Wo gibt es Gämsen und wie bekommt man sie zu sehen?
von Klaus Peter Zsivanovits
Budapest 1971, internationale Jagdausstellung. Aus aller Herren Ländern drängen
sich die Besucher vor den Ständen, vielsprachiges Stimmengewirr erfüllt die
Räume. Neben der festlichen Stimmung herrscht erregte Erwartung. Unerbittliche
Fachleute werden die wertvollsten der hier gezeigten Trophäen ermitteln.
Einer der Hauptanziehungspunkte ist der rumänische Pavillon. Jeder will die
starken Trophäen aus den Jagdgründen der Karpaten sehen, die auch diesmal
bestimmt wieder die meisten Preise erhalten werden. Beim Gamswild fesseln die
Besucher ein Paar Krucken mit fast 34 Zentimeter langen Schläuchen. Es ist der
Weltrekordbock von 1937. Auch hier, in Budapest, kann sich keine andere
Gamstrophäe mit ihm messen. Der 1934 am Gârdomanul im Fogarascher Gebirge
erlegte Bock bleibt weiterhin ungeschlagen.
Blättern wir die Kataloge der internationalen Jagdausstellungen vergangener
Jahre durch, so werden wir eine für unsere Karpaten überaus günstige Statistik
vorfinden.
Wien 1910: Für Gamswild hat ein am Pietrosul, in den Rodnaer Bergen, erlegter
Bock den Weltrekord aufgestellt.
Leipzig 1930: Die ersten fünf Preise werden Trophäen aus den Fogaraschern und
vom Königstein vergeben.
Berlin 1937: Von den fünfzehn hier ausgestellten rumänischen Gamskrucken
erhalten elf Ehrenschilde. Die Sensation ist der oben erwähnte Bock vom
Gârdomanul, dem der Weltrekord zuerkannt wird.
Weder in Florenz 1964 noch in Novi Sad 1967 wurde dieser Rekord überboten und,
wie wir sahen, auch nicht in Budapest.
Warum werden bei allen Jagdausstellungen den rumänischen Gamstrophäen die ersten
Preise zugesprochen? Lebt in den Karpaten etwa eine besondere Art dieses
Bergwildes? Der Zoologe antwortet auf diese Frage mit einem klaren Nein.
Die Gämse gehört, systematisch gesehen, zu der Unterfamilie der Böcke (also
nicht zu den Antilopen, wie viele glauben) und ist die einzige Art der Gattung
Gämsen (Rupicapra).
In Europa lebt die Gämse in allen Gebirgslagen zwischen 700 und 3500 Meter, von
den Pyrenäen bis zum Kaukasus mit Ausnahme Englands und Skandinaviens. Die
Wechselbeziehungen zwischen den Beständen der einzelnen Gebirgsstöcke wurden in
geschichtlicher Zeit durch den Menschen unterbrochen; er besiedelte weite
Landstriche und machte sie urban. So bildeten sich, den gegebenen
Lebensbedingungen entsprechend, auf jeder Gebirgs-„Insel“ eigene Formen, die den
Zoologen immer noch Stoff zu Streitfragen liefern. Handelt es sich bei den
einzelnen Populationen um echte Unterarten der Gämsen oder um geographische
Rassen? Im Allgemeinen neigt man dazu, die Unterart gelten zu lassen.
