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Arbore ist mehr als eine Reise wert

Ein Bauer schreibt die Chronik seiner Zeit

von Juliana Fabritius-Dancu

Unmöglich, sie zu übersehen, die roten Pfeile. Jeden, der ins Dorf kommt, das berühmte, 1502 vom Hatman Luca Arbure gestiftete Kloster zu besuchen und die Fresken des Malers Drgomir sin Coman aus Jassy zu bewundern, lenken sie unfehlbar, an jeder Straßenecke freundlich den Weg weisend, „zum Museum“. Das ist ein ganz gewöhnliches Bauernhaus, aus Fichtenstämmen gezimmert, schindelgedeckt, genau wie die andern tausend Häuser von Arbore, inmitten eines Wirtschaftshofes gelegen, mit anschließender Wiese und Obstgarten. Wir blicken über den niedrigen Bretterzaun: Im Foişor, dem luftigen Vorbau des Hauses, sitzt Toader Hrib an einem Tischchen und schreibt. Da Feiertag ist, hat er die Tracht der alten Bauern von Arbore angelegt, das faltenreiche, vom bunten Wollgürtel zusammengehaltene knielange Hemd, darüber die bondiţă, eine bestickte Lammfellweste. „Seid gegrüßt, moş Toader“, rufen wir hinüber, „dürfen wir Euer Museum ansehen?“
Mit der weitausladenden Geste moldauischer Gastfreundschaft werden wir hereingebeten. Der alte Toader kommt uns über den Hof entgegen, immer noch hoch aufgerichtet, massig, das schwere, gravitätische Gesicht von gütigem Lächeln erhellt. Unter buschigen, weißen Brauen blicken die lichtblauen Augen klar und prüfend, gleichsam die Ankömmlinge wägend. „Denn“, so schreibt Toader Hrib am 8. Januar 1970 in sein Tagebuch, „ich merke, wie die Menge der Besucher sich von selbst in mehrere Kategorien aufteilt. 95 Prozent kommen wie zu einer Quelle, ihren Durst zu löschen. Auch diese wieder verschiedener Art: einige kommen mit viel Gemüt und Verständnis, bewundernd, anerkennend bitten sie um Auskunft über das Museum; wieder andere wollen mehr über das Dorf wissen, über die Familie und vor allem, wen sie vor sich haben. Diese sagen Worte des Lobes zu uns und schreiben in das Gästebuch Zeilen so schön wie Perlenschnüre. Andere wollen nur das Museum sehen, nicht aber den Menschen, der es geschaffen hat – diese erkennt man schon vom Ton her, sie können nicht mal einen guten Tag wünschen und gehen wieder, ohne uns etwas zu sagen oder sich in die Besucherliste einzutragen. Die 5 Prozent erlesener Menschen aber empfehlen gleich durch ihr schönes Betragen, sie bieten einen Gruß, strecken dir die Hand entgegen, blicken dir in die Augen, stellen Fragen, sehen sich im Hof um und im Museum, erkundigen sich nach dessen Entstehung, nach Herkunft und Lebensweise des Besitzers. Diese wissen, dass es ein Opfer bedeutet, einem zahlreichen Publikum zur Verfügung zu stehen.“ (Es hängt also nur von Ihnen ab, welcher Kategorie Sie beigerechnet werden wollen, ebenso wie es allein bei Ihnen liegt, den Schatz der Erinnerungen zu heben, der im Herzen des alten Mannes bewahrt ist.)
Unterdessen ist auch Frau Magdalina herbeigekommen, die Wangen vom Herdfeuer gerötet. Ihr Haar ist noch genau so schwarz wie ihre Augen, man glaubt es gern, dass sie einmal das schönste Mädchen vorn Arbore gewesen ist, wie Hrib voll Stolz erzählt. Auch sie trägt das reichbestickte lange Leinenhemd, die iie, und darüber nur die fotă, den engen Wickelrock mit feuerrotem Saum, dessen eines Eck hochgeschlagen in den Wollgürtel gesteckt ist, so dass beim Schreiten das Hemd als reinweißes Dreieck hervorleuchtet.
