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Der Regenpfeifer auf der Teufelsplatte

von Klaus Peter Zsivanovits

Kalt fegt der Wind über das Frumoasa-Plateau. Er quirlt die Nebelschwaden durcheinander, die Felsblöcke der Cindrelspitze sind für ein paar Augenblicke zu sehen, grau nass. Grau und nass ist die ganze Welt ringsum. Es ist eine kleine Welt, fünf Schritte im Umkreis, bestehend aus niederen Gräsern und Flechten, von denen die feinen Wassertropfen verblasen werden. Sie verschwinden im bewegten Nichts. Gleich sind aber neue Tröpfchen da, haften für kurze Zeit an den zitternden Halmen und versuchen an ihnen entlang zu rinnen, bevor der Wind sie wieder fortreißt, zurück in die große Nässe, aus der sie kamen.
Es wird dunkler und kälter. Durch den Nebel sprüht jetzt Regen in schrägen Schnüren, prasselt auf den Anorak und sticht Gesicht und Hände. Wie klamm die Finger sind: Eigentlich kann ich sie in die Taschen stecken, der Gucker ist sowieso unter der Windbluse verborgen, weil sich die sonst so scharfen Linsen ständig beschlagen; und außerdem ist in dieser Waschküche ja doch nichts zu sehen.
Aus dem Regen werden Graupelschauer. Die weißen Körnchen tanzen über die Rentierflechten, Wurmflechten und das isländische Moos. Na ja, das passt auch irgendwie zusammen; aber die Zwergprimel da – schließlich ist es doch Juli!
Die Profilsohlen tappen über die federnden Flechten und quatschen durch braunes Wasser und Torfmoos. Aha, hier ist schon das Hochmoor! Eine „hoch“-trabende Bezeichnung für die paar Quadratmeter Wasser mit Sphagnum (Torfmoose) und den drei Bulten (Kuppen aus Torf und Torfmoosen). Aber immerhin, es ist ein Hochmoor, das kann niemand leugnen, das Moor vom Frumoasa-Plateau.
Wer diesen Namen wohl erfunden hat? Das schöne Plateau! Sicher war das einmal, als hier die Sonne schien, an einem der wenigen schönen Tage da oben, die man an den Fingern zählen kann. Regen, Gewitter, Schnee, Hagel und Nebel im Sommer, Schnee, Nebel und Kälte im Winter, das sind der Cindrel und das Plateau. Heute scheint mir die zweite Bezeichnung der Hochfläche viel treffender: Teufelsplatte. Und nicht nur des schlechten Wetters wegen. Hier wurden schon Menschen und Tiere vom Blitz erschlagen, und hier haben auch schon Menschen Menschen erschlagen. Der Predoiu-Felsen heißt ja auch so, weil... aber das ist schon lange her.
Außer dem bösartigen Pfeifen des Windes und dem Knistern des Gestöbers ist in der milchigen Unendlichkeit nichts zu hören. Fast meine ich, das einzige Lebewesen hier oben zu sein. Dabei weiß ich genau, dass da irgendwo, vorn oder hinten, ganz nahe neben mir oder weit weg, noch Leben ist. Den ganzen Tag über suchte ich danach, hoffte, durch die wehenden Nebelfahnen einen Schatten fegen zu sehen, in reißendem Flug, auf spitzen Flügeln oder wenigstens das kurze leise Flöten zu hören, mit dem er sich dem Kundigen anzusagen pflegt, dieser kleine mutige Vogel, der hier oben zu Hause ist, der Mornellregenpfeifer.
Von der knatternden Zeltwand geschützt, im Schlafsack, versuche ich mir vorzustellen, wie er nun da sitzt, dick aufgeplustert, den eingezogenen Kopf gegen den Wind gerichtet, und die drei Eier wärmt...
Zum ersten Mal sah ich ihn als Zwölfjähriger, in einem dicken Bestimmungsbuch mit schönen Farbtafeln. Das ackerte ich damals durch, so wie man die Vokabeln einer Fremdsprache lernt. Nur, dass das Vogelbuch mehr Spaß machte als die Sprachlehre, denn heute gehört die Ornithologie zu meinem Beruf, während das Französische immer noch Anlass zu Schweißausbrüchen ist. Damals konnte ich mit dem Mornell noch nicht viel anfangen, ich wusste bloß, dass es ihn gibt. Später bekam ich Bengt Bergs wunderbares Buch „Mein Freund der Regenpfeifer“ in die Hände. Staunend las ich, dass Lahol, wie die Lappen ihn nennen, in der fernen Tundra keine Angst vor den Menschen hat, und dass er ruhig in der Hand weiterbrütet, wenn sein Nest vorsichtig vom Boden angehoben wird. 1965 begegnete ich ihm zum ersten Male wirklich, hier oben auf der Teufelsplatte. Aus unserer Begegnung wurde schnell eine Freundschaft, wenigstens was meine Gefühle anbelangt.
