von Georg Hromadka
In seiner lateinisch abgefassten „Beschreibung der Moldau“ sagt Dimitrie Cantemir vom Ceahlău: „Hätten ihn die alten Griechen gekannt, er wäre nicht weniger berühmt gewesen als der Olymp, der Pindos oder der Pelion.“ Unsere Bergsteiger wissen: Das schönste Gebirge der Moldau ist zugleich eins der schönsten und ausgeprägtesten Bergmassive Rumäniens. Sein Gipfelprofil ist unverwechselbar. Wir erkennen es auf den ersten Blick: wie den Retezatgipfel, wie den Viştea-Moldoveanu-Grat, wie das Kuhhorn (Ineu).
Mit seinen 1904 Metern Höhe beherrscht der Ceahlău ein Gebiet von
erstrangiger touristischer Bedeutung. Er selbst stellt für die allermeisten
Besucher und Begucker dieser attraktiven Landschaft nur in
wörtlich-geographischem Sinn das überragende Ereignis dar. Nur zu gern begnügt
man sich mit dem Lacu Roşu und der Bicaz-Klamm, mit dem Bicaz-Stausee,
mit Piatra Neamţ und Târgu Neamţ (und was damit an
Klöstern, Denkmälern und Gedenkstätten alles zusammenhängt).
Das ist nun freilich sehr viel und Stück für Stück auch sehr schön. Aber der
Ceahlău ist, behaupten wir, eigentlich und übertragen der Gipfel.
Stellen wir sogleich richtig, dass Ceahlău der Name eines ganzen Gebirges
(nicht einer Bergspitze) ist. Die Ausmaße dieses Gebirges sind, verglichen mit
den meisten andern Karpatenmassiven, recht bescheiden. Seine Höchstkoten
erreicht der Ceahlău in der Toaca (1904), der Panaghia (einem Felsturm,
1880) und dem Ocolaşu Mare (1857). Die geologische Struktur ist
vorwiegend sedimentär. Aus den Konglomeraten und dem seltener vorkommenden
Kalkstein hat die Zeit eine Vielzahl von Skulpturen herausmodelliert. Das macht
den Ceahlău zu einem der „reichstillustrierten“ Massive unserer Karpaten.
Kein Wunder, dass er von so vielen Legenden umwoben ist.
Gewöhnlich greift man heute den Ceahlău von Osten an (Bicaz). Der
Aufstieg durchs Izvoru-Muntelui-Tal ist schon darum beliebt, weil ihn drei
Schutzhütten erleichtern: die Hütte Bicaz-Baraj beim Staudamm, die Hütte Izvoru
Muntelui weiter oben (in nur 797 Meter Höhe) und die in Kammnähe gelegene
Dochia-Hütte (1750). Weniger begangen, aber nicht weniger lohnend sind die Nord-
und die Südvariante. Variante N führt von Ceahlău (Ortschaft) über den
Picioru Humăriei und die Hütte „7 Noiembrie“ zum Toaca-Gipfel und zur
Dochia-Hütte. Variante S führt zur selben Hütte von Neagra im Bicaz-Tal über den
Văratec und den Ocolaşu Mic.
Wir raten zur Westvariante. Noch mehr: Wir schlagen vor, auch den Anmarsch von
Westen her durchzuführen. Und zwar von Topliţa aus. Die Westvariante ist
für Bergsteiger, denen die „klassische“ Bicaz-Dochia-Variante bereits vertraut
ist, von besonderem Reiz. Als Premiere ist sie ein umso größeres Erlebnis.
Fassen wir eine Tour ins Auge, die uns von Topliţa (Bahnstation) in den
Ceahlău führt und über Bicaz (See, Stadt, Klamm) und Lacu Roşu
(nach einem möglichen Abstecher ins Hăghimaş-Gebirge) zur
Eisenbahn zurückbringt (Gheorghieni). Gutes Wetter vorausgesetzt, kann die Tour
in vier, fünf Tagen absolviert werden. Sie kann (und sollte) auf eine Woche
ausgedehnt werden.
Wir kommen noch vor Morgengrauen mit dem Nachtzug in Topliţa an. Auf den
Bus für Borsec brauchen wir nicht lang zu warten. Nach einer schönen Fahrt durch
hohe Fichtenwälder rasten wir in Borsec und frühstücken vielleicht bei den
ausgezeichneten Sauerbrunnen im Zentrum des Kurorts. Weiter geht es mit einem
Autobus in Richtung Poiana Teiului (Fahrkarte bis Bistricioara). Wir berühren
Tulgheş und noch eine Reihe sauberer Dörfer. Was hier anders ist als
„drüben“ auf der Bicaz-Seite: Die Landschaft ist milder gestimmt. Bald rückt das
Massiv heran, und schon erkennen wir hoch über der grünen Wand der Wälder die
Wahrzeichen des Ceahlău: die Toaca und den Panaghia-Felsen.