Die raue Welt der rumänischen Karpaten hat hartes, widerstandsfähiges Leben
entstehen lassen. Auf die kurzen Sommermonate mit ihrem Überfluss folgen lange
schneereiche Winter. Wenn die hohen Lagen im Schnee versinken, ist es dem
Forstpersonal unmöglich, die Futterraufen zu beschicken. Trotzdem kommen die
Gämsen gut durch die kalte Jahrszeit; wenn im Frühjahr der Firn hier und dort
ein gefallenes Stück freigibt, handelt es sich meistens um Tiere, die von
Lawinen mitgerissen wurden, die sie selbst losgetreten hatten. Luchs und Wolf,
die in unseren Bergen glücklicherweise immer noch ihre Fährten ziehen, sorgen
besser für ein gesundes Verhältnis zwischen Rudelstärke und Revier, als es die
Hege mit der Büchse kann. Da immer nur die schwachen und kranken Stücke vom
Raubwild gerissen werden, kommt nur was gesund und stark ist und sich seiner
Haut zu wehren weiß zur Vermehrung. Und dieses starke Wild findet nun sommers
wie winters gute Einstände mit reichlicher Nahrung. Dreißig Köpfe Gamswild auf
hundert Hektar Revier und ein Geschlechterverhältnis von einem Bock auf drei
Geißen ist der Idealfall, für den Jagdverwaltung und Raubwild sorgen müssen. Die
Gamsreviere der Alpen, die viel zu dicht besiedelt sind, zeigen uns, wie stark
dieses Wild degenerieren kann. Unsere Böcke wiegen aufgebrochen oft
fünfundvierzig Kilogramm, die Alpengämsen durchschnittlich zehn Kilogramm
weniger.
Mancher Bergwanderer sieht zu Hause nachdenklich die Karte an und fragt sich:
Werde ich nächstes Wochenende wohl Gämsen sehen? Denn eine Begegnung mit diesen
gewandten Kletterern gehört zu den Höhepunkten einer Bergtour. Wenn der Tourist
aber Rekorde brechen will und deshalb mit gesenktem Kopf keuchend durch die
Berge rast, wird er nicht nur keine Gämsen, sondern auch sonst kaum etwas sehen.
Aber warum soll der Bergfreund so bescheiden sein und sich mit einer zufälligen
Begegnung mit Gämsen begnügen? Er kann sie ja einmal dort aufsuchen, wo sie zu
Hause sind, und sie einen halben Tag lang mit einem guten Fernglas beobachten.
Das bisschen Geduld, das dafür nötig ist, wird ihn um ein Erlebnis reicher machen.
Das Verbreitungsgebiet der rumänischen Gämsen erstreckt sich hauptsächlich über
die Südkarpaten. Das am westlichsten gelegene Gamsrevier ist das
Ţarcu-Godeanu-Massiv. Es folgt der Retezat mit dem bekannten
Nationalpark. Im Reservat, das wir nur mit Sondergenehmigung betreten dürfen,
sind sehr gute Einstände. Aber auch im Bucura-Kessel, unterhalb der Peleaga und
Păpuşa, beim Zănoaga-See und auf dem Judele können wir
immer Gämsen antreffen. Im Parâng finden wir sie vom Gâlcescu-See
bis zum Parângu Mare. Eine sehr kleine Populationsinsel, vielleicht die
kleinste des Landes, gibt es in den drei Kesseln des Cindrel im Zibinsgebirge
(Iezerul Mare, Iezerul Mic und Iujba-Kessel).
Der aufmerksame Leser von Jagdliteratur ist sicher schon über den Ausdruck Grat-
oder Kess-(d. h. Gletscher-)gämsen und Wald- oder Laubgämsen gestolpert. Diese
Namen beziehen sich auf die Einstände der betreffenden Tiere, bezeichnen also
nicht etwa zweierlei Formen. Es gibt tatsächlich Gämsen, die, mit Reh und Hirsch
zusammen, im geschlossenen felsigen Hochwald leben und nicht in die höher
gelegenen Wände und Kessel wechseln. Solche Waldgämsen haben wir im Lotrugebirge
auf dem Negovan und in der Valea Fratelui, auf de Latoriţa und
Vânturariţa.
