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Ţarcu, Bloju, Godeanu

Einsame Bergwelt zwischen Semenik und Retezat

von Georg Hromadka

Stimmt es, dass wir ins Gebirge gehen, um zu sehen und zu erleben? Wenn es so ist, dann sind die im Grunde nicht allzu strapaziösen Hochwege der „Retezat-Satelliten“ Tarcu, Bloju, Godeanu und Iorgovan doppelte Erlebnisse: Sie lassen uns die Einsamkeit der vielleicht unberührtesten rumänischen Karpatenmassive auskosten und zeigen uns die Felsenburg des Retezat, unsern Traum und unser Ziel, in immer neuem Licht und immer greifbarerer Gestalt. Darum: Loben wir den Retezat, den unvergleichlichen. Aber loben wir auch seine „Satelliten“. Sie sind der Samstag vor dem Sonntag.

(„Komm mit“ 1972: Der Retezat)

Es wäre übertrieben, wenn wir behaupteten, das Gebirge zwischen Semenik und Retezat sei ein weißer Fleck auf der Karte unseres Bergtourismus. Aber wir dürfen sagen: Es gibt wenige Zweitausender in den rumänischen Karpaten, die so selten aufgesucht werden wie der Căleanu (2190 Meter hoch), der Vf. Pietrii (2190) und der Gugu (2290), die Hauptgipfel der drei Banater Karpatenmassive Ţarcu, Bloju und Godeanu. Was hier von den „Chefs“ gesagt wird, trifft auch auf die Massive zu: Sie sind recht einsam. So groß das Gewimmel auf dem Semenik (Schutzhütten in 1300 – 1400 Meter Höhe), dem Muntele Mic (in 1500 Meter Höhe gelegene Schutzhütten) und auf den Retezat-Magistralen ist, so still ist es auf den „plaiuri“, den Hirtenwegen, die von Herkulesbad, Teregova, Borlova oder Bucova aus zu den Sennhütten und Gipfeln führen. Touristen begegnet man selten. Im Winter gar ist in dem Gebirgsdreieck Ţarcu-Bloju-Godeanu die Wetterwarte vom Ţarcu (2186) der einzige belebte Punkt.
Was hält die Masse der Touristen davon ab, sich mit den drei Banater Karpatenmassiven näher einzulassen? Die langen Wege. Das Fehlen bewirtschafteter Hütten. Die mangelhafte Markierung. Auf der Route Muntele Mic – Gura Apei (zwei Tagesreisen) ist die Wetterwarte vom Ţarcu das einzige Haus (mit dem selbstverständlich nicht gerechnet werden kann). Auf dem Weg von Cerna-Sat nach Gura Apei (über den Godeanu: anderthalb Tagesreisen) oder von Bucova nach Gura Apei (über den Vf. Pietrii: anderthalb Tagesreisen) gibt es keine Schutzhütten. Die ziemlich dicht gestreuten Hirten- und Holzschlägerhütten kommen nur als Notunterkünfte in Betracht. Gewöhnlich liegen sie weitab von den Kammwegen.
Hinzu kommt die Überlegung: Wozu sich auf langen Wegen „g’fretten“ und Entbehrungen (nicht zuletzt auch kulinarischer Art) auf sich nehmen, wenn man alles, was einem die Banater Zweitausender bieten (und noch viel mehr), bei weniger Energieaufwand und geringerem Risiko im benachbarten Retezat haben kann?
Dem ist entgegenzuhalten: Was die Banater Karpaten bieten, ist weniger erregend, aber genauso einmalig wie das „Angebot“ des Retezat. Und wie es keinem Musikfreund einfällt, eine Haydn-Sinfonie oder ein Mozartsches Klavierkonzert mit Bachs Matthäuspassion zu vergleichen, so sollte auch kein Bergfreund den Retezat seinem Banater „Vorfeld“ abwägend gegenüberstellen.
Einmalig ist im Banater Karpatenland das Erlebnis der Ferne: der weiten Hochwege und Gipfelhorizonte, des weiten Raums. Einmalig ist auch der seltsame Kontrast zwischen den sanften, bis an die Gipfel heranreichenden von Schafherden belebten Almwiesen und den schon „retezatisch“ anmutenden wild-schroffen Gletscherkesseln (auf deren Grund nicht selten Meeraugen glitzern). Und einmalig die beinahe absolute, nur ab und zu von der Melodie ferner Wasser durchzogene Stille.
