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Marmor – für immerdar

von Franz Engelmann

Eigentlich hatte ich keinen Grund, mich fremd zu fühlen in dem stilvollen kleinen Bungalow am Ufer des Sees von Tata. Die Landessprache beherrschte ich ziemlich gut, und außerdem war man einem zweiten ausländischen Gast zuliebe bemüht, deutsch zu sprechen. Und dennoch wurde es mir warm ums Herz, als mir plötzlich ein unerwarteter Gruß aus der Heimat zuteil wurde. Nein, nicht von irgendwo aus Rumänien kam er, sondern direkt aus dem oft durchwanderten Banater Bergland: Ich bewunderte die fein abgestimmte Schichtung der Steinplatten, aus denen der Kamin gemauert war, und zwischen Rot, Braun und Grau leuchtete mir ein Streifen Weiß entgegen, schneeig frisch, ein Hauch von Rosa in der Äderung, wie die blütenzarte Haut eines jungen Frauenkörpers… „Ist das…?“ – „Igen, ez Ruszkicai márvány – ja, das ist Ruskitzaer Marmor“, bestätigte der Hausherr, ein Budapester Gartenbauingenieur. Und da war sie plötzlich da, mitten zwischen Tokajer und ungarischem Spießbraten, die Sehnsucht nach der waldrauschenden Poiana Ruscăi, die zu eben dieser Stunde in den prächtigsten Farben des Herbstes stehen musste.
Inzwischen legte sich die flockig-weiche Decke eines Winters über die kleine Siedlung zwischen Padesch und Ruska, vermischte sich mit dem ebenso makellosen Weiß des, wir möchten sagen, größten Freilicht-Amphitheaters Rumäniens. Und jetzt, da seine endlos hohen und breiten Ränge wieder kraftvoll kontrastieren mitten im sprossenden Grün des frühlingsfrischen Bergwaldes, will ich Sie zu dem einzigartigen Schauspiel einladen, wobei Sie, entgegen jeder Regel, selbst auf der Bühne stehen und zum „Zuschauerraum“ hinaufblicken sollen, wo zyklopenhafte Natur und zwergkleine Menschen, unterstützt von nicht viel größer wirkenden Maschinen, gemeinsam agieren.
Zuerst aber: Wo liegt dieses Ruskitza, das den von den Bildhauern und Architekten in aller Welt geschätzten Stein – die Exportlisten beweisen es – liefert? Nehmen wir als Ausgangspunkt die wohlbekannte Europastraße 94. Je nachdem, ob Sie aus Richtung Bukarest oder Temesvar kommen, biegen Sie bei Karansebesch-Caransebeş nach rechts bzw. links ab, und ein glattes Asphaltband führt Sie mitten hinein ins Tal der Bistra, durch das alte Hüttenindustriezentrum Ferdinandsberg-Oţelul Roşu (19 km). Bald danach ist der kleine Flecken Voislova erreicht (29 km). Von hier geht’s nach Norden, und damit hat’s bis aufs weitere auch mit dem Asphalt ein Ende. Schade, dass das Weggeholper Ihre ganze Aufmerksamkeit aufs Lenkrad bannt und Sie so wenig Muße haben, um das schöne Ruska-Tal gebührend zu bewundern. Russberg-Rusca Montană, eigentlich die Wohnsiedlung des Industrieortes, der unser Ziel ist, lädt zur ersten Rast ein, und dann sind wir endlich dort: in Ruskitza-Ruschiţa. Rechts die Kolonie, wo liebevolle Architekten es verstanden haben, moderne Wohnblocks harmonisch in die Landschaft zu stellen, links, terrassenförmig den Berg hinaufgestaffelt, die Industriebauten, die sich weniger gut einfügen. Sie verschlammen nämlich mit ihrem Abwasser kilometerweit den Bach.