Es folgt das Fogarascher Gebirge, wo wir zwischen Negoi und
Sâmbăta überall Gämsen begegnen. Die klassischen Einstände sind
wohl die Kessel und Wände des Bulea-Tales mit Gämsenspitze und Buteanu, des
Arpăşeler Tales, des Podragu-Kessels und des
Sâmbăta-Kessels. Hier, in den „Transsilvanischen Alpen“, werden
abwechselnd jährlich zwei Täler für die Beweidung gesperrt und somit dem
Gamswild ruhige Reviere geschaffen. Weitere Gamsreviere sind im
Iezerul-Păpuşa-Gebiet und auf dem Königstein; im Butschetsch in
der Valea Cerbului, auf dem Omul und im Reservat Valea
Mălăieşti unter dem Bucşoiul. Ein kleines Revier,
aber mit sehr starken Böcken, lag bis zum Ersten Weltkrieg in den Rodnaer
Bergen. Hier wurde auch der Rekordbock von 1910 erlegt. Heute sind diese Berge
wieder mit ausgesetzten Gämsen bevölkert, die vom Retezat und Fogarascher
Gebirge stammen und sich gut vermehren.
Was aber muss man tun, um Gämsen längere Zeit beobachten zu können? Vorerst muss
man wissen, dass es im Leben der Tiere Gesetze, bestimmte Regelmäßigkeiten gibt.
Wenn man diese kennt und über etwas Geduld verfügt, hat man schon gewonnen. Die
Gämsen leben nicht auf jedem Berg und nicht überall auf dem Berg. Meistens
trifft man sie über dem Waldgürtel an. Wände und Kessel, die von Grasbändern
durchsetzt sind und unten von Latschenfeldern mit Geröll und Grasflecken
abgeschlossen werden, sind ihr liebster Aufenthalt. Hier leben sie in größeren
oder kleineren Rudeln (Geißen, Kitze und bis dreijährige Böcke). Die alten
Herren führen an der Waldgrenze ein Einsiedlerleben und stoßen nur zur Zeit der
Paarung, im November, zu den anderen.
Das Gamswild hält im Großen und Ganzen am selben Einstand fest, der allerdings
weiträumig ist. Manchmal wechselt es bis zu zwölf Gehstunden weit in andere
Revierteile, kommt dann aber immer wieder zurück. Der Einstand eines Rudels ist
jahreszeitlich bedingt. Im Sommer stehen sie auf den westlichen und nördlichen
Berglehnen, im Winter wechseln sie auf die Ost- und Südhänge, wo sie immer
ausgeapertes oder freigeblasenes Berggras finden, oder sie wechseln bis in die
obersten Regionen des Bergwaldes.
Auch im Lauf des Tages kann man Wanderungen feststellen. In der Morgendämmerung
ziehen die Gämsen äsend bergab, ruhen während der Vormittagsstunden, zu Mittag
äsen sie sich wieder langsam bergauf, nachmittags wiederkäuen sie einige
Stunden, um gegen Abend wieder zu äsen. In der Dämmerung suchen sie ihre Lager
auf. Während mondheller Sommernächte hört man es aus den Wänden steineln und
manchmal poltert ein größerer Brocken ins Kar. Dann sind die Gämsen nachts
unterwegs.
Die bevorzugten Lagerplätze sind mit Gras bewachsene Felsbänder, die einen
weiten Überblick, vor allem in die Tiefe, sichern. Ob die Rudel ein Leittier
haben oder nicht, ist noch nicht entschieden. Jedenfalls führt immer eine
ältere, erfahrene Geiß, die Lawinengänge, Steinschlagwände und auch die besten
Äsungsplätze und sicheren Wechsel kennt. Wenn das Rudel ruht, stehen meist
einige Tiere Wache, um bei Gefahr durch ein zischendes Pfeifen zu warnen.
Im November setzt die Gamsbrunft ein; die Gämsen werden rollig, wie die Jäger
sagen. Dann verlassen die starken Böcke den Wald und suchen mit tiefer Nase die
Fährten der Brunftrudel. Hinter den Hörnern, den „Krucken“, strömen zwei
angeschwollene Markierungsdrüsen, die „Brunftfeigen“, einen strengen Geruch aus.
