home - Komm mit - 1973 - Durch die „Gabel“, unter „silbernen Dächern“
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Durch die „Gabel“, unter „silbernen Dächern“

Abenteuer in der Valea Gălbinelelor
Coştila – die steile Verlockung des Butschetsch

von Walter Kargel

Caraiman und Coştila sind die beiden Bergkolosse, die Buşteni beherrschen. Der Caraiman mit seinem 40 Meter hohen Gipfelkreuz ist bei weitem bekannter als seine dralle Schwester Coştila, und jeder heimgekehrte Bergsteiger wird von den zu Hause gebliebenen Nichtbergsteigern befragt: „Und warst du auch beim Kreuz?“ Die zünftigen aber, die unverbesserlichen Kletterfritzen, die lieben die Coştila. Sie ist der Kletterberg Rumäniens, mit ihrem unvergleichlichen Reichtum an Wänden und Graten, Rinnen und Bändern. Und Kreuzen. Von abgestürzten Bergsteigern.

Valea Gălbinelelor, die „Rinne der Gelben Bergblumen“ *) hat ihren Ursprung in der 2200 Meter hohen Scharte („Strunga“) Gălbinelelor, mitten in der Felswildnis der Coştila- Steilflanke. Steht man in der Scharte mit den Händen in den Hosentaschen, die Anorakkapuze tief über die Stirn gezogen, trotz dem schneidend kalten Wind und blickt gegen Westen, so sieht man links hoch oben den Rand des Coştila-Gipfelplateaus auf rund 2480 Meter Höhe, 6 – 8 Monate des Jahres von einer Wächte gekrönt. Vom Gipfelplateau fallen steile, grasdurchsetzte Platten ab. Sie bilden einen Trichter, von zwei konvergierenden Steilrinnen gezeichnet: Valea Scoruşilor und Valea Mălinului, erstere direkt unterhalb der Gălbinele-Scharte, letztere jenseits eines von Alpenrosen und Krummholz bewachsenen Buckels. Jenseits des wilden Trichters richtet sich der Mălin-Grat auf, mit seinen zwei Türmen (Creasta Mălinului, Colţul Mălinului, Colţul Brânei) und zwischen den Türmen der charakteristische Zahn (Dintele dintre Colţi). Jenseits des Mălin-Grates ahnt man die romantischen Tiefen des „Hirschentales“ (Valea Cerbului) und dahinter wiederum im lachenden Sonnenschein, selbst im Hochwinter meistens schneefrei, der Morarul-Kamm mit dem Kulminationspunkt Omul, dem höchsten Gipfel des Butschetsch.
Wir in unserer Scharte kommen uns wie Zwerge vor zwischen den beiden Felsgestalten, die uns flankieren: der Schulter („Umărul“) Gălbinelelor im Süden und der Turm („Colţul“) im Norden. Blicken wir nun ostwärts. Da gähnt zunächst die Gălbinele-Steilrinne, schnurgrade stürzt sie in einem Schuss hinunter und taucht im Munticelul-Wald unter. Das Tal Valea Cerbului hat es durch eine Nadelkurve fertiggebracht, quer vor unserer Blickrichtung zu liegen. Doch sein Geheimnis ist gelüftet. Eine Straße ist sichtbar, quer über Wiesen mit Autos und orangeroten und blauen Zelten. Dahinter der Waldrücken Muchia Lungă, jenseits das Prahova-Tal und das zahme Gârbova-Gebirge.
Der V-förmige Einschnitt der Rinne ist links von einer schlanken Felsmauer begrenzt, deren Zinnen tiefer liegen als unser Standort. Der Mauervorsprung heißt Colţul Gălbinele, dessen Doppelgipfel aus dem Prahova-Tal sichtbar ist. Die rechte Begrenzungsmauer übertrifft die linke bei weitem an Höhe und Masse. Der Grat hieß einst Coama de Piatră und ist heute als Creasta Coştila-Gălbinele jedem Kletterfritzen ein Begriff.
Die dunkle, platte Nordwand Peretele Gălbinelelor ist das Ziel der „Extremen“. Die Verschneidung zwischen Gălbinele-Wand und Schulter birgt eine Kaminrinne: Hornul Coamei, je nach Jahreszeit und Umständen ein steiles Firncouloir, eine gefährliche Lawinenbahn, ein sprudelnder, gestufter Wasserfall oder einfach ein lustiger Kletterweg, Einleitung oder Ausklang mancher schwieriger Wandkletterei.
Bei weiterer Beachtung merkt man bald, dass die Gălbinele-Rinne noch eine sekundäre Rinne aufweist, die unterhalb des Colţul Gălbinelelor ihren Ursprung hat. Obendrein ist die Felsrippe zwischen Sekundär- und Hauptrinne noch durch einen Kamin gespalten, der einen bequemen, steinschlag- und lawinensicheren Aufstieg ermöglicht.
