home - Komm mit - 1973 - Urlaub auf dem Bauernhof
jedes Wort alle Wörter Suchwort markieren
drucken

Feriendörfer in Rumänien

Urlaub auf dem Bauernhof

Şirnea – das erste touristische Dorf des Landes mit Sommer- und Winterbetrieb

von Ernst Zehschnetzler

Wer von Piteşti oder Braşov kommend den Bran-Pass überquert und nicht im „Höllentempo“ durch die Serpentinen rast, der wird von der landschaftlichen Schönheit dieser Gegend entzückt sein. Kenner unserer Gebirgswelt behaupten, dass dieser Landstrich zwischen Rucăr und Bran zu den schönsten und aufregendsten der ganzen Karpaten gehört – soweit die Bergwelt für den Autofahrer erschlossen ist. In weichen Wellen branden Almen und Täler, Wiesen und Wälder immer weiter hinaus, bis sich, mächtig und hoch, die weißen Kalkfelsen des Königsteins ins Bild schieben und den Horizont abriegeln.

In diese Landschaft eingebettet liegt eine der touristischen Raritäten unserer Berge – das „touristische Dorf“ Şirnea. Mit Absicht und zu Recht sich selbst so betitelnd, will diese 1330 Meter über dem Meeresspiegel liegende Ortschaft als erstes Dorf in unserem Land aus eigener Kraft Ferien- und Erholungsort par excellence werden. Es hat, was kaum ein anderes Bergdorf hat: ein Touristenamt und einen Unterbringungsdienst. Und es hat Ideen, und den nötigen kollektiven Willen zu deren Durchführung.
Von der Pass-Straße sieht man das Dorf nicht. Man muss da schon bei Kilometer 95,5 aus Richtung Piteşti (oder 40 aus Richtung Braşov) bei der Gemeinde Fundata einbiegen und auf einem recht guten Steinweg noch etwa 3 Kilometer weiter ins Tal fahren (dieser Weg wird übrigens fahrplanmäßig von IRTA-Autobussen aus Braşov befahren). Schon nach einigen hundert Metern tauchen rechts und links des steil abwärts führenden Weges, auf den sanften Hängen verstreut, die ersten Bauernhäuser auf. Kühe und Esel, Schafe und Pferde weiden friedlich auf den saftigen Wiesen, Bäuerinnen in Volkstracht stolzieren mit randvollen Melkeimern am Tragholz vorbei, irgendwo tönt leise eine Schalmei.
Das Dorfzentrum ist ein größerer Platz – so groß, dass ein Wagen dort umkehren kann –, der von vier, fünf Gebäuden gesäumt wird – der Schule, dem Kulturheim, dem Obst- und Gemüseladen, dem Dorfmuseum und noch von zwei Bauernhäusern. Postamt, Restaurant und die Läden der Konsumgenossenschaft befinden sich, wenn auch nicht weit, so doch verstreut, auf den Hängen. Die Bauernhäuser gleichen kleinen Villen. Von etwa 310, von denen viele allerdings recht weit „vom Schuss“ liegen, sind über 80 auf Tourismus eingestellt und halten schöne, reine Zimmer parat. Der Preis für ein Doppelbettzimmer liegt bei 30 Lei pro Nacht. Viele Hauswirte kommen auch für das Essen auf; man kann jedoch auch im Restaurant ein gutes Mahl bestellen. Außer Grill und Fleischspeisen gibt es hier die Spezialität des Hauses – ein „bulz ciobănesc“ benanntes Gericht aus Maismehl und Schafkäse. Der Käse ist etwas ganz Delikates – er wird 7 – 8 Tage in Tannenrinde gehalten und hat dann ein köstliches Aroma.
Was Şirnea aber – neben seiner malerischen Landschaft und den guten Unterkunftsbedingungen – besonders anziehend macht, sind die geradezu einmaligen Ausflugsmöglichkeiten. Man kann hier vom 10-Minuten-Spaziergang bis zum Tagesausflug alles haben, was man gerade will. Die „Stânca Seninare“ liegt nur 15 Minuten entfernt, bis zur Curmătura Groapelor braucht man eine Stunde und bis zur berühmten Dâmbovicioara- Höhle und der gleichnamigen Klamm auch nicht länger. Selbst Bran ist in zwei Stunden per pedes zu erreichen, und in gleicher Zeit kann man zur Zărneşti-Schlucht.
Vor allem aber ist Şirnea der best gelegene Ausgangspunkt für Königstein-Wanderungen. Bis zur Curmătura-Hütte sind es nicht mehr als 3 ½ Stunden, und auf den Grat kann man auf einer Variante sogar in nur vier Stunden gelangen.
