von Werner Klemm
Gibt es heute bei uns noch alte Jäger, Hirten, Naturfreunde, die sich der Begegnung mit
Bartgeiern rühmen könnten? Die ihn, den König der Lüfte, über zerklüfteten
Gebirgsmassiven in seiner vollen Herrlichkeit noch erlebt haben: hoch im Himmelsraum
schwebend, ein segelndes Kreuz mit langen Flügeln und langem stufig zulaufendem Stoß,
oder – häufiger – auf morgendlichen Pirschflügen entlang der felsigen Bergrücken, gleich
dem Kolkraben aufmerksam und findig im Wahrnehmen von Nahrungsgelegenheit, in
zügigem Schwenken und Dahingleiten, um plötzlich – zum Schrecken des Beobachters – mit
angezogenen Schwingen niederzusausen, für Sekundenbruchteile die Wildheit seines
rot glühenden Auges weisend?
Was für ein erstaunlicher Vogel! Der größten Greifvögel einer, dennoch aber Mittelding
zwischen Geier, Adler und Falke: ein Adlergeier oder Falkengeier. Der Körper 6 kg schwer,
vom starken, scharfschneidigen Schnabel bis zum Schwanzende 1,2 Meter lang, die
schmalen, spitz zulaufenden Flügel im Mittel 2,5 Meter klafternd. Überwiegt Schwarz in der
Gefiederfarbe, so muss der Vogel noch jung sein; im 4. – 5. Jahr erst schmückt den
geschlechtsreifen Vogel das tiefe Schiefergrau der Flügel und der Schwanzfedern, das
Rostbraun (an Brust und Bauch), das Weiß des Hals- und Kopfgefieders. Am Kopf sitzen
dazu noch schwarze Zügel- und Kinnstreifen. Daraus aber blicken, „wilde Augen“, die
ihresgleichen sonst nicht haben: helle Iris von einem feuerroten breiten Ring umschlossen.
Und um das sonderbare Bild zu vervollständigen: Am Schnabel unterseits ein Büschel
rosshaarähnlicher schwarzer Borstenfedern, der Anlass zur Namengebung.
Es bleibt – nachdem das Dasein des Bartgeiers in den Karpaten Vergangenheit geworden ist
– die Geschichte zu erzählen von seinem Leben und Sterben; so weit es geht, noch von
Augenzeugen.
A. Florstedt, nach dem Ersten Weltkrieg für lange Jahre Jagdpächter großer Gebiete im
Fogarascher Gebirge, schreibt:
„Der heute in den transsylvanischen Alpen und in Rumänien durch Gift vollkommen
ausgerottete Bartgeier war vor dem Kriege nicht so selten. In meinem Jagdgebiet waren
mehr als ein halbes Dutzend einheimisch, die man infolge des je nach dem Alter
verschiedenen Federkleides genau voneinander unterscheiden konnte. Leider horsteten sie
nicht in meinen Bergen, sondern in den hohen Felswänden eines tiefer gelegenen Tales. Da
der Bartgeier sehr früh dem Brutgeschäft obliegt, bedarf er dazu wärmerer Lage, als sie ihm
das Hochgebirge bietet. So stand ein Horst im Lotrutal. Zur selben Stunde täglich revierten
einige die Hänge ab. Im Juli trainierte die Alte ihr Junges, wie ich dies in Asien gesehen
habe. In so fester Ehegemeinschaft wie der Steinadler lebt der Bartgeier nicht. Hat man von
einem Steinadlerpaar einen Gatten abgeschossen, erfüllt das Klagegeschrei des
überlebenden Gatten noch wochenlang das Tal. Beim Bartgeier dagegen leben die Paare
nach Ausflug des Jungen wie bei allen Geiern nicht mehr in so enger Ehegemeinschaft. Ich
schoss einen einzigen, sehr alten Bartgeier für meine Sammlung. Die wenigen Gamskitze,
die die Bartgeier sich holten, habe ich ihnen gerne gegönnt. Einmal, als ich mich mit meinen
Jägern auf dem Marsch befand, kam ein Bartgeier niedrig über uns hinweg gestrichen, der
den riesigen Schädel eines Ochsen mit langen Hörnern trug; er hatte den Schädel mit den
Fängen an den Hörnern umfasst, so dass dieser lang herabhing. Es war ein Bild des
Schreckens. Meine Jäger stürzten entsetzt auseinander. Bekanntlich frisst der Bartgeier mit
Vorliebe Knochen. Große Knochen trägt er hoch in die Luft, lässt sie herunterfallen, so dass
sie zerschellen, fliegt dann herunter und frisst die Splitter auf.“
Noch zwei siebenbürgische Beobachter bestätigen das Geschick dieses Vogels beim
Zerkleinern großer Knochen. Aufschlussreich dazu ist eine Bemerkung W. Hausmanns
(1887):
„Im Magen frisch erlegter Bartgeier und noch mehr in ihrem Kropf fanden wir oft die
sonderbarsten Dinge, die man als Vogelfutter kaum ansehen möchte, z.B. das kolbige Ende
fetter Markknochen von einem Ochsen oder Pferd. Wie er dieselben soweit zerkleinert hatte,