Die geologische Struktur des Banater Hochgebirges ist ungefähr dieselbe wie im Retezat. Sind doch Retezat, Ţarcu, Bloju und Godeanu „o apă şi un pământ“ („ein Wasser, eine Erde“) – mit dem Unterschied nur, dass hier der kristalline Schiefer dem Granit gegenüber die Oberhand hat.
Flora und Fauna sind ähnlich, aber weniger vielfältig und reich als im Retezat. In der Waldzone herrscht die Buche vor. Sie reicht oft bis an die obere Waldgrenze. Die alpine Krummholzkiefer (Latsche) ist verhältnismäßig rar. Ausgedehnte Latschenfelder gibt es vor allem im Bloju-Massiv. Der Bär fühlt sich in den Banater Karpaten ebenso zu Hause wie im Retezat. Dasselbe gilt vom Hirsch, dem Wildschwein, dem Wolf, dem Fuchs, dem Luchs, der Wildkatze. Die Gämse wird weniger oft gesichtet als im Retezat, und auch die Forelle kommt seltener vor.
Wasserreich sind die Massive Ţarcu, Bloju und Godeanu. Die größten Flüsse heißen hier Hidegu (Quellgebiet im Ţarcu), Râu Şes (Quellgebiet im Godeanu) und Bistra (Bistra Mare oder Bistra Boului mit dem Quellgebiet im Bloju; Bistra Mărului mit dem Quellgebiet zwischen Ţarcu und Bloju). Selbst in zweitausend Meter Höhe trifft man auf Quellen. (Was uns nicht hindern soll, die Flasche stets gefüllt zu halten. Durststrecken gibt es, denn wir bewegen uns gewöhnlich auf hohen Kämmen.)
Jedes Massiv hat seine Meeraugen. Der Iezeru Lucios im Ţarcu, der große Bistra-See und der Netiş-See im Bloju gehören zu den anziehendsten.
Dutzende von Ausgangspunkten bieten sich an. Die wichtigsten sind im Westen Borlova (C.F.R.-Station Karansebesch), Vârciorova (Station Valea Timişului), Armeniş, Rusca (Station Teregova), im Norden Poiana Mărului (Station Zăvoiu) und Bucova, im Südosten die an der Cerna gelegene Siedlung Cerna-Sat (Station Herkulesbad).
Während von Cerna-Sat und Rusca aus der Godeanu und damit der „plai“ anvisiert wird, der von Herkulesbad zum Retezat führt, nimmt man von Armeniş, Vârciorova und Borlova aus den Ţarcu und den über ihn hinaus führenden Plaiu Mare aufs Korn. Das Bloju-Massiv wird am besten von Poiana Mărului oder Bucova aus angegriffen. Die beiden großen „plaiuri“ der Banater Karpaten, Ţarcu – Bloju und Godeanu – Retezat, sind durch die „Hängebrücke“ des Prislop (prislop = Sattel) miteinander verbunden.
Für den Aufstieg zum Ţarcu dürfen wir die Variante Karansebesch – Borlova – Muntele Mic – Şeroni – Cuntu klassisch nennen. Sie ist schon darum beliebt, weil man hier mit Wegzeichen bedient ist (rotes Band ab Borlova).
Viele Muntele-Mic-Besucher wagen, fasziniert vom Anblick der Ţarcu-Burg, einen Abstecher „hinüber“. Sie verlassen den Hüttenkomplex am frühen Morgen und schwingen sich über den Şeroni-Kamm. Beim Kuckucksbrünndl (Fântâna Cucului) in der Nähe der Cuntu-Hütte (Refugiul Cuntu) tanken sie für den Zweieinhalb-Stunden-Aufstieg zum Ţarcu-Gipfel. Bei der Abzweigung oben am Kesselrand steigen sie nicht in den mächtigen Gletscherkessel (Pietrele Dracilor, See), sondern gehen weiter bergan. Von der Wetterwarte am Ţarcu wenden sie sich dem Hauptgipfel Căleanu zu, den sie über die Şeaua Plaiului erreichen. Zurück kommen sie über dieselbe Şeaua Plaiului, wo sie das rote Band wieder aufnehmen, das sie diesmal durch den Kessel hindurch zum Cuntu führt. Der Rückweg zum Muntele Mic ist dann nur noch ein Zeitproblem. Die „Eskapade“ hat etwa zwölf Stunden Marsch gekostet (was man sich, wenn man auf dem Muntele Mic gut verköstigt ist, ruhig leisten kann).
