unergründlich, erstreckte sich von Felswand zu
Felswand. Der Fluchtweg war versperrt. Verzweiflung erfasste mich. Im ersten Augenblick
erwog ich zu schwimmen. Es ging nicht! In voller Kleidung, mit Schuhen an den Füßen, Kind
und Rucksack auf dem Rücken kam ich nicht durch. Gab es denn keine Rettung? Da
erblickte ich den Laufsteg über mir. Einzelne Bretter und Bohlen lagen noch auf den
Eisenstiften. Wir mussten hinauf! Die knappen vier Meter mussten wir überwinden! Ich fand
Klettergriffe. Von meinen Schultern aus erreichte Karin den Steg und klammerte sich an
einen Balken. Ich kroch hinauf und zog sie in die Höhe. Auf allen Vieren ging es über die
wackligen morschen Bretter. Nach bangen Minuten erreichten wir heil die Erweiterung der
Klamm an der Einmündung der Valea Ghimbavului.
Nochmals ein Kampf gegen die Strömung, noch schwerer als vorher. Inge war diesmal
ruhiger. Doch sie wog fast doppelt soviel wie Karin. Den Steg erreichten wir nur mit
äußerster Mühe. Inzwischen hatten sich alle Schleusen des Himmels geöffnet. Jeder Fels,
jeder Steinsims verwandelte sich in einen Wasserspeicher. Verkrampft kauerte Karin auf
dem Boden. Ihr Körper wurde von Kälteschauern geschüttelt. Ich konnte es kaum glauben,
wir waren wieder beisammen, die Felsenenge mit ihren Gefahren lag hinter uns, wir waren
gerettet. Alle Schrecken unserer Flucht hatten wir für den Augenblick vergessen. Ich
schleppte mich ans Ufer, um Sand und Schlamm aus den Schuhen zu spülen. Kaum hatte
ich mich gesetzt, drang dumpfes Donnern aus der Klamm. Wutentbrannt schoss plötzlich ein
Wasserschwall teuflischer Gewalt aus der Felsenenge hervor. Es zischte, gischtete, brodelte
und polterte. Hölzer tanzten in den Schaumkronen der Flutwelle, wurden empor gewirbelt,
prallten krachend gegen die Klammwände: ein Bild urweltlichen Tobens, das die Sinne
verwirrte.
Der letzte Teil der Schlucht musste seiner Enge und Wildheit wegen umgangen werden. Auf
schmalen Felsbändern oft mit kabeln gesichert, windet sich der Pfad empor und verläuft
größtenteils oberhalb der Abstürze. Langsam klommen wir empor.
Bisher hatte ich die Schlucht nur von ihrer angenehmen Seite kennen gelernt. Vor vier
Jahren hatten sich die Augen an den jubelnden Herbstfarben gelabt. Auf den steilen
sonnigen Lehnen, längs des Weges über den Klammwänden, dort, wo sich Kiefer,
Wacholder und Nussbaum den Platz streitig machen, war ich den Spuren der Steinmarder
gefolgt und hatte die Fangtrichter der Ameisenlöwenlarven bewundert. Gießbäche polterten
jetzt über die lehmigen Hänge, gruben tiefe Rinnen ein, schütteten Steinwälle auf.
Unter unsagbaren Anstrengungen erreichten wir Rucăr. Noch immer goss es in Strömen. Wir
eilten ins erste Haus am Ausgang der Schlucht, trafen liebe, hilfsbereite Leute. Das
Herdfeuer wurde entzündet, wir erhielten trockene, wärmende Kleidung. Inge und Karin
hatten Schrecken und Müdigkeit bald überwunden.
Stunden später hatte die Sonne das Unwetter besiegt. Aber immer noch führte die
Dâmboviţa Hochwasser und immer noch wiegten sich Stämme auf ihrer trüben Oberfläche.
Herzlich war der Abschied, dann ging es heimwärts nach Podul Dâmboviţei. Auf der alten
Passstraße überschritten wir den Posadasattel. Ein farbenprächtiger Regenbogen wölbte
sich über die Ortschaft zu unseren Füßen. Ein Gefühl unendlicher Dankbarkeit bemächtigte
sich unser. Noch nie war die Natur so schön, die Luft so klar, der Himmel so blau, die Farben
so leuchtend, die Menschen, denen wir begegneten, so freundlich. Vom glück überwältigt,
drückte ich die beiden Kleinen an meine Brust.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 74, S. 204 – 211)
Seite | Bildunterschrift |
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206 | Früh beginnt der Winter in Fundata. Oft fällt Schnee schon Anfang September. |
207 | Gehöft an der Pass-Straße. Im Hintergrund die Bucegi. |
207 | Der letzte Teil der Rucăr-Klamm muss auf einem Saumpfad umgangen werden. |
209 | Nach beschwerlichem Weg durch Felsengen erreicht die Dâmboviţa Rucăr. |
209 | Podul Dâmboviţei hat seinen Namen von der Brücke über den klaren, rauschenden Fluss. |
211 | Der engste Teil der Rucăr-Klamm. Unbenutzbare Laufstege säumen die Felswand. |