Abenteuer in der Valea Gălbinelelor
Coştila – die steile Verlockung des Butschetsch
von Walter Kargel
Caraiman und Coştila sind die beiden Bergkolosse, die Buşteni beherrschen. Der Caraiman mit seinem 40 Meter hohen Gipfelkreuz ist bei weitem bekannter als seine dralle Schwester Coştila, und jeder heimgekehrte Bergsteiger wird von den zu Hause gebliebenen Nichtbergsteigern befragt: „Und warst du auch beim Kreuz?“ Die zünftigen aber, die unverbesserlichen Kletterfritzen, die lieben die Coştila. Sie ist der Kletterberg Rumäniens, mit ihrem unvergleichlichen Reichtum an Wänden und Graten, Rinnen und Bändern. Und Kreuzen. Von abgestürzten Bergsteigern.
Valea Gălbinelelor, die „Rinne der Gelben Bergblumen“ *) hat ihren Ursprung in der 2200
Meter hohen Scharte („Strunga“) Gălbinelelor, mitten in der Felswildnis der Coştila-
Steilflanke. Steht man in der Scharte mit den Händen in den Hosentaschen, die
Anorakkapuze tief über die Stirn gezogen, trotz dem schneidend kalten Wind und blickt
gegen Westen, so sieht man links hoch oben den Rand des Coştila-Gipfelplateaus auf rund
2480 Meter Höhe, 6 – 8 Monate des Jahres von einer Wächte gekrönt. Vom Gipfelplateau
fallen steile, grasdurchsetzte Platten ab. Sie bilden einen Trichter, von zwei konvergierenden
Steilrinnen gezeichnet: Valea Scoruşilor und Valea Mălinului, erstere direkt unterhalb der
Gălbinele-Scharte, letztere jenseits eines von Alpenrosen und Krummholz bewachsenen
Buckels. Jenseits des wilden Trichters richtet sich der Mălin-Grat auf, mit seinen zwei
Türmen (Creasta Mălinului, Colţul Mălinului, Colţul Brânei) und zwischen den Türmen der
charakteristische Zahn (Dintele dintre Colţi). Jenseits des Mălin-Grates ahnt man die
romantischen Tiefen des „Hirschentales“ (Valea Cerbului) und dahinter wiederum im
lachenden Sonnenschein, selbst im Hochwinter meistens schneefrei, der Morarul-Kamm mit
dem Kulminationspunkt Omul, dem höchsten Gipfel des Butschetsch.
Wir in unserer Scharte kommen uns wie Zwerge vor zwischen den beiden Felsgestalten, die
uns flankieren: der Schulter („Umărul“) Gălbinelelor im Süden und der Turm („Colţul“) im
Norden. Blicken wir nun ostwärts. Da gähnt zunächst die Gălbinele-Steilrinne, schnurgrade
stürzt sie in einem Schuss hinunter und taucht im Munticelul-Wald unter. Das Tal Valea
Cerbului hat es durch eine Nadelkurve fertiggebracht, quer vor unserer Blickrichtung zu
liegen. Doch sein Geheimnis ist gelüftet. Eine Straße ist sichtbar, quer über Wiesen mit
Autos und orangeroten und blauen Zelten. Dahinter der Waldrücken Muchia Lungă, jenseits
das Prahova-Tal und das zahme Gârbova-Gebirge.
Der V-förmige Einschnitt der Rinne ist links von einer schlanken Felsmauer begrenzt, deren
Zinnen tiefer liegen als unser Standort. Der Mauervorsprung heißt Colţul Gălbinele, dessen
Doppelgipfel aus dem Prahova-Tal sichtbar ist. Die rechte Begrenzungsmauer übertrifft die
linke bei weitem an Höhe und Masse. Der Grat hieß einst Coama de Piatră und ist heute als
Creasta Coştila-Gălbinele jedem Kletterfritzen ein Begriff.
Die dunkle, platte Nordwand Peretele Gălbinelelor ist das Ziel der „Extremen“. Die
Verschneidung zwischen Gălbinele-Wand und Schulter birgt eine Kaminrinne: Hornul
Coamei, je nach Jahreszeit und Umständen ein steiles Firncouloir, eine gefährliche
Lawinenbahn, ein sprudelnder, gestufter Wasserfall oder einfach ein lustiger Kletterweg,
Einleitung oder Ausklang mancher schwieriger Wandkletterei.
Bei weiterer Beachtung merkt man bald, dass die Gălbinele-Rinne noch eine sekundäre
Rinne aufweist, die unterhalb des Colţul Gălbinelelor ihren Ursprung hat. Obendrein ist die
Felsrippe zwischen Sekundär- und Hauptrinne noch durch einen Kamin gespalten, der einen
bequemen, steinschlag- und lawinensicheren Aufstieg ermöglicht.