Wer nach Gura Apei strebt (dem Retezat zu), wird vom Cuntu (ganz gleich, ob er von Borlova mit dem roten Band oder von Poiana Mărului mit dem blauen Band zum Muntele Mic gestiegen, von Armeniş den Râu Lung entlang und dann von Zloaba mit der Markierung blaues Kreuz über die Strigoni-Wiese angereist oder von Cârpa [Valea Timişului] – Bolvaşniţa – Vârciorova aus an der Pleşa vorbei über dieselbe Strigoni-Wiese heraufgekommen ist) zur Wegscheide steigen. Er wird sich wahrscheinlich entschließen, quer durch den Kessel zu wandern (falls er nicht daran denkt, bei den Ţarcu-Meteorologen anzuklopfen und nach dem Wetter zu fragen). Er wird dem Căleanu einen Besuch abstatten.
(Das ist nun kein Höflichkeitsbesuch, den man dem „Chef“ schuldet, sondern eine lohnende Einblicknahme in die Abgründe beiderseits des Gipfels und in die wechselvolle Landschaft um den Muntele Mic und Poiana Mărului.) In Richtung Nordost wird er dann den mit rotem Band gesicherten Plaiu Mare weiter verfolgen – problemlos und hochgestimmt. Was jetzt auf ihn zukommt, sind die Quellen des Hidegu (rasten und trinken!), der Pietrele-Albe-Kessel mit den in jeder Hinsicht ansehnlichen Meerauge Iezeru Lucios, der Nevoia-Gipfel (auch Mătania genannt, 2160) mit dem wild-düsteren Mătania-Kessel, die Gipfel Baicu (2119) und Piga, die Şeaua Iepii (der „Stutensattel“, einer der schönsten Bergsättel in diesem Teil der Karpaten), das wild-verwachsene, steil abfallende Corciova-Tal und, als letzte Wegetappe, der sich nun (nach romantischem Mäanderspiel hoch oben im Quellgebiet) mächtig und kräftig zwischen hart aneinanderrückenden Felshängen hindurchzwängende Râu Şes. Das vielleicht schönste Erlebnis auf dem Plaiu Mare ist das gewaltige Gipfelpanorama des Godeanu- Massivs mit dem Riesenkegel des Gugu.
Wer den Godeanu vom Süden her angreift (der Aufstieg von Westen über die Poiana Ruschii und die Tocile, ist schwerer und weniger spektakulär), wird, nachdem er einen Teil des unvergleichlichen Cerna-Tals mitbekommen hat, von Cerna-Sat (bei der Corcoaia-Klamm) zur Oslea Românească (1784) vorstoßen, in elegantem Bogen die Groapa Balmoşului umgehen und auf dem Godeanu-Gipfel endgültig darüber entscheiden, ob er über den Murariu (2284) und den Gugu (2290) den Branu (2031) links liegen lassend nach Gura Apei hin absteigt oder dasselbe tut (nach Gura Apei hinuntergeht), indem er bei der Curmătură zwischen Murariu und Scărişoara in die Valea Mâţului (Izvoru Branului) steigt, an der Tirnowänerhütte (Stâna Bănăţenilor) und der Stâna la Iancu vorbei (wiederum rechts vom Bran) den Waldserpentinen zustrebt, die ihn nach Gura Apei ins ersehnte Quartier bringen. Er könnte auch über den Prislop zum Ţarcu hinüberpendeln. Möglich, dass er sich für die Weiterreise in Ostrichtung (über den oltenisch-siebenbürgischen Godeanu-Fortsatz Scărişoara – Micuşa – Stâna Mare – Galbina – Paltina) entscheidet – mit dem Ziel: Piatra Iorgovanului und Retezat. Wie immer: Die Ereignisse im Godeanu-Gugu-gebiet sind (neben der großartigen Rundsicht vom Gugu aus, die nun auch den Retezat in seiner spezifischen grün-gelb-grauen Färbung greifbar nah zeigt) die Seen des Murariu und des Gugu und, dem Bran-Osthang gegenüber, der tief hinabstürzende Scurtele-Wasserfall.
Wer den Bloju erkunden will (diesen Einsamsten unter den Einsamen), wird zu überlegen haben, ob er von Westen (Poiana Mărului) oder von Norden (Bucova) ins Massiv einsteigt. Beide Varianten sind reizvoll. Bevorzugt ist vorläufig die Westvariante: von Poiana Mărului (wohin man von Zăvoiu aus mit der Kleinbahn gelangt ist) über die Zănoaga (1595); den Sturu (1822), die Lolaia (1870), die Murgani (1964), die Cununa (2105) zum Vf. Pietrii (2190), dem Hauptgipfel.