In Bistricioara haben wir den Nordwestzipfel des Bicaz-Sees vor uns. Eine halbe
Stunde zu Fuß, und wir sind in Ceahlău. Das ehemalige Schitu, respektabel
ausgebaut, hat den Namen des Dorfs angenommen, das nun mit einem halben Dutzend
anderer Ortschaften auf dem Grund des Sees ruht. Den Schitu-Bach entlang zieht
sich die Straße nach Durău: zweieinhalb Stunden zu Fuß. Die Ruinen des
Kneasenpalasts (Palatul Cnejilor) versäumen wir nicht. Sie liegen nicht weit vom
Weg.
Durău, eine kleine, aber perspektivenreiche Siedlung um ein Kloster
herum, empfängt uns mit einem herrlichen Nahblick aufs Gebirge und, was nicht
weniger heiter stimmt, mit einer fabelhaft bewirtschafteten Schutzhütte (780).
Die Klosterkirche ist sehenswert. Sie ist nach dem ersten Weltkrieg von einer
Malergruppe unter Nicolae Tonitzas Leitung ausgeschmückt worden.
Ununterbrochen durch Wald zieht sich am Westhang der Weg zur Kammhöhe. Wir
wissen: Das ist der Weg, auf dem einst Alecsandri Vlahuţă und
Hogaş gewandert sind. Ohne besonderen Kräfteaufwand erreichen wir in
weniger als drei Stunden die Duruitoare, einen hohen, zweistufigen Wasserfall
dessen Brausen weithin zu hören ist. Von hier ab wird der Pfad felsig, steil,
serpentinenreich. Wir müssen auf den zweiten Gang schalten. Die Mühe wird, wie
immer, belohnt. Wir rasten auf der Poliţa cu Ariniş. Wir kosten
erst den Anblick auf die Westabstürze der Toaca mit der Piatra Ciobanului nah
gegenüber, dann lassen wir den Blick in die Weite schweifen, über die Wälder zu
unseren Füßen hinweg zu den blauen Gebirgen im Norden und Nordwesten: Budac,
Căliman, vielleicht auch Giumalău und Rarău. Noch ein
Stück, und wir kommen, nach insgesamt fünf Wegstunden, ins Freie. Wir verlassen
den markierten Weg und steuern dem hochgebauten Ocolaşu Mare zu. Die
großen Brocken sind hier die Westwand des Ocolaş, der Riesenkessel
„Jgheabu lui Vodă“, der „Gardu Stănilelor“ im Nordwesten und die
südwärts zum Ocolaşu Mic und zum Turnu lui Budu mächtig abfallenden, von
Kalkstein durchsetzten Konglomeratstufen. Wo man hinblickt, gewaltige Türme,
Zacken, einzeln aufragende und orgelpfeifenartig aneinandergereihte Säulen. Im
Süden entdecken wir nacheinander den Suhard, den Ghilcoş, den
Hăghimaş. Im Osten und Nordosten aber blinkt die Spiegelfläche des
großen Stausees – dort, wo Nechifor Lipans Weib auf der Suche nach ihrem
verschollenen Mann mit ihrem Sohn, dem Pferd und dem Beil durchs Bistritztal
gezogen ist…
Nach einer Zwischenlandung in der nahen Dochia-Hütte besteigen wir die Toaca und
überschlagen noch einmal die vorläufigen Erlebnisposten. Der Abstieg zur
Drurău-Hütte über „7 Noiembrie“ ist kurz und kommod.
Die Reise mit dem Bus von Durău nach Bicaz-Stadt (um den weit gespannten
See herum und mit wiederholten Abschiedsblicken hinauf zu den Gipfeln) kann dann
zum beschaulichen Andante, die Bicaz-Klamm zum lebhaften Scherzo und der
Hăghimaş zum herrlichen Finale einer Sinfonie werden, deren erster
Ceahlău-Satz (mit vorgespanntem Borsec-Bistricioara-Adagio) ein
fröhliches und lang nachklingendes Allegro gewesen ist.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 72, S. 279 – 282)
Seite | Bildunterschrift |
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280 | Vom Dură aus gesehen: der Ceahlău-Westhang. |
281 | Die Zwei-Stufen-Kaskade Duruitoare. |
282 | Am Nordende des Bicaz-Stausees: der Viadukt von Poiana Teiului. |