Die große Nordwand ist am besten nicht aus der Scharte, sondern von einem tiefer gelegenen Punkt zu übersehen, und zwar vom komfortablen Hotel Gălbinele, zu dem schon mancher vorzeitig ermüdete Anfänger mit der Vorspiegelung kühler Bierflaschen hinaufgelockt wurde (herbe Enttäuschung: es ist ja bloß ein feuchtes Felsloch). Jäger und Wilderer ließen die ersten Trittspuren in der Rinne. Ihnen folgten die Pioniere des Bergsteigens. Bucura Dumbravă erwähnt die Rinne in ihrem reizenden Büchlein. 1931 wurde die „Gruparea Alpină“ **) von Nae Dumitriu, N. Comănescu, G. Frim, I. Sincan, Traian Belitoreanu, Al. Beldie und V. Nicolau gegründet. Sie hatten Hornul Coamei und Colţul Gălbinele erstiegen, und Comănescu, dem der Picătura-Gipfel am Caraiman und Hornul Central im Mălin-Gebiet gelungen war, liebäugelte bereits mit der Nordwand. Er war Matador der Gruppe und duldete keine Konkurrenz. Doch die war schon da. Nae Baticu saß eines schönen Sonntags auf der hohen Warte des Colţul Gălbinele und starrte hypnotisiert auf die Wand. Seine Augen suchten und fanden eine Durchstiegsmöglichkeit, und er beschloss, den Versuch zu wagen. Sonntag auf Sonntag trainierte er zielstrebig. Dabei gelang ihm mit drei Gefährten die Erstbesteigung der Schulter über den östlichen Riss – Fisura Gălbinelelor.
Eine Woche darauf, am 20. September 1935, startete er den großen Versuch. In den frühen Morgenstunden eines goldenen Herbsttages stolperten drei Bergsteiger durch den dunklen Hochwald und kletterten die Rinne hoch zum Einstieg. Ihre „Ausrüstung“ bestand aus zwei 25 Meter langen Wäscheleinen, die sie am Bukarester Viktualienmarkt (Obor) erstanden hatten, 4 Karabiner, 2 gewöhnliche Hammer und 6 Haken (einen siebenten fanden sie unterwegs in der Rinne). Zwei von ihnen kletterten in Strandpatschen mit geflochtener Hanfsohle, der dritte in Socken. Begeisterung ersetzte die fehlende Klettertechnik und Glück machte Fehler wett. Als die Sterne aufleuchteten, gaben sich die drei am Grat die Hand: „Die Gabel“ – Furcile – war bezwungen.
Bereits am 31. Mai des nächsten Jahres (1936) gelang N. Baticu, Toma Boerescu und Gefährten die populärste Führe des Butschetsch-Klettergebietes: Creasta Coştila-Gălbinele, ein heftiger, abwechslungsreicher Felsgrat, der wie eine Treppe mit 20 bis 40 Meter hohen Stufen aus dem Munticelul-Wald zum „Großen-Coştila-Band“ (Brâul Mare) emporschießt, rechts die senkrechte Gălbinele-Wand, links die senkrechte Coştila-Wand, die im obersten Teil einem gras- und latschenbewachsenen Amphitheater weicht.
Drei Sommer und wiederholte Versuche waren notwendig, um die zweite Führe der Gălbinele-Wand zu durchsteigen. „Der große Überhang“ (Marea Surplombă) wurde von Toma Boerescu und Genossen 1938 bezwungen.
Die Stürme des zweiten Weltkrieges begannen Rumänen zu erschüttern, und nur noch wenige Bergsteiger fanden Zeit für die geliebte Gălbinele-Rinne, darunter der junge Student Ion Coman. Mit seinem Seilgefährten Dr. O. Schöbesch gelang ihm 1940 eine zweite Führe zum Schultergipfel: die Nordkante. 1942 war die Furci-Führe erst zwei- oder dreimal durchstiegen. Coman hatte eine Beschreibung und kletterte im Nebel daneben. Er versuchte mit Mircea Petrulian den Grat auf einer neuen, bis heute nicht wiederholten Führe rechts der „Gabel“. Schon am darauffolgenden Tag bestieg er den Colţul Gălbinele über die jungfräuliche Ostkante. Die Stürme des zweiten Weltkrieges verebbten und die alten Kämpfer kehrten zurück in ihre Bergheimat. Vergebens hatten Toma Boerescu und Costache Corteş die „Drei Überhänge“ („Cele Trei Surplombe“) bestürmt. Ein neuer Bewerber erschien: Emilian Cristea. Endlich am 20. Juli 1946 gelang N. Baticu, E. Cristea, G. Nicolescu und Sorin Tulea der Durchstieg der schwierigsten Führe der Gălbinele-Wand. In der Folge hatten die „Drei Überhänge“ eine turbulente Geschichte. Puiu Fomino stürzte und kletterte weiter. Dorin Grigorescu stürzte und brach sich ein Bein. Kari, ein Anfänger, musste einsehen, dass er den Schwierigkeiten nicht gewachsen war, seilte sich ab – der Haken flog heraus und Kari stürzte ab. Durch ein Wunder blieb er auf einem schmalen Band liegen und kam mit dem Bruch beider Oberschenkel davon. 