um die fetten, aber noch sehr splitterigen Bissen, die immer noch faustdick waren, hinunter
zu würgen, ist wohl rätselhaft. Ein anderer hatte das fast vollständige Gerippe eines kleinen
Hundes im Kropfe, welches schon einen äußerst penetranten Geruch verbreitete. Der dritte
muss wohl hungrig gewesen sein, denn der Kropf enthielt nur einige Haare, aber im Magen
fanden sich einige Zehen von einem Auerhuhn und die Hornschale eines Rehfußes vor.“
Dieses Glied einer früheren Karpatenfauna wurde so schnell ausgerottet, dass wir z.B. über
seine Fortpflanzung in Siebenbürgen kaum etwas wissen, so eigenartig diese auch ist. Kaum
acht Brutplätze, meist nur ungefähre Ortsangaben, sind der spärlichen Literatur zu
entnehmen. Die einzigen ausführlicheren Angaben verdanken wir R. Czynk (1894):
Oberleutnant Flora Ioan aus Vaida Rece, ein guter Jäger und Beobachter, wurde
aufgefordert, einen jungen Bartgeier zu beschaffen. Endlich brachte 1886 ein junger Bauer
Nachricht, wonach im Brazaer Gebirge Bartgeier Knüppel und Astwerk in einer Felsplatte
zusammentrugen. Flora besichtigte im Januar den Horst und fand darin ein Ei. Ende Januar
– schon Junge vermutend – ließ er einen Hirtenjungen am Seil zum Horst hinab. Im Horst
befand sich jedoch nur das Ei, das der Junge zu sich nahm, beim Hochsteigen jedoch
zerbrach. Auch E. Hodek fand den Bartgeier im Retezatgebirge Mitte Januar brütend. Die
Brutdauer beträgt – wie indessen im Tiergarten von Sofia festgestellt wurde, wo ein
Bartgeierpaar von 1915 bis 1926 acht Junge hochbrachte – 55 Tage.
Der Karpatenbartgeier war in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts in den Gebirgen
des Banats (Cerna-Tal), Retezat, Mühlbächer und Zibinsgebirge, Fogarascher Kette,
Burzenländer Gebirge, Ciuc- und Rodnagebirge verbreitet. Nach den heute vorliegenden
Daten verschwand er aus diesen Gebieten wie folgt: Banater Gebirge 1878, Retezat 1933,
Paring/Mühlbächer/Lotru/Zibinsgebirge 1906, Fogarascher Gebirge 1931, Ciuc 1910 (1939),
Rodnaer Gebirge 1891.
Spät erst (1888) so recht in den Blickkreis der Menschen gerückt, war er wenige Jahrzehnte
später bereits ihr Opfer; seine Schuld war, Aas zu fressen und nicht zum Haustier geboren
zu sein. Durch Abschuss fiel er den Trophäenjägern zur traurigen Beute, durch Strychnin,
das fürchterliche unmenschliche Lähmungsgift, vergiftete man außer einigen Wölfen den
Rest der aasfressenden Bartgeier – keine Menschlichkeit, keine Vernunft hinderte die
Menschen an ihrem törichten Vernichtungswerk.
1927 fiel der letzte Karpatenbartgeier durch Abschuss in Menschenhand und kam ins
Museum nach Sibiu. (Ein Waldheger brachte ihn „zum Verkauf“ zu Prof. Kamner. Dieser
freilich war, wie er mir selbst erzählte, zunächst im Nachmittagsprogramm etwas gestört
durch das Angebot eines womöglich teuren „Adlers“, wo er eben genügend geschenkte
Stücke präpariert hatte, und ließ den Mann abweisen. Erst als der hartnäckig sagen ließ, er
sei doch aus Câineni im Roten-Turm-Pass gekommen, ließ sich Kamner herbei, wenigstens
nachzusehen – worüber ihm dann die Augen freilich übergingen: der letzte erbeutete
Karpatenbartgeier lag vor ihm.) A. Kamner hat in der Folge die meisten Beiträge zur
Erhellung des Vorkommens und sonstiger wissenschaftlicher Probleme um diese Tierart
geleistet.
1848 erste Erwähnung, 1856 und 1888 erste genaue Standortangaben, 1927 letztes
Belegexemplar – so schnell ging das, so schnell geht das mit der Ausraubung der Natur
durch den Menschen! Gesehen wurden Bartgeier zuletzt im Retezat 1933, mit welchem Jahr
der einheimische Bestand als erloschen gilt. Zwar gibt es noch eine Beobachtung 1939 bei
Târgu Secuiesc (3 Vögel) und eine weitere 1961 aus dem Roten-Turm-Pass (zweifelhafte
Fotografie von 2 Vögeln), doch sind beide Angaben nicht bestätigt worden.
Von 27 bekannt gewordenen Stopfpräparaten siebenbürgischer Vögel (17 davon allein aus
dem Burzenland) existieren heute in den Museen nur noch 7 als letzter toter Rest der
lebendigen siebenbürgischen Population dieses stolzen Karpatenvogels.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 74, S. 105 – 108)
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106 | Bartgeier, am 28. Dezember 1927 bei Câineni erlegt. |