von Erich Simonis
Für die meisten unserer Bergfreunde und Touristen ist die Felslandschaft
zwischen Paring, Lotru und Alttal ein Stück Terra incognita – unbekanntes Land.
Wild und unerschlossen – das ist der Eindruck, den das Gebiet auf Schritt und
Tritt macht. Keine markierten Wege, keine Touristenschutzhütte weit und breit.
Aber: Wenn der Aufstieg zu den Gipfeln des
Căpăţâna-Massivs (denn davon ist die Rede) deshalb
etwas schwerer ist als in anderen Bergen, so wird man doch durch die wilde,
geradezu bizarre Schönheit der vielen Schluchten und Täler, durch die
mannigfaltige Tier- und Pflanzenwelt, der man überall begegnet, reichlich
entschädigt.
Das Căpăţâna-Massiv ist die Verlängerung des
Hauptkammes des Paring, der sich östlich vom Schil ausdehnt. Es behält im großen
Ganzen den alpinen Charakter weiter bei, obwohl die Höhe von 2000 m nur noch
selten überschritten wird. Flüsse bilden in der Hauptsache die Grenze des
Bergmassivs. Im Osten ist es der Alt, der es vom Cozia-Gebirge abgrenzt; im
Norden der durch den Bau des großen Wasserkraftwerks bekannt gewordene Lotru mit
seinem Nebenfluss, der Latoriţa; im Westen der Olteţ, der es vom
Paring abgrenzt; im Süden bildet die nordoltenische Hügellandschaft mit den
Dörfern Polovragi, Vaideeni, Bistriţa und Bărbăteşti
die Grenze.
Das Massiv besteht aus einem in West-Ost-Richtung sich ausdehnenden Hauptkamm
(Länge etwa 65 km, Breite 25 km), der von ausgedehnten Bergwiesen bedeckt ist.
Am West- und Ostende des Kammes und an der Südseite erheben sich wilde,
zerklüftete Felsaufbauten, klaffen tiefe Schluchten, die dem Gebirge ein
außergewöhnliches Gepräge verleihen. Im Osten dehnen sich bis zum Altfluss die
Gebirgszüge des Năruţiu und der Foarfeca aus, an die sich die
Kalksteingruppe Buila-Vânturariţa anschließt, während sich im
Westen der hohe Kamm des Târnovul hinzieht. Anziehungspunkte auch für
Autotouristen sind die Bistriţa-, die Olteţ- und die
Costeşti-Klamm an der Südseite des Massivs sowie die anliegenden Klöster
Polovragi, Horezu (wichtiges Denkmal der Brâncoveanu-Kultur),
Bistriţa und Arnota. In Gegenden, in denen Kalkstein vorherrscht, stoßen
wir auf Tropfsteinhöhlen: Polovragi, Stogu und Stogşoarele sowie eine
ganze Reihe kleiner Höhlen im Buila-Vântorariţa-Gebiet und im
Târnovul-Abschnitt.
Reich sind die Fauna und die Flora des Gebiets. In großer Zahl bevölkern Gämsen
die hohen Felshänge des Stogu und der Stogşoarele sowie die
Buila-Vânturariţa-Klamm. Der Bär fühlt sich in den ausgedehnten,
ruhigen Wäldern wohl; nachts überfällt er die Schafherden, die das Massiv von
Anfang Juni bis Mitte September bevölkern. Im Lotru, im Olteţ, in der
Latoriţa, im Olăneşti-Bach kommt die Forelle vor.
Ausgedehnte Wälder, besonders Laubwälder, die hier oft höher hinauf reichen als
in anderen Massiven, bedecken den Großteil des Gebietes. Stark verbreitet ist
die Buche, in kleinerer Zahl kommen der Ahorn, die Eberesche und an den Bächen
die Erle vor. In den Nadelwäldern findet man neben Fichten und Lärchen vor
allem auch viele Edeltannen. In der alpinen Zone sind Wacholder und Latschen
weniger verbreitet als in anderen Bergmassiven. Schönen, farbenprächtigen
Bergblumen begegnen wir in den Wäldern und auf den ausgedehnten Bergwiesen.
Die Türkenbundlilie kommt hier vor, die Bergnelke, die große gelbe Trollblume,
das blaue Berghornveilchen, der gelbe Fingerhut. In den hohen, zerklüfteten
Felswänden blüht das Edelweiß.
Die kürzesten Wege zum Hauptkamm, auf dem sich die höchsten Spitzen erheben
(Ursu 2124 m, Căpăţâna 2113 m und Neblea 2130 m),
sind wohl die aus dem Lotru- und Latoriţa-Tal. Aus den Ortschaften Valea
lui Stan, Malaia, Ciunget oder von der Waldarbeitersiedlung Petrimanu am
Oberlauf der Latoriţa, die nun auf der neuen Asphaltstraße Gura Lotrului
– Voineasa leicht zu erreichen sind, führen gute, jedoch unmarkierte Hirtenwege
zum Kamm. In 6 – 8 Stunden ist man oben.
Ein anderer günstiger Aufstieg beginnt im Dorfe Pietreni. Das an der Südseite
des Massivs gelegene Dorf erreicht man von der Nationalstraße Nr. 64
Târgu Jiu – Râmnicu-Vâlcea aus (man zweigt in
Costeşti ab). In fünfstündigem Aufstieg gelangt man zur Buila und zur
Vânturariţa.
Der schönste Weg, der uns in ein außergewöhnlich reizvolles Gebiet führt, und
zwar zum so genannten Cheia-Fluss (mit Klamm), geht vom Kurort
Olăneşti aus. Eine gute Forststraße führt den
Olăneşti-Bach entlang am IF Comanca, IF Fântănele
vorbei zum IF Mânzu, von wo man dann auf einem unmarkierten Weg in etwa
3 Stunden zum Kanton Cheia gelangt. Ganz in der Nähe, in südlicher Richtung,
zwischen Stogşoarele und Cheia Strâmbă, befindet sich die
Klamm des Flusses.
Man kann ruhig behaupten: Ein richtiges, wildes Bergparadies, wie wir es in
unseren Karpaten schwerlich noch finden dürften, ist das
Căpăţâna-Gebirge. Um aber in dieses Paradies
einzudringen, müssen wir uns mit einem Zelt ausrüsten, denn Hütten gibt es hier,
wie gesagt, noch nicht.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 71, S. 69 – 71)
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70 | Die Cheia-Klamm im Căpăţâna-Gebirge. |