Von Bucova ausgehend kann man entweder den Kammweg über den Sturu usw. einschlagen oder im Tal der Bistra Boului zu den Bistra-Quellen vordringen, wo man sich die beiden Bistra-Seen aus unmittelbarer Nähe ansieht und dann (nicht ohne Schwierigkeit) zum Kamm hinaufklettert. Im Obertal der Bistra kann es geschehen, dass wir unterwegs auf Hirsche treffen, die, sobald sie uns erblickt haben, herankommen und nicht von unserer Seite weichen. (Meinem Freund, dem Reschitzaer Werkmeister F. K., ist es vor zwei Jahren passiert: Auf dem Scărişoara-Hang über der Bistra verstellte ihm oben am Waldausgang plötzlich ein gut gewachsener Hirsch den Weg. Mein Freund, nicht wenig überrascht, wollte das Tier verscheuchen. Er schwang den Stecken. Umsonst. Nichts. Freund K. versuchte, sich vom „Feind“ abzusetzen. Der Hirsch hielt sich an seine Fersen. Schließlich gelang der „strategische Rückzug“ in eine nah gelegene Holzschlägerhütte. Der Hirsch wartete vor der Tür. Da fiel meinem Freund ein: Salz. Er reichte seinem „Verfolger“ Brot und Salz hinaus. Das Tier verschmähte weder das eine noch das andere. Es rührte sich aber nicht vom Eingang weg. Erst nach Einbruch der Dunkelheit verschwand es im Fichtendickicht. Tags darauf erfuhr mein Freund: Es gibt Hirsche in der Gegend, die sich durch den steten Umgang mit den Holzfällern so sehr an die Menschen gewöhnt haben, dass sie nun auch die Berggäste auf ihre merkwürdige Art anbetteln...)
Drei Gipfel krönen das Bloju-Massiv: der 2190 Meter hohe Vf. Pietrii und seine beiden „Adjutanten“ – im Südwesten der Vf. Bloju (2165), im Nordosten ein 2157 Meter hoher, bisher unbenannter Gipfel, der den Namen Vf. Bistra verdienen würde (denn zu seinen Füßen gähnt der latschenbedeckte Bistra-Kessel mit den erwähnten Bistra-Seen). Mächtiger, zugleich malerischer als der Bistra-Kessel ist der granitübersäte Netiş-Kessel mit dem gleichnamigen, am Fuß der Custura (2093) gelegenen schönen Gletschersee (Tău Netiş, oft auch Tău Pietrii genannt).
Vom Vf. Pietrii führt der kürzeste Weg nach Gura Apei über den Bloju-Gipfel, die Custura und ihren Kamm, durch ein Stück Steilwald zum Râu Mare und von hier schließlich (die letzte halbe Stunde) in Richtung Süd, dann Ost die Straße flussaufwärts.
Auch im Bloju-Gebirge ist es die weite Sicht überallhin, die uns begeistert. Schon vom Sturu an fassen wir den Retezat fest ins Auge. Die Granitburg rückt näher und näher. Sie kehrt uns die westliche Zinne zu: mit dem mächtig aufragenden Retezat-Gipfel, mit der Bucura, der Poarta Bucura, dem Judele. Immer entschiedener aber wirft auch der Gugu, der höchste und stolzeste Berg des Banats, seine pyramidale Schönheit kontrapunktisch in die Waagschale.

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 73, S. 37 – 45)

Seite Bildunterschrift
 
38 Kartenskizze: Vom Ţarcu zur Şaua Iepii.
39 Der Râul Mare, Retezat-Besteigern von der Westseite bekannt, entspringt zwischen Ţarcu und Godeanu.
41 Kartenskizze: Von Cerna-Sat zum Godeanu.
43 Apfelblüte in der Poiana Mărului (im Hintergrund der Ţarcu).
44 Kartenskizze: Von Poiana Mărului zum Vf. Pietrii. Skizzen: Gh. Niculescu. (Die Zeichnungen haben wir dem Touristenführer „Ţarcu-Godeanu“ von Gh. Niculescu entnommen)
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