800 Kilometer Wasserstraße / Städte, Burgen und Bauern
von Franz Heinz
Die „Achse Siebenbürgens“ wird dieser Fluss noch genannt, den die Rumänen Mureş, die Ungarn Maros, die Siebenbürger Sachsen Mieresch und die Banater Schwaben Marosch heißen – jeder nach seiner Zunge und mit nur sehr gelinden Unterschieden. Tatsächlich teilt er das siebenbürgische Hochland in zwei fast gleiche Hälften, ebenso unsere Westkarpaten und dann die große Ebene im Westen bis zur Theiß. Sieht man näher hin, so merkt man, dass die Teilung durchaus nicht nur eine der vielen blauen Linien auf der Karte ist, sondern dass sie geographisch gut unterscheidbare Landschaften voneinander abgrenzt, dass der Fluss zugleich Scheide und Sammelbecken der Kulturen der lebenden Bevölkerung ist. Anders geartet ist die nördlich gelegene „Siebenbürgische Ebene“ als das Hochland der beiden Kokeln, anders das Motzenland als die Poiana Rusca. Und wenn die Schwaben des Arader Gebietes ihre Landsleute südlich der Marosch „Phittjer“ nennen, so ist daraus zu folgern, dass sie in ihnen „andere“ Schwaben sehen. Und richtig sind dort die Häuser anders, die Tracht und auch die Mundart.
Der Fluss entspringt im Hăşmaşul Mare (1793 m), von dem
drei Gewässer in drei Richtungen ausgehen – der Mieresch nach Norden, der Alt
nach Süden und der Bicaz nach Osten. Schön ist das Alttal bei Cozia und einmalig
ist die Bicaz-Klamm, kein anderer Fluss aber hat so sein Land wie der Marosch.
Jahrhundertelang fuhren ihn die Salzschiffe hinunter, und Eroberer und Prediger
zogen ihn, aus dem Tiefland kommend, hinauf; von Topliţa an, wo der Fluss
sich zwischen den vulkanischen Gebirgsstöcken des Căliman und Gurghiul
einen Weg bricht, schwammen bis vor wenigen Jahrzehnten die Holzflöße talab in
das waldarme Land, und Städte wuchsen an seinem Lauf und wachsen weiter:
Gheorgheni, Topliţa, Regen, Târgu Mureş, Luduş,
Aiud, Alba Iulia, Orăştie, Simeria, Deva, Lippa, Arad. Und Burgen
wurden bei Deva und Schoimosch gebaut und verfielen, und Festungen in
Târgu Mureş, Alba Iulia und Arad, kunstvolle Sterne mit
„uneinnehmbaren“ Kasematten. Berühmte Bibliotheken (Teleki und Batthyany), der
Baumpark in Simeria, Edelobst bei Săvărşin, Treibhäuser bei
Arad, Erinnerungen an Schiffsmühlen und Strom aus Mintia, Zucker aus Luduş,
Drehbänke aus Arad – das alles finden wir an diesem viernamigen Fluss.
Und die unvergessene Tat Mihai Viteazuls in Alba Iulia, und der Balkon der
Königin Isabella auf dem Schoimoscher Burgberg; unvergessen auch die
aufständischen Bauern Dojas und Horeas, die Exekution der dreizehn Generale im
Jahre 1849 in der Arader Festung und des Antifaschisten Jakob Schmelzer vor der
Kaserne in Neuarad.
Und ewig der Kampf gegen das Hochwasser. 200 Jahre lang bauten die Städte und
die Bauern am Unterlauf an den Dämmen; die Alten unter uns wissen noch von dem
Hochwasser des Jahres 1932 zu erzählen, die Chroniken berichten bis ins 18.
Jahrhundert zurück von verheerenden Überschwemmungen. Nie aber war das Wasser so
gewaltig wie im Mai 1970: Târgu Mureş war überflutet, Alba Iulia
stand anderthalb Meter unter Wasser, bei Orăştie wälzte sich der
Fluss sechs Kilometer breit über das Land, Arad wurde von Zehntausenden
verteidigt, in Secusigiu wurden in einer Nacht 25 000 Sandsäcke auf eine zwölf
Kilometer lange Deichlinie gelegt.
Im Sommer darauf aber tuckerten wieder Motorpumpen an den Ufern, schöpften
Wasser und trieben es durch kunstvolle Kanalsysteme in das durstige Land. Denn
es war immer schwer, mit dem Fluss zu leben, aber ohne ihn wäre es unmöglich
gewesen.
880 Kilometer weit sucht er sich seinen Weg nach Westen, bis er bei Szegedin,
als größter Nebenfluss der Theiß, etwa 200 Meter breit einmündet, die Gewässer
aus einem 28 000 Quadratkilometer großen Stromgebiet dem größeren Bruder
zuführt; Wasser aus den Ostkarpaten, vom Retezat, aus dem Westgebirge, den
Arieş und den Ampoi, die Kokeln und den Mühlbach, den Strei.