Beide sind über siebzig, die lange Arbeit eines Lebens und dazu noch manch andere Mühsal liegt hinter ihnen. Nun haben sie Zeit. Toader Hrib kann sich seinem Museum widmen, das ihm und uns mehr bedeutet als eine bloße Liebhaberei. Es ist der Versuch einer Antwort auf die Fragen, die schon seit drei Generationen dies Geschlecht von „neugierigen Menschen“ beschäftigt, das wissen will, was vor ihm war, wie und was sich ereignete in der Heimatgegend, um sich nach allem eine Meinung zu bilden. Gleichzeitig machen es sich diese Menschen zur Aufgabe, denen, die nach ihnen kommen, Kunde über das Gewesene zu hinterlassen. Schon der Großvater, ja der Urgroßvater hatten eine Passion für Geschichte und Archäologie, die auf Toader übergekommen ist, so dass er schon als Kind Dinge zu sammeln begann, die vom Leben der Menschen von einst erzählen, von ihrer Arbeit, ihren Gedanken, dem Stand ihres Wissens und ihrer Kunstfertigkeit. Es ist ihm gelungen, auch die Leute aus seinem Umkreis, ja das ganze Dorf für sein Museum zu interessieren. Wer immer beim Ackern einen bunt glasierten Tonscherben findet, eine alte Münze, einen seltsam behauenen Stein, wer am Dachboden alten, schön verzierten Hausrat entdeckt, bringt ihn zu Toader Hrib. Da haben sich nun in den drei größten Räumen des Hauses über 300 Objekte angesammelt, fein säuberlich auf langen Tischen und Bänken aufgereiht, manche auch mit Namensschildchen versehen. Forscher und Wissenschaftler haben hier ihre Meinung geäußert, und Hrib hat alles aufgeschrieben. Doch hat hier noch kein museumstechnisches Kriterium gewaltet, die Gegenstände sind nicht nach Gattungen geordnet. Die Dinge führen hier noch ein Eigenleben, in jedem ist Menschliches eingespart, jedes erzählt – und gerade dies ist das Reizvolle an dem eigenartigen Museum, dass man hier selbst auf Entdeckungen ausgehen und noch einmal die Finderfreude Hribs miterleben kann, wenn man selber an der Form eines glatt geschliffenen Steins erkennt, wozu er in vorgeschichtlicher Zeit verwendet wurde, wenn man das Erz eines Meteoriten identifizieren oder Hrib sagen kann, aus welchem Zentrum seine prachtvollen Hinterglasmalereien stammen. Und sollte man plötzlich vor einem schmiedeeisernen Ding ratlos stehen, so deutet Toader Hrib belehrend mit seinem Zeigestöckchen darauf: Diese Fesseln legte man früher gefangenen Heiducken oder entlaufenen Leibeigenen an. Er erklärt die Waffen aller Kriege, die über diesen Landstrich hinweggegangen sind, die in der bewahrenden Erde gefunden, nun hier als Zeugen weiterleben. Wertvolle Dokumente, Handschriften, Urkunden, alte Bücher sind in einem Schrank geborgen. Aus ihnen hat Toader Hrib manches über die Geschichte seines Dorfes ans Licht gebracht und dieses auch in einem Buch zusammengefasst.
Sein Wissensdurst hat weitgehend die spärliche Schulbildung ergänzt. In höchstem Maße besitzt er das Wertvollere, das nicht aus Büchern gelernt werden kann: Lebensklugheit, Weisheit, Einsicht – Verständnis für das Leben in all seiner Vielseitigkeit.
Da liegt eine Pyramide steinerner Kanonenkugeln sinnbildhaft neben einem Holzpflug. Eine mit feinstem Ritzdekor überzogene Flöte lehnt neben dem bucium, dem Alphorn. Ein riesiger eiserner Schlüssel, an der Stelle gefunden, wo einst das Wohnhaus des Stadthauptmanns von Suceava, Luca Arbure, gestanden hat, könnte demnach über 450 Jahre alt und vom Stifter des Klosters selber gehandhabt worden sein.
Nicht nur die selbstgegerbten schweinsledernen Bundschuhe, die Perlenstickerei vom Ärmel einer iie, der Filzhut mit „Gang“, wie die hoch aufgebogene Krempe genannt wurde, wo man Tabak und Zunder hineinversorgen konnte, erzählen von der Tracht der Alten. Da gibt es Fotografien von Männern mit schulterlangem Haar, von Frauen, deren Haupt von der miniştergură, dem streifig gewebten Handtuch, umhüllt ist – wahre Fundgruben für den Ethnographen.