Die große Nordwand ist am besten nicht aus der Scharte, sondern von einem tiefer
gelegenen Punkt zu übersehen, und zwar vom komfortablen Hotel Gălbinele, zu dem schon
mancher vorzeitig ermüdete Anfänger mit der Vorspiegelung kühler Bierflaschen
hinaufgelockt wurde (herbe Enttäuschung: es ist ja bloß ein feuchtes Felsloch). Jäger und
Wilderer ließen die ersten Trittspuren in der Rinne. Ihnen folgten die Pioniere des
Bergsteigens. Bucura Dumbravă erwähnt die Rinne in ihrem reizenden Büchlein. 1931 wurde
die „Gruparea Alpină“ **) von Nae Dumitriu, N. Comănescu, G. Frim, I. Sincan, Traian
Belitoreanu, Al. Beldie und V. Nicolau gegründet. Sie hatten Hornul Coamei und Colţul
Gălbinele erstiegen, und Comănescu, dem der Picătura-Gipfel am Caraiman und Hornul
Central im Mălin-Gebiet gelungen war, liebäugelte bereits mit der Nordwand. Er war Matador
der Gruppe und duldete keine Konkurrenz. Doch die war schon da. Nae Baticu saß eines
schönen Sonntags auf der hohen Warte des Colţul Gălbinele und starrte hypnotisiert auf die
Wand. Seine Augen suchten und fanden eine Durchstiegsmöglichkeit, und er beschloss, den
Versuch zu wagen. Sonntag auf Sonntag trainierte er zielstrebig. Dabei gelang ihm mit drei
Gefährten die Erstbesteigung der Schulter über den östlichen Riss – Fisura Gălbinelelor.
Eine Woche darauf, am 20. September 1935, startete er den großen Versuch. In den frühen
Morgenstunden eines goldenen Herbsttages stolperten drei Bergsteiger durch den dunklen
Hochwald und kletterten die Rinne hoch zum Einstieg. Ihre „Ausrüstung“ bestand aus zwei
25 Meter langen Wäscheleinen, die sie am Bukarester Viktualienmarkt (Obor) erstanden
hatten, 4 Karabiner, 2 gewöhnliche Hammer und 6 Haken (einen siebenten fanden sie
unterwegs in der Rinne). Zwei von ihnen kletterten in Strandpatschen mit geflochtener
Hanfsohle, der dritte in Socken. Begeisterung ersetzte die fehlende Klettertechnik und Glück
machte Fehler wett. Als die Sterne aufleuchteten, gaben sich die drei am Grat die Hand: „Die
Gabel“ – Furcile – war bezwungen.
Bereits am 31. Mai des nächsten Jahres (1936) gelang N. Baticu, Toma Boerescu und
Gefährten die populärste Führe des Butschetsch-Klettergebietes: Creasta Coştila-Gălbinele,
ein heftiger, abwechslungsreicher Felsgrat, der wie eine Treppe mit 20 bis 40 Meter hohen
Stufen aus dem Munticelul-Wald zum „Großen-Coştila-Band“ (Brâul Mare) emporschießt,
rechts die senkrechte Gălbinele-Wand, links die senkrechte Coştila-Wand, die im obersten
Teil einem gras- und latschenbewachsenen Amphitheater weicht.
Drei Sommer und wiederholte Versuche waren notwendig, um die zweite Führe der
Gălbinele-Wand zu durchsteigen. „Der große Überhang“ (Marea Surplombă) wurde von
Toma Boerescu und Genossen 1938 bezwungen.
Die Stürme des zweiten Weltkrieges begannen Rumänen zu erschüttern, und nur noch
wenige Bergsteiger fanden Zeit für die geliebte Gălbinele-Rinne, darunter der junge Student
Ion Coman. Mit seinem Seilgefährten Dr. O. Schöbesch gelang ihm 1940 eine zweite Führe
zum Schultergipfel: die Nordkante. 1942 war die Furci-Führe erst zwei- oder dreimal
durchstiegen. Coman hatte eine Beschreibung und kletterte im Nebel daneben. Er versuchte
mit Mircea Petrulian den Grat auf einer neuen, bis heute nicht wiederholten Führe rechts der
„Gabel“. Schon am darauffolgenden Tag bestieg er den Colţul Gălbinele über die
jungfräuliche Ostkante. Die Stürme des zweiten Weltkrieges verebbten und die alten
Kämpfer kehrten zurück in ihre Bergheimat. Vergebens hatten Toma Boerescu und
Costache Corteş die „Drei Überhänge“ („Cele Trei Surplombe“) bestürmt. Ein neuer
Bewerber erschien: Emilian Cristea. Endlich am 20. Juli 1946 gelang N. Baticu, E. Cristea,
G. Nicolescu und Sorin Tulea der Durchstieg der schwierigsten Führe der Gălbinele-Wand.
In der Folge hatten die „Drei Überhänge“ eine turbulente Geschichte. Puiu Fomino stürzte
und kletterte weiter. Dorin Grigorescu stürzte und brach sich ein Bein. Kari, ein Anfänger,
musste einsehen, dass er den Schwierigkeiten nicht gewachsen war, seilte sich ab – der
Haken flog heraus und Kari stürzte ab. Durch ein Wunder blieb er auf einem schmalen Band
liegen und kam mit dem Bruch beider Oberschenkel davon. 1955 stürzte Andrei Ghiţescu ab.