Es gibt erbitterte Kämpfe zwischen den Böcken, bis Anfang Dezember die Brunft
abklingt und die Tiere wieder ihre versteckten Einstände aufsuchen. Im Winter
wirken die Gämsen viel größer, da das fahlbraune Sommerkleid der langhaarigen,
schwarzbraunen Winterdecke Platz gemacht hat. Der Gamsbart wächst übrigens nicht
am Kinn des Bockes. Ein Gamsbock ist kein Ziegenbock! Der vom Jäger so begehrte
Gamsbart wird aus den bis zwanzig Zentimeter langen Grannenhaaren des Rückens
und vor allem des Kreuzes gemacht.
Eine Gämse wird rund zwanzig Jahre alt. Das Alter ist mit einiger Bestimmtheit
an den „Jahresringen“, an den Furchen der Krucken abzulesen. Die Hornschläuche
der Krucken stecken auf Knochenzapfen, sind also echte Hörner (im Gegensatz zum
Hirschgeweih) und wachsen das ganze Leben hindurch. Im Winter, wenn die Äsung
knapper ist, geht eine Einschnürung der Hornmasse vor sich – so entstehen die
Jahresringe.
Die Hufe der Gämsen sind wahre Wundergebilde. Sieht man eine Gämse an einem
zerklüfteten Hang stehen, fällt einem sofort auf, wie locker die Läufe in den
Gelenken sitzen. Sie kann das Untergestell geradezu unwahrscheinlich verdrehen,
so dass alle vier Hufe auf jeden Fall gründlich und fest aufsitzen. Die
Hornsohle der Hufe ist weich und vermag sich jeder Rauheit anzuschmiegen.
Dagegen sind die Ränder hart, nützen sich also weniger ab und stehen etwas vor.
Sie verklammern sich hinter jeder Steinkante. Außerdem sind die beiden
Hufhälften außerordentlich beweglich. Nicht genug damit. Die zwei Afterklauen,
bei anderen Paarhufern verkümmerte Gebilde, sind für die Gämsen sehr wichtig.
Wenn eine Gämse, wie sie es gerne tut, an einem steilen Hang steht, den Kopf
talwärts gerichtet, wirken die Afterklauen wie die Spitzen von Steigeisen, sie
bohren sich in den Hang ein und können nicht nach hinten umgeklappt werden. Kein
Wunder, dass sie fest steht!
Gämsen gehen auch „kranke“ Wände an, deren lockeres und brüchiges Gestein für
jeden gefährlich werden kann, der sich ihm anvertraut. Überquert ein Rudel eine
Schuttrunse oder einen Lawinenhang, wartet immer ein Stück, bis das andere
drüben ist, und folgt dann erst nach. Auf der Flucht können sie sich aber auch
wie besinnungslos eine Wand hinunterwerfen. Kopf und Hals sind dann weit
zurückgenommen, die ganze Last des Körpers liegt auf den gespreizten
Hinterläufen, die die Felsen entlangschurren. Ein Mensch würde bei diesem
Unterfangen rettungslos zerschellen; eine Gämse stürzt nicht ab. Man behauptet,
sie könne bis sechzehn Meter in die Tiefe springen und sieben Meter weit.
In ruhigen Revieren sind die Gämsen nicht ängstlich, sie misstrauen dem Menschen
aber. Geht man sie bei gutem Wetter langsam an, kann man sehr schöne
Beobachtungen machen. Die Hauptsache ist, ihnen nicht zu nahe kommen zu wollen.
Mit einem guten Glas kann man ein Rudel aus einigen hundert Meter Entfernung
einen halben Tag lang beobachten. Man hat mehr davon, als wenn man sie bei
großer Annäherung nur flüchten sieht. Erstes und oberstes Gesetz ist, sich
möglichst bewegungslos zu verhalten. Gämsen sehen über weite Entfernungen.
Wie die Zukunft der Gämsen aussieht?
Solange die Reviere nicht übervölkert sind, die Beweidung der Hochalmen
kontrolliert wird, das Raubwild da ist und keine Degenerierung aufkommen lässt
und solange ein vernünftiges Jagdgesetz den Abschuss regelt, brauchen wir uns
keine Sorgen zu machen. Die Gämsen werden noch lange, lange in unseren Bergen zu
Hause sein.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 72, S. 208 – 212)
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