home - Komm mit - 1972 - Ceahlău-Varianten
jedes Wort alle Wörter Suchwort markieren
drucken

Ceahlău-Varianten

von Georg Hromadka

In seiner lateinisch abgefassten „Beschreibung der Moldau“ sagt Dimitrie Cantemir vom Ceahlău: „Hätten ihn die alten Griechen gekannt, er wäre nicht weniger berühmt gewesen als der Olymp, der Pindos oder der Pelion.“ Unsere Bergsteiger wissen: Das schönste Gebirge der Moldau ist zugleich eins der schönsten und ausgeprägtesten Bergmassive Rumäniens. Sein Gipfelprofil ist unverwechselbar. Wir erkennen es auf den ersten Blick: wie den Retezatgipfel, wie den Viştea-Moldoveanu-Grat, wie das Kuhhorn (Ineu).

Mit seinen 1904 Metern Höhe beherrscht der Ceahlău ein Gebiet von erstrangiger touristischer Bedeutung. Er selbst stellt für die allermeisten Besucher und Begucker dieser attraktiven Landschaft nur in wörtlich-geographischem Sinn das überragende Ereignis dar. Nur zu gern begnügt man sich mit dem Lacu Roşu und der Bicaz-Klamm, mit dem Bicaz-Stausee, mit Piatra Neamţ und Târgu Neamţ (und was damit an Klöstern, Denkmälern und Gedenkstätten alles zusammenhängt).
Das ist nun freilich sehr viel und Stück für Stück auch sehr schön. Aber der Ceahlău ist, behaupten wir, eigentlich und übertragen der Gipfel. Stellen wir sogleich richtig, dass Ceahlău der Name eines ganzen Gebirges (nicht einer Bergspitze) ist. Die Ausmaße dieses Gebirges sind, verglichen mit den meisten andern Karpatenmassiven, recht bescheiden. Seine Höchstkoten erreicht der Ceahlău in der Toaca (1904), der Panaghia (einem Felsturm, 1880) und dem Ocolaşu Mare (1857). Die geologische Struktur ist vorwiegend sedimentär. Aus den Konglomeraten und dem seltener vorkommenden Kalkstein hat die Zeit eine Vielzahl von Skulpturen herausmodelliert. Das macht den Ceahlău zu einem der „reichstillustrierten“ Massive unserer Karpaten. Kein Wunder, dass er von so vielen Legenden umwoben ist.
Gewöhnlich greift man heute den Ceahlău von Osten an (Bicaz). Der Aufstieg durchs Izvoru-Muntelui-Tal ist schon darum beliebt, weil ihn drei Schutzhütten erleichtern: die Hütte Bicaz-Baraj beim Staudamm, die Hütte Izvoru Muntelui weiter oben (in nur 797 Meter Höhe) und die in Kammnähe gelegene Dochia-Hütte (1750). Weniger begangen, aber nicht weniger lohnend sind die Nord- und die Südvariante. Variante N führt von Ceahlău (Ortschaft) über den Picioru Humăriei und die Hütte „7 Noiembrie“ zum Toaca-Gipfel und zur Dochia-Hütte. Variante S führt zur selben Hütte von Neagra im Bicaz-Tal über den Văratec und den Ocolaşu Mic.
Wir raten zur Westvariante. Noch mehr: Wir schlagen vor, auch den Anmarsch von Westen her durchzuführen. Und zwar von Topliţa aus. Die Westvariante ist für Bergsteiger, denen die „klassische“ Bicaz-Dochia-Variante bereits vertraut ist, von besonderem Reiz. Als Premiere ist sie ein umso größeres Erlebnis.
Fassen wir eine Tour ins Auge, die uns von Topliţa (Bahnstation) in den Ceahlău führt und über Bicaz (See, Stadt, Klamm) und Lacu Roşu (nach einem möglichen Abstecher ins Hăghimaş-Gebirge) zur Eisenbahn zurückbringt (Gheorghieni). Gutes Wetter vorausgesetzt, kann die Tour in vier, fünf Tagen absolviert werden. Sie kann (und sollte) auf eine Woche ausgedehnt werden.
Wir kommen noch vor Morgengrauen mit dem Nachtzug in Topliţa an. Auf den Bus für Borsec brauchen wir nicht lang zu warten. Nach einer schönen Fahrt durch hohe Fichtenwälder rasten wir in Borsec und frühstücken vielleicht bei den ausgezeichneten Sauerbrunnen im Zentrum des Kurorts. Weiter geht es mit einem Autobus in Richtung Poiana Teiului (Fahrkarte bis Bistricioara). Wir berühren Tulgheş und noch eine Reihe sauberer Dörfer. Was hier anders ist als „drüben“ auf der Bicaz-Seite: Die Landschaft ist milder gestimmt. Bald rückt das Massiv heran, und schon erkennen wir hoch über der grünen Wand der Wälder die Wahrzeichen des Ceahlău: die Toaca und den Panaghia-Felsen.