1947 gelang Gheorghe Coşculeţ und Dinu Cunescu eine der beliebtesten Führen des
Gălbinele-Gebietes: die Roşculeţ-Führe der Schulter.
1952 stellte sich die junge Generation wieder einmal zum Kampf. Andrei Ghiţescu gelangen
in seiner kurzen Bergsteigerlaufbahn mehr große Fahrten und Erstbegehungen als
manchem Bergsteiger ein Leben lang. Mircea Bogdan und Andrei Ghiţescu durchstiegen die
Furci erstmalig im Winter. Ion Barbu durchstieg erstmals die Grotelor-Führe und stürzte bei
seinem Alleingang von der Creasta-Coştila-Gălbinele tödlich ab. Puiu Fomino durchstieg
allein die Furci. Andrei Ghiţescu bewältigte mit Jo Petrov den Zentralen Überhang und
versuchte sich am großen Dach.
Immer neue Führen wurden ausgemacht und begangen. 1956 durchstieg der junge
Geologiestudent Dan Lubenescu mit seinen Gefährten eine Führe zwischen den drei
Überhängen und den Grotelor und benannte sie nach seinem Lehrer: Professor-Oncescu-
Führe.
1957 gelang die vielbesprochene Furca Dreaptă (die „Rechte Gabel“) dem jungen „Bulinel“
(wie so mancher Alpinist war er nur durch seinen Spitznamen unter den Bergsteigern
bekannt). Durch ihren überaus brüchigen Fels berüchtigt, wurde die rechte Gabel bis heute
erst zweimal durchstiegen – der zweite Durchstieg ebenfalls durch Bulinel mit tschechischen
Gefährten.
Die Gălbinele-Wand schien erschöpft. Man wandte sich der Colţul-Gălbinele-Südwand zu. In
ihrem unteren Teil eröffneten Sandy Stătescu und „Jupânu“ Ion Chiciorea die „Reiher-Führe“
(Traseul Cocostârcului) und unweit davon Bordea und Petcu den „Hängenden Kamin“
(Hornul Agăţat).
Und wieder kam die Gălbinele-Wand ins Rampenlicht. Die Zwillingsbrüder Dan und Doru
Vasilescu fanden zwei neue mittelschwere Durchstiege im extremen Osten der Wand:
Tavanele de Argint – „die silbernen Dächer“ – und Hornul Mare, der „Große Kamin“.
Gibt es immer noch Neuland?
Seit 1952, als ich mit Andrei Ghiţescu das Große Dach unterhalb der „Gabel“ angegangen
hatte, ließ es mir keine Ruhe. 1968 kehrte ich mit Radu Slăvoacă wieder. Drei Sonntage
versuchte ich mich daran. Es galt 13 Meter horizontal unter dem Dach hinauszuklettern,
wobei die Haken von unten nach oben in einen Haarriss einzutreiben und auf Zug zu
beanspruchen waren. Den vierten Sonntag überkletterte ich endlich den Rand vor den
Augen zahlreicher Zuschauer, die sich auf den bequemen Latschenhängen sonnten.
Zwei Jahre später holte ich mir mit Toni Hiebeler, Bezwinger der Eiger Nordwand im Winter
und „Alpinismus“-Chef, die zweite Begehung. Toni dazu: Es gibt kein Gegenstück dazu in
den Alpen, mit Ausnahme des „Größten Daches der Welt“ in der Westlichen Zinne-
Nordwand.
Herbst 1969. Radu Slăvoacă eröffnete eine neue Führe in der Schulter-Ostwand –
klassische Freikletterei, wenig Haken. Das neueste Stückchen leisteten sich Dumitru Chivu
und der „Doktor“ Nicolae Naghi. In glänzender Form benötigten sie nur einen Tag zur ersten
Winterbegehung der schwierigen „Drei Überhänge“-Führe im Januar 1971, den Aufstieg von
und Abstieg nach Buşteni mit inbegriffen.
*) Doronicum carpaticum = Karpaten-Gemswurz
**) ab 1934 „Clubul Alpin Român“
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 73, S. 186 – 190)
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