Lahol nimmt zwar die für ihn sicher plumpen Anbiederungsversuche des riesigen Menschenturmes gelassen hin, aber näher als fünf Schritte konnte ich ihm noch nie kommen. Auch sein Nest hat er mir noch nicht gezeigt. Wie sagte doch Bergs Begleiter, der alte Lappe Aslak Turi? „Lahols Nest, das lohnt sich nicht zu suchen – das liegt, so Gott will, eines Tages auf des Wanderers Weg; sonst findet man es überhaupt nicht!“ Und wie oft war ich schon hier oben... Steinschmätzer und Rotschwanz, Wasserpiper und Steinrötel guckte ich in die Kinderstube, und auch Lahol war immer da, lief über Moose, Flechten und Niederen Schwingel, pickte hier und da etwas auf, oder sonnte sich. Und war dann plötzlich verschwunden. Ich suchte und suchte. Dabei stand ich vielleicht ganz nahe neben ihm, doch seine eigentlich recht lebhaften Farben lassen ihn eins werden mit Steinen und der Tundrenflora, die hier das Gelände bedeckt, und seine großen dunklen Augen beobachten sicher jeden meiner Schritte. Bis ich dann wieder an die Worte Aslak Turis dachte und die Suche aufgab, nicht aber die Hoffnung, die kleinen gefleckten Eier einmal bestaunen zu dürfen.
...Tief in den Schlafsack vergraben erwache ich am nächsten Morgen. Es ist schon reichlich spät und – wohlig warm. Scheint wirklich die Sonne auf das Zelt? Draußen ist vom gestrigen Schneeregen nichts mehr zu bemerken. Die Luft ist zwar herb, aber ein leichtes Wehen bringt den Duft der letzten Alpenrosen aus den Kesseln der beiden Gletscherseen, des Iezerul Mare und des Iezerul Mic. Metallene Insektenleiber blitzen ringsum, rot und gelb leuchten die Flechtenflecken von den verstreuten Felsbrocken, und über dem Frumoasa- Plateau strahlt ein tiefblauer Himmel mit zarten Wolken. Ja, heute ist es das Frumoasa- Plateau, die Teufelsplatte gibt es nicht mehr. Bis nachmittags, oder morgen, oder spätestens morgen Abend.
Langsam schreite ich vorwärts, gehe im Zickzack oder ziehe große Kreise. Na, Lahol? Willst du dich heute nicht sehen lassen? An einem so herrlichen Sonnentag? Aber da höre ich ihn auch schon sanft trillernd rufen. Schräg voraus läuft er über kurzes Gras, den Kopf nach Regenpfeiferart eingezogen, und die Beinchen in so schneller Bewegung, dass man sie gar nicht sehen kann und der Vogel aussieht, als rolle er wie ein aufgezogenes Spielzeugtier daher. Nun verhält er ruckartig und richtet sich etwas auf. Auch dies plötzliche Anhalten nach kurzem schnellem Laufen ist allen Regenpfeifern gemeinsam. Wie er nun so ruhig dasteht und das Köpfchen dreht, kann ich ihn aus nächster Nähe genau betrachten.
Er ist etwa so groß wie eine Drossel. Unterrücken und Flügel sind hauptsächlich braun, und alle Federn sind von einem hellen Saum eingefasst. Um Oberrücken und die halbe Brust schließt sich ein schiefergraues Band, das von einem weißen Halbring scharf vom rostroten unteren Teil der Brust abgegrenzt wird. Flanken und Bauch sind auch rostfarben, in der Bauchmitte aber hebt sich ein tiefschwarzer Fleck ab. Über den großen dunkelbraunen Augen leuchten weiße Brauenstreifen, die sich im Nacken zu einem auffälligen V vereinigen. Der kurze gerade Schnabel ist schwarzbraun.
Hopp, jetzt trippelt er wieder los, plötzlich, ohne dass ein Aussetzen zu bemerken war. Es ist erstaunlich, dass ein im Grunde genommen bunter Vogel einfach im Gelände verschwinden kann. Aber mit vielen anderen lebhaft gezeichneten Tieren verhält es sich ja ähnlich. Die anscheinend auffälligen Farben zerreißen die Silhouetten, und das Tier „löst sich auf“ in der Landschaft. Das gestreifte Zebra, die riesige gefleckte Giraffe und das winzige Rehkitz sind auf kurze Entfernung schon nicht mehr zu sehen, wenn sie bewegungslos verharren, „sich drücken“. Deshalb ist auch Lahol dann am leichtesten zu bemerken, wenn er durch das Gras rollt, und weil er das „weiß“, lässt er seine Feinde ruhig an sich vorübergehen, ohne sich vom Nest zu heben.
Es kann aber auch geschehen, dass Lahol um jeden Preis bemerkt werden will; dann, wenn er seine Jungen in Gefahr glaubt. Er kehrt dann dem Feind die buntesten Federn zu, schleppt Flügel und Füße nach, piept laut und jammervoll, und wenn nun Tier oder Mensch die scheinbar so leichte Beute greifen wollen, flattert und stolpert er immer nur gerade weit genug fort, um nicht gefangen zu werden. Ohne es zu merken, ist der Feind im Nu so weit weggelockt, dass er Nest oder Junge unmöglich wieder finden kann, und der scheinbar kranke Vogel fliegt plötzlich mit trillerndem Flöten davon. Dies „Verleiten“, wie der Verhaltensforscher solches Gebaren nennt, ist übrigens vielen Vögeln eigen.