In Bistricioara haben wir den Nordwestzipfel des Bicaz-Sees vor uns. Eine halbe Stunde zu Fuß, und wir sind in Ceahlău. Das ehemalige Schitu, respektabel ausgebaut, hat den Namen des Dorfs angenommen, das nun mit einem halben Dutzend anderer Ortschaften auf dem Grund des Sees ruht. Den Schitu-Bach entlang zieht sich die Straße nach Durău: zweieinhalb Stunden zu Fuß. Die Ruinen des Kneasenpalasts (Palatul Cnejilor) versäumen wir nicht. Sie liegen nicht weit vom Weg.
Durău, eine kleine, aber perspektivenreiche Siedlung um ein Kloster herum, empfängt uns mit einem herrlichen Nahblick aufs Gebirge und, was nicht weniger heiter stimmt, mit einer fabelhaft bewirtschafteten Schutzhütte (780). Die Klosterkirche ist sehenswert. Sie ist nach dem ersten Weltkrieg von einer Malergruppe unter Nicolae Tonitzas Leitung ausgeschmückt worden.
Ununterbrochen durch Wald zieht sich am Westhang der Weg zur Kammhöhe. Wir wissen: Das ist der Weg, auf dem einst Alecsandri Vlahuţă und Hogaş gewandert sind. Ohne besonderen Kräfteaufwand erreichen wir in weniger als drei Stunden die Duruitoare, einen hohen, zweistufigen Wasserfall dessen Brausen weithin zu hören ist. Von hier ab wird der Pfad felsig, steil, serpentinenreich. Wir müssen auf den zweiten Gang schalten. Die Mühe wird, wie immer, belohnt. Wir rasten auf der Poliţa cu Ariniş. Wir kosten erst den Anblick auf die Westabstürze der Toaca mit der Piatra Ciobanului nah gegenüber, dann lassen wir den Blick in die Weite schweifen, über die Wälder zu unseren Füßen hinweg zu den blauen Gebirgen im Norden und Nordwesten: Budac, Căliman, vielleicht auch Giumalău und Rarău. Noch ein Stück, und wir kommen, nach insgesamt fünf Wegstunden, ins Freie. Wir verlassen den markierten Weg und steuern dem hochgebauten Ocolaşu Mare zu. Die großen Brocken sind hier die Westwand des Ocolaş, der Riesenkessel „Jgheabu lui Vodă“, der „Gardu Stănilelor“ im Nordwesten und die südwärts zum Ocolaşu Mic und zum Turnu lui Budu mächtig abfallenden, von Kalkstein durchsetzten Konglomeratstufen. Wo man hinblickt, gewaltige Türme, Zacken, einzeln aufragende und orgelpfeifenartig aneinandergereihte Säulen. Im Süden entdecken wir nacheinander den Suhard, den Ghilcoş, den Hăghimaş. Im Osten und Nordosten aber blinkt die Spiegelfläche des großen Stausees – dort, wo Nechifor Lipans Weib auf der Suche nach ihrem verschollenen Mann mit ihrem Sohn, dem Pferd und dem Beil durchs Bistritztal gezogen ist…
Nach einer Zwischenlandung in der nahen Dochia-Hütte besteigen wir die Toaca und überschlagen noch einmal die vorläufigen Erlebnisposten. Der Abstieg zur Drurău-Hütte über „7 Noiembrie“ ist kurz und kommod.
Die Reise mit dem Bus von Durău nach Bicaz-Stadt (um den weit gespannten See herum und mit wiederholten Abschiedsblicken hinauf zu den Gipfeln) kann dann zum beschaulichen Andante, die Bicaz-Klamm zum lebhaften Scherzo und der Hăghimaş zum herrlichen Finale einer Sinfonie werden, deren erster Ceahlău-Satz (mit vorgespanntem Borsec-Bistricioara-Adagio) ein fröhliches und lang nachklingendes Allegro gewesen ist.

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 72, S. 279 – 282)

Seite Bildunterschrift
 
280 Vom Dură aus gesehen: der Ceahlău-Westhang.
281 Die Zwei-Stufen-Kaskade Duruitoare.
282 Am Nordende des Bicaz-Stausees: der Viadukt von Poiana Teiului.
nach oben nach oben