Das Merkwürdigste sind wohl die zwei ägyptischen Tonkrüge, über und über mit Querstreifen in bunter Bilderschrift bemalt – ob jemand die Hieroglyphen entziffert hat, und wer die Krüge Hrib vererbte, kann ich mich nicht mehr erinnern – das müssen Sie ihn jedoch unbedingt fragen, denn die Krüge, Ölkrüge vielleicht, sind zweifellos authentisch.
Eine ganze Wand nehmen die Stammbäume ein, die Hrib von mehreren alten Familien des Dorfes aufzeichnete und eigenhändig mit steifen Schnörkeln und verschlungenen Blumen schmückte. Den ersten, dunklen Ton verleihen die angerauchten Holztafeln der Ikonen dem Raum (meist russische Schule), nur da und dort blinkt ein goldener Nymbus auf, leuchtet das weiße Pferd eines Kriegerheiligen hervor. Diese Sammlung stellt allein für sich einen unschätzbaren Wert dar.
Täglich kommen die Kinder von Arbore ins Museum und wollen wissen, was moş Toader Neues gefunden hat. Aus den umliegenden Gemeinden kommen Schulklassen mit ihren Lehrern, Männer, Frauen, die Bauern der ganzen Umgebung wollen hier schauen und lernen. Die vielen Touristen, darunter viele Ausländer – das Museum Hrib ist zu einem zweiten Anziehungspunkt in Arbore geworden –, schreiben alle in das Gästebuch; da stehen Mitglieder der französischen Akademie neben Professoren aus Schweden und den beiden deutschen Staaten, neben italienischen Forschern – denn schwerlich kann man sich dem Zauber dieses alten Menschen entziehen, der trotz seiner 70 Jahre unermüdlich danach trachtet, den Lauf der Geschichte, Sinn und Bedeutung der Dinge von einst und jetzt zu durchdringen. Bewunderung und Rührung mischt sich in die Sympathie, mit der wir Toader Hrib verlassen, nicht ohne vorher noch die Wohnung gesehen, ein Gläschen Weichselwein vorgesetzt bekommen zu haben. Für sich behielten die Hribs nur das Allernotwendigste, die kleine Küche, die dunkle Vorratskammer, um den Schätzen Raum zu schaffen, für die sie oftmals die letzten Ersparnisse ausgaben.
Für viele ist die Begegnung mit dem Menschen Toader Hrib bedeutsamer als seine beachtenswerten Sammlungen. Ergreifend ist sein Bestreben, zu ergründen. Wie viel würde er nicht darum geben, zu wissen, was seine Vorfahren gedacht und getan, wie sie gelebt und gefeiert haben. Daraus ergibt sich für ihn, der Schreiben und Lesen gelernt hat, das sinnvolle Beginnen aufzuschreiben, was ihm von dem Geschehen in seinem Dorf, im Lande, in der Welt bedeutungsvoll erscheint und von den Bräuchen und dem Aberglauben der Vorväter bis zur Tagespolitik alles mit erfrischender Herzenseinfalt zu kommentieren, mit dem gesunden Empfinden für Recht und Gerechtigkeit des unverbildeten, einfachen Bauern. Er schreibt im archaischen, weichen Moldauer Dialekt, flicht aber auch moderne technische Ausdrücke ein, wo es ihm notwendig erscheint. So wird dieses Tagebuch des „modernen Chronisten von Arbore“ – unbewusster Fortsetzer der großen Tradition des 15. – 18. Jh. – zu einem einzigartigen geschichtlichen und linguistischen Dokument, durchdrungen von der Würze treffender, volkstümlicher Formulierung. Den 1971 unter dem Titel „Cronica de la Arbore“ erschienenen Tagebuchfragmenten der letzten zwölf Jahre sind Kindheitserinnerungen, vom Charme der Creangă-Erzählungen und erschütternde Frontberichte aus dem ersten Weltkrieg vorangestellt. Dem gleichen Eindruck warmer, aufgeschlossener Menschlichkeit und großzügig mitgeteilter Lebensweisheit, den die Persönlichkeit Toader Hribs vermittelt, begegnen wir in unverminderter Lebendigkeit auch in seinen Aufzeichnungen.

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 72, S. 24 – 29)

Seite Bildunterschrift
 
24 Zeichnung: Zum Museum Toader und Magdalina Hrib.
25 Der Meister im Kreise seiner Herrlichkeiten.
26 Toader Hrib in der Tracht seines Heimatortes.
27 Veronica lui Mitrofan aus Arbore.
29 Ohne Titel
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