Şirnea ist jedoch auch das vielleicht einzige Bergdorf, das die von der Natur gegebenen Möglichkeiten touristisch zu nutzen und zu erweitern sucht. Aus eigenen Mitteln haben die Bergbauern eine elektrisch beleuchtete Schipiste angelegt, und bis zum Einbruch des Winters soll auch ein Skilift gebaut werden. Hier gibt es eine Ausleihstelle für Ski und Rodel und einen erstklassig funktionierenden Dienst für Pferdeschlittenfahrten. Übrigens sagt man, dass die Bauernkinder hier mit den Bretteln an den Füßen zur Welt kommen. Bei dem ausgezeichneten Skigelände ist es kein Wunder, dass viele unserer besten Skifahrer aus... eben Şirnea stammen.
„Wir haben einen ganz schönen Umsatz“, meint der ehrenamtliche Verantwortliche des Touristenamtes, Prof. Nicolae Frunteş. „Zeitweise müssen wir bis zu 400 Touristen unterbringen und auch dafür sorgen, dass sie sich verköstigen können. Aber das ist unsere kleinste Sorge.“ Die größere Sorge ist, alles zu tun, damit sich Sommerfrischler oder Winterurlauber nicht langweilen. Denn: „Ausflüge und schöne Landschaft sind nicht genug. Der Tourist muss auch etwas erleben.“ Und so organisiert man hier während des Jahres mehrere Feste: im Juli das so genannte Milchausmessen – die „măsura laptelui“; da zieht das ganze Dorf mit Kind und Kegel und den Gästen hinaus zur Sennhütte, wo der „Anteil“ an Schafkäse verteilt wird. Und man zieht nicht mit leeren Tragsäcken hinaus: Sie sind gefüllt mit Speck und Brot, mit Wurst und Schnaps – einem herrlichen Schnaps aus Tannenzapfen, den man hier vorzüglich zu brennen versteht. Kaum ist die Verteilung zu Ende, spielen die Musikanten zum Tanz auf.
Ein einmaliges Erlebnis soll hier die Silvesterfeier sein. Das Interesse am touristischen Interesse hat die Bergbauern bewogen, alte und älteste Volksbräuche – die sich ja in dieser abgelegenen Gegend gut erhalten haben – wieder „hervorzukramen“ und den Gästen eine Schau zu liefern, die man so rasch nicht vergessen kann. Die Neujahrsfeier dauert gewöhnlich zwei Tage und zwei Nächte, und der Tannenzapfenschnaps ist bei dieser Gelegenheit – heiß aus dem Kessel geschöpft – frei. „Zu Neujahr hatten wir 125 Gäste aus dem Ausland im Quartier“, ergänzt Prof. Frunteş. „Für kommendes Silvester haben wir bereits 80 Vorausbestellungen – mit Vorschusszahlung, versteht sich.“
Dass man hier im kleinen Bergdorf auch ganz groß planen und vorausdenken kann, beweist die allerjüngste Aktion: Für Mitte September luden die Bergbauern, nach Absprache mit dem Verband, die Amateurfotografen zu einem Wettbewerb zum Thema „Das touristische Dorf Şirnea im Bild“ ein. Den Fotografen wurden nicht nur Bergführer zur Seite gegeben, die ihnen alles Sehenswerte zu zeigen hatten – es wurde im Kulturheim auch eine Art Wettbewerb zum Thema „Die schönsten Volkstrachten“ ausgetragen. Den Teilnehmern am Foto-Wettbewerb sicherte die Dorfgemeinschaft die Transportspesen und freie Unterkunft und Beköstigung. Die drei ersten des Wettbewerbs erhielten je eine Woche freien Aufenthalt in Şirnea – winters oder sommers, wie sie es wünschen.
Nebenbei sei gesagt, dass es im Dorf keinen besoldeten „Verantwortlichen“ für Touristik gibt.
„Ist die Straße im Winter befahrbar?“ wollen wir noch wissen.
„Immer“, sagt Prof. Frunteş. „Wir halten sie in tadellosem Zustand.“
„Man könnte sie doch asphaltieren.“
„Gott bewahre! Der ganze Reiz wäre dahin, wenn der Massentourismus einsetzen würde.
Wir wollen hier ein Stückchen Abgeschiedenheit unverdorben erhalten – für all jene, die diese suchen.“

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 73, S. 33 – 36)

Seite Bildunterschrift
 
33 Dorfskizze mit den kürzeren Wanderpfaden.
35 Breitgestreut die Häuser von Şirnea.
nach oben nach oben