1955 stürzte Andrei Ghiţescu ab. 1947 gelang Gheorghe Coşculeţ und Dinu Cunescu eine der beliebtesten Führen des Gălbinele-Gebietes: die Roşculeţ-Führe der Schulter.
1952 stellte sich die junge Generation wieder einmal zum Kampf. Andrei Ghiţescu gelangen in seiner kurzen Bergsteigerlaufbahn mehr große Fahrten und Erstbegehungen als manchem Bergsteiger ein Leben lang. Mircea Bogdan und Andrei Ghiţescu durchstiegen die Furci erstmalig im Winter. Ion Barbu durchstieg erstmals die Grotelor-Führe und stürzte bei seinem Alleingang von der Creasta-Coştila-Gălbinele tödlich ab. Puiu Fomino durchstieg allein die Furci. Andrei Ghiţescu bewältigte mit Jo Petrov den Zentralen Überhang und versuchte sich am großen Dach.
Immer neue Führen wurden ausgemacht und begangen. 1956 durchstieg der junge Geologiestudent Dan Lubenescu mit seinen Gefährten eine Führe zwischen den drei Überhängen und den Grotelor und benannte sie nach seinem Lehrer: Professor-Oncescu- Führe.
1957 gelang die vielbesprochene Furca Dreaptă (die „Rechte Gabel“) dem jungen „Bulinel“ (wie so mancher Alpinist war er nur durch seinen Spitznamen unter den Bergsteigern bekannt). Durch ihren überaus brüchigen Fels berüchtigt, wurde die rechte Gabel bis heute erst zweimal durchstiegen – der zweite Durchstieg ebenfalls durch Bulinel mit tschechischen Gefährten.
Die Gălbinele-Wand schien erschöpft. Man wandte sich der Colţul-Gălbinele-Südwand zu. In ihrem unteren Teil eröffneten Sandy Stătescu und „Jupânu“ Ion Chiciorea die „Reiher-Führe“ (Traseul Cocostârcului) und unweit davon Bordea und Petcu den „Hängenden Kamin“ (Hornul Agăţat).
Und wieder kam die Gălbinele-Wand ins Rampenlicht. Die Zwillingsbrüder Dan und Doru Vasilescu fanden zwei neue mittelschwere Durchstiege im extremen Osten der Wand: Tavanele de Argint – „die silbernen Dächer“ – und Hornul Mare, der „Große Kamin“. Gibt es immer noch Neuland?
Seit 1952, als ich mit Andrei Ghiţescu das Große Dach unterhalb der „Gabel“ angegangen hatte, ließ es mir keine Ruhe. 1968 kehrte ich mit Radu Slăvoacă wieder. Drei Sonntage versuchte ich mich daran. Es galt 13 Meter horizontal unter dem Dach hinauszuklettern, wobei die Haken von unten nach oben in einen Haarriss einzutreiben und auf Zug zu beanspruchen waren. Den vierten Sonntag überkletterte ich endlich den Rand vor den Augen zahlreicher Zuschauer, die sich auf den bequemen Latschenhängen sonnten.
Zwei Jahre später holte ich mir mit Toni Hiebeler, Bezwinger der Eiger Nordwand im Winter und „Alpinismus“-Chef, die zweite Begehung. Toni dazu: Es gibt kein Gegenstück dazu in den Alpen, mit Ausnahme des „Größten Daches der Welt“ in der Westlichen Zinne- Nordwand.
Herbst 1969. Radu Slăvoacă eröffnete eine neue Führe in der Schulter-Ostwand – klassische Freikletterei, wenig Haken. Das neueste Stückchen leisteten sich Dumitru Chivu und der „Doktor“ Nicolae Naghi. In glänzender Form benötigten sie nur einen Tag zur ersten Winterbegehung der schwierigen „Drei Überhänge“-Führe im Januar 1971, den Aufstieg von und Abstieg nach Buşteni mit inbegriffen.

*) Doronicum carpaticum = Karpaten-Gemswurz

**) ab 1934 „Clubul Alpin Român“

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 73, S. 186 – 190)

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