Wir sind nun genau 49 Kilometer von Karansebesch entfernt, aber noch nicht ganz am Ziel. Also nochmals aufs Gaspedal getreten, und in weniger als fünf Minuten sind wir dort: Riesenhaft mit genau meterbreiten und –hohen Stufen klettert es den Berg hinan, Terrasse baut sich über Terrasse und scheint erst dort zu enden, wo das Weiß des Steins sich ins Weiß der am tiefblauen Himmel segelnden Wolken mischt. Menschen sind kaum zu sehen, nur ein paar große Kranarme und kleine Häuschen, die schneckengleich die Kanten entlang gleiten, neue Stränge aus dem Stein schneiden. Doch dort, wo dieser am schönsten ist, lässt man sie gar nicht mehr heran, diese gefräßigen Kreissägen. Da arbeiten die Seilsägen, schneiden mit zartem Sirren den natürlichen Rissen des Marmors entlang, zerteilen ihn „nach Maß“ auf Größe und Form, wie ihn der Bildhauer in Los Angeles oder Neapel bestellt hat. Keine Presslufthämmer dröhnen, keine Explosionen zerreißen die Luft, es sei denn, dass es taube Deckschichten zu entfernen gilt, die es aber kaum gibt – denn der ganze Berg ist ein einziger Marmorblock.
Um den berühmten Erzberg im steirischen Eisenerz geht die Legende, dass einst eine gute Fee die Bürger des Städtchens vor die Wahl stellte: „Wollt ihr Gold für zehn Jahr, Silber für hundert Jahr oder Eisen für immerdar?“ Ob die Ruskitzaer wohl auch wählen durften? Jedenfalls: Marmor ist da – für immerdar!
Wenn Sie schon in Ruskitza sind, sollten Sie es nicht bloß beim Besuch des neuen Marmorbruches – des größten und modernsten im Land – bewenden lassen. Wenige hundert Meter bergab, in Richtung Süd, liegt der alte Bruch, der „Gropan“, wie ihn rumänische Arbeiter mit schauriger Unterbedeutung – „Groapă“ heißt ebenso Grube wie Grab – nennen: Abgrundtief gähnt ein Schlund zu Ihren Füßen, erweitert sich trichterförmig nach unten, wie eine düstere, ausweglose Schlucht, von Menschenhand mehr als siebzig Meter tief in den Leib des Berges getrieben. Ich selbst bin noch vor Jahren durch den Stollen, der die sich stets senkende Steinbruchsohle mit der Außenwelt verband, eingefahren. Unter der ständigen Drohung der sch düster nach oben zusammenwölbenden Wände, die nur ein winziges, zackiges Vieleck Himmel sehen ließen, verblasste selbst die leuchtende Farbe des Steines. Heiligenbilder, in schwindelnder Höhe direkt auf den Marmor gemalt, kündeten von Unfällen, deren Zahl nicht gering war.
Schade, dass der vielleicht in der ganzen Welt einmalige Marmorschacht von der Vernichtung bedroht ist. Man benutzt ihn nämlich als Abraumgrube. Schon füllen ihn Gesteinstrümmer bis zu beträchtlichen Höhen aus. Noch wäre es für die Ausräumung nicht zu spät, und die Erhaltung dieses einzigartigen Museums hundertjähriger Steinbruchtechnik würde den Aufwand wohl lohnen.
Wenn Sie nun wollen – und auch Ihrem Wagen etwas zutrauen können –, müssen Sie nicht wieder über Karansebesch zurück. In steilen Serpentinen geht die Passstraße zum „Tău Urs“ und auf der anderen Seite ebenso serpentinensteil hinab ins Quelltal der Bega. Nach etwa 18 Kilometern erreichen Sie die Siedlung Luncani, wo einst Eisen geschürft wurde, nach weiteren 10 Kilometern Tomeşti mit seiner alten Glashütte, und von hier haben Sie dann noch 16 Kilometer bis Margina, wo Sie wieder auf Asphalt sind. Bis Temesvar sind es dann nur noch 104 Kilometer.
Wenn Sie aber überhaupt nicht an die Achse gebunden sind – noch besser! Gut markierte Wanderwege führen Sie hinauf zum 1380 Meter hohen Padesch (3 Stunden), von hier zur Schutzhütte auf dem Dâmbu (2 Stunden) und nach Nadrag (weitere 2 Stunden).

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 71, S. 66 – 68)

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67 Ruskitza: Nicht herausgebrochen – herausgeschnitten wird der Marmor.
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