Es ist ein weiter Weg bis Tschanad, wo die Marosch noch einige Kilometer
Grenzfluss ist und dann unser Land ganz verlässt. Flughäfen in Târgu
Mureş, in Deva und Arad liegen an ihrem Lauf, viele Brücken überspannen
sie, und die zahlreichen Fähren versehen Tag und Nacht ihren Dienst. Er ist ein
zugänglicher und ein geselliger Fluss. Von Izvoru Mureşului bei
Gheorgheni bis nach Tschanad bei Großsanktnikolaus fahren die Züge (bis Arad
Schnellzüge); außer einem kurzen Abschnitt am Oberlauf (bei Topliţa)
folgt ihm auf seiner ganzen Länge eine Asphaltstraße mit Abzweigungen nach
Piatra Neamţ, Borsec, Bistritz, Schäßburg, Cluj, Sibiu, Lugosch,
Temesvar, Oradea, Winga. Und für Wassertüchtige ist er ab Topliţa mit
Boot oder Floß befahrbar.
Beste Reisezeit für die Marosch ist der Spätsommer (Mitte August – Mitte
September), wenn das Wasser niedrig und klar ist und Platz lässt für die weißen
Sandbänke, die es in den Krümmungen aufschüttet. Mit einem mittleren Durchfluss
von 153 Kubikmetern in der Sekunde (bei Arad) gehört die Marosch zu den
wasserreichen Flüssen Rumäniens. Die jahreszeitlichen Schwankungen sind jedoch
sehr groß. So wurde bei Hochwasser in Arad ein Durchfluss von mehr als 1500
Kubikmeter in der Sekunde gemessen, bei Niedrigwasser hingegen weniger als 30.
Verspätete Hochwasser (Mai, Juni) verursachen in der Regel der Mühlbach und der
Strei infolge der Schneeschmelze im Hochgebirge. Im Spätsommer aber ist der
Fluss friedlich und freundlich wie sonst in keiner Jahreszeit. Die Fischer am
Unterlauf lieben diese Zeit besonders, und wir tun gut daran, uns darin nach
ihnen zu richten.
Es gibt viele Möglichkeiten, den Fluss zu bereisen. Wer sich nur auf die Städte
zu beschränken beabsichtigt, der sollte auch an die kleineren Städte denken – an
Topliţa, Regen, Aiud und Lippa. Und wer bei Izvoru Mureşului zur
Quelle hinaufsteigt, der sollte noch einen Tag zulegen und 60 Kilometer weiter,
zwischen Topliţa und Deda, es miterleben, wie sich der Mieresch aus dem
Gebirge hinauskämpft in das gastlichere Hochland.
Am meisten von ihm werden allerdings die wissen, die mit seinem Wasser wandern,
im Boot oder auf einem leicht und billig zu zimmernden Floß, das zwar langsamer
ist, aber unvergleichlich wohnlicher. Auch in der Wahl des Bootes sollte man
mehr auf den „Komfort“ als auf die Sportlichkeit achten. Ein geräumiger
Marosch-Kahn ist entschieden vorteilhafter als ein Paddelboot, das unterwegs
auch ein Minimum an Bewegungsmöglichkeit nicht zu bieten vermag, und kaum Zelt
und Proviant für mehrere Tage aufnehmen kann. Wir setzen dabei voraus, dass es
uns bei der Fahrt nicht um die sportliche Leistung geht, sondern um das
einmalige Erlebnis einer Flusslandschaft, einer Reise, die unsere
Selbständigkeit herausfordert, unseren Beobachtungssinn. Jedes Anlegen und jedes
Abstoßen vom Ufer ist ein kleines Abenteuer, wir fischen unterwegs und brennen
abends vor dem Zelt ein Feuer nieder.
Eine ausgiebige und abwechslungsreiche fahrt lässt sich von Deva flussabwärts
unternehmen, gut 200 Kilometer weit durch Bergland und an Arad vorbei ins
Tiefland des Banats. Eine Fahrt, die in acht Tagen leicht geschafft werden kann.
Aber auch nur eine Zwei-Tage-Fahrt von Arad nach Periam Port oder bis Igriş hinunter kann unvergesslich sein. Die Marosch ist groß genug für diese Ebene, und vielleicht muss man sie gerade hier erleben, wenn man sie verstehen und lieben will. Nirgends sonst sind die Sandbänke schöner als unterhalb von Petschka, nirgends sonst begegnen wir mehr Vögeln als im Ufer- und Inselwald dieses Abschnitts, und nirgends baden wir besser als hier in der Steppe. Über uns lärmen die Bienenwölfe in starken Schwärmen, schlanke Reiher stehen nachdenklich vor dem Wasser, und gegen Abend fallen Wildenten ein und im Akazienwald bei Periam Port Tausende Krähen. Hier hören wir die schönsten Fischergeschichten, und es fällt uns nicht einmal schwer, sie auch zu glauben.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 72, S. 72 – 80)
Seite | Bildunterschrift |
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73 | Beglaubigung für eine Maroschstadt: Schlanke Boote aus Regen. |
76 | Fischer und Fischerinnen unter der Schoimoscher Burg. |
77 | Laubengang des türkischen Basars in Lippa. |
79 | Arad baut sein Zentrum ans Ufer. Im Vorergrund das Hotel „Astoria“. |
80 | An der Marosch im Sommer zu Hause: Maler Franz Ferch. |