Voriges Jahr versuchte Lahol auch vor mir Theater zu spielen. Wie gab er sich doch Mühe! Der Schwanz war weit gefächert, so dass die weißen Spitzen der Federn weithin leuchteten. Bald drehte er beide Flügel in den Schultergelenken nach vorne, dass ich ständig befürchtete, er kegle sie sich wirklich aus, bald schleppte er sich auf der Seite liegend mühsam dahin und ließ Bein und Flügel nachschleifen. Dabei beobachteten die glänzenden Augen aber ständig meine Reaktion. Kam ich auch wirklich nach? Ich tat ihm den Gefallen, ließ meinen Rucksack als Zeichen liegen und beobachtete amüsiert und doch bewundernd seine Verstellungskunst. Dann aber drehte ich um und suchte, beim Rucksack angekommen, Zentimeter um Zentimeter das Gelände ab. Nichts zu finden! Und dabei tanzte Lahol aufgeregt um mich herum. Schließlich legte ich mich auf den Bauch und beobachtete die Umgebung gegen den Horizont hin. Plötzlich sah ich zwischen den gefleckten Steinen eine Bewegung. Eine schwarzweiß gescheckte, dottergroße Flaumkugel versuchte auf viel zu dicken und großen Füßchen das Weite zu suchen, stolperte ein paar Meter bis zum nächsten Brocken und duckte sich da nieder. Und so ging es weiter, immer nur von Stein zu Stein, neben denen sich der kleine Wicht einfach in Nichts auflöste. Weitere Geschwister konnte ich nicht sehen. Waren meine Augen zu stumpf? Oder war es vielleicht das letzte der drei Mornellkinder, die ein Altvogel gewöhnlich führt? Das Plateau wird zweimal täglich von Schafherden überweidet, deren scharfe Hufe schon manches Vogelgehege zertreten haben, und Hirtenhunde haben gute Nasen und beachten vielleicht den verleitenden Alten nicht, wenn knapp vor ihnen ein Jungvogel sitzt. Auch den scharfsichtigen Kolkraben, die fast immer über dem Cindrel kreisen, traue ich eine schwarze Mordtat an den kleinen Lahols zu, obwohl ich diese Brüder sonst so gern habe. Aber auch Junischnee und Julihagel können so kleine Fünkchen Leben rasch durchnässen und verklammen lassen, während der Vater vielleicht irgendeine Gefahr abwenden muss.
Lahol erklärte es mir nicht. Und wie viel gäbe es noch zu fragen!
Warum ist sein Brutgebiet so merkwürdig zerrissen? Zwischen dem nördlichen Skandinavien und Schottland, zwischen Uralgebirge und Sibirien und Nordalaska klaffen riesige Räume. Warum die merkwürdigen inselartigen Vorkommen auf einigen Gipfeln der Alpen, des Riesengebirges und der Karpaten? Im ganzen Karpatenbogen erfolgten sichere Brutnachweise nur auf dem Cindrel, der erste 1863 durch E. A. Bielz. Des Tundra ähnlichen Klimas wegen und der für sie typischen Vegetation? Warum wurden dann 1961, zur Überraschung aller Ornithologen, brütende Mornells auf den Äckern der ehemaligen Zuidersee in Holland gefunden, weit weg von allen nördlichen Biotopen? Unter den Kennern der Vogelkunde herrscht auch Uneinigkeit über die Frage, ob das Weibchen nach der Eiablage Nest und Männchen verlässt und dieses dann die Eier allein ausbrütet und die Jungen führt. Bei einigen Vogelarten ist dieses merkwürdige Verhalten bekannt, und die meisten glauben, dass es sich beim Mornell auch so verhält. Berg lag während einer ganzen Brutperiode neben einem Nest und sah immer nur einen und denselben Vogel. Es ist auch erwiesen, dass die Männchen kleiner sind und mattere Farben haben als die Weibchen. Eben dieser vertauschten Rollen wegen?
... Der Mornell vor meinen Füßen hastet weiter, und ich folge ihm langsam... Aus den Iezer-Kesseln kriechen wieder Nebelfetzen, wehen heran, vereinigen sich zu einem dichten Vorhang, der aus dem Frumoasa-Plateau wieder die Teufelsplatte macht und den kleinen Vogel mit all seinen Rätseln verschluckt.
Cindrel, wunderlicher Berg, mit den einzigen Zirbelkiefern des Zibinsgebirges und der einzigen Heimat Lahols in den Karpaten! Wer dich kennt mit deinem oft schauderhaften und manchmal so herrlich schönen Wetter, der kommt immer wieder.

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 74, S. 189 – 193)

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191 ... näher als auf fünf Schritte konnte ich ihm niemals kommen
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