home - Komm mit - 1971 - Die Natur im rumänischen Sprichwort
jedes Wort alle Wörter Suchwort markieren
drucken

Die Natur im rumänischen Sprichwort

von Georg Hromadka

Enorm ist der Sprichwörterschatz des rumänischen Volkes. Eine vor wenigen Jahren erschienene Sammlung (George Muntean, Apa trece, pietrele rămân – Proverbe româneşti, 1966, Literaturverlag) enthält über 8000 Sprichwörter. Wie reich an Wendungen, Redensarten und Sprichwörtern die rumänische Sprache ist, fällt uns Deutschen in Rumänien immer wieder auf. Es ist erstaunlich: Für jede Sache, jedes Vorkommnis, jede Situation findet der Rumäne das treffende Wort oder Sprichwort, die passende Wendung oder Redensart. Mit prägnanten Wörtern und Wendungen streicht er das Kennzeichnende, Wesentliche eines Tatbestands oder Ereignisses heraus, trifft er (um eine deutsche Wendung zu gebrauchen) den Nagel auf den Kopf.
Die Erfahrung vieler Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende, steckt in diesen Sprichwörtern. Unschwer lassen sich in ihnen die Sorge und der Kampf ums Dasein des Einzelnen und der Gemeinschaft erkennen. Während die reiche, lebendige Folklore die künstlerische Begabtheit des Volkes zum Ausdruck bringt, äußert sich in den Sprichwörtern seine auf Lebens- und Menschenerfahrung beruhende Weisheit.
Ein Merkmal der rumänischen Volkskunst (des Volkslieds und der Volksbräuche besonders) ist die Verbundenheit mit der Natur. Naturverbundenheit, Vertrautheit mit den Naturerscheinungen, mit der Landschaft, mit Berg und Wald, Pflanze und Tier kennzeichnet auch den großen Teil der rumänischen Sprichwörter.
Geschichtlichen, aber auch allgemein-menschlichen Bezug (in der Gegenüberstellung des Unsteten und des Bleibenden) hat das bekannte „Apa trece, pietrele rămân“ (Das Wasser geht, die Steine bleiben). Eine ähnliche Aussage finden wir in „Apa cât de mare vine, piatra tot în vad rămâne“ (Kommt das Wasser noch so hoch, bleibt der Stein doch in der Furt). Weil wir beim Wasser sind: „Apa lină face mult noroi, iar cea repede şi pietrele le spală“ (Im stillen Wasser sammelt sich der Schlamm, aber das schnelle wäscht die Steine rein), „Apele mici fac râurile mari“) (Kleine Wasser machen große Flüsse), „Lac de-ar fi, broaşte sânt destule“ (Ein See fehlt, denn Frösche gibt’s genug), „Lac mic, dar lipitori multe“ (Klein ist der See, aber er wimmelt von Blutegeln). Dass bei den letzten zwei Sprichwörtern gesellschaftlich-moralische Erscheinungen angespielt werden, ist klar.
Optimismus bekundet das Sprichwort „Astăzi ploaie, mâine ninsoare şi poimâine soare“ (Heute regnet’s, morgen schneit’s, übermorgen scheint die Sonne). Eine meteorologische Wahrheit kann auf den Menschen, sein Temperament und sein Handeln übertragen werden: „De ploaie repede să nu te sperii“ (Jähen Regen brauchst du nicht zu fürchten). Der Bereich des Wetterkundlichen wird nicht verlassen, wenn gesagt wird: „Trăsnetul te sperie, iar ploaia te pune pe fugă“ (Der Blitzschlag lasst uns zusammenfahren, der Regen jagt uns hinweg). Deutlich ist der übertragende Sinn in folgenden zwei Sprichwörtern: „Vântul aruncă şi pe cei mai mari copaci la pământ“ (Der Wind legt auch die größten Bäume um), „Vântul la pământ n-aruncă burujeni, ci pe cei mai mari copaci“ (Nicht das Unkraut legt der Wind um, sondern die größten Bäume). Zu den scherzhaften Sprichwörtern (sie sind nicht selten) zählt „Lasă să ningă, să plouă, numai vreme rea să nu se facă“ (Mag es schneien, mag es regnen, nur schlechtes Wetter soll nicht kommen).
Schön und treffend ist das Sprichwort „Răsare soarele şi dacă nu cântă cocoşul“ (Die Sonne geht auf, auch wenn der Hahn nicht kräht). Nicht weniger bedeutungsvoll ist (im Sinne der Begrenztheit des Möglichen) das Wort „Soarele că e soare şi tot nu poate lumina toate văile“ (Die Sonne ist Sonne und kann doch nicht in alle Täler scheinen).
Übertragende Bedeutung kommt auch dem folgenden Sprichwort zu: „Muntele nu se teme de zăpadă“ (Der Berg hat keine Angst vor dem Schnee). Vielzitiert ist „Munte cu munte se ântâlneşte, dar om cu om“ (Berg und Berg kommen zusammen – wie sollten Mensch und Mensch sich nicht begegnen?)
Auch hier ist das Bildliche klar: „Nici pădure fără vreascuri, nici om fără cusur“ (Kein Wald ohne Reiser, kein Mensch ohne Fehl). Vom Wald, mit dem er verbrüdert ist („frate cu codru“), sagt der Rumäne: „De securea fără coadă n-are frică pădurea“ (Vor der Axt ohne Stiel fürchtet sich der Wald nicht). Aber: „Dacă pădurea n-ar da coadă securei, pădurea n-ar putea fi tăiată“ (Wenn der Wald der Axt nicht den Stiel lieferte, er könnte nie und nimmermehr geschlagen werden).
Die Erfahrung des Menschen, der mit der Natur auf du und du steht, findet auch in den folgenden zwei Sprichwörtern ihren Niederschlag: „Copacul cu rădăcini adânci nu se teme de furtună“ (Der Baum, der tief im Boden wurzelt, fürchtet keinen Sturm), aber: „Copacul din vârful muntelui de orice vânt se clatină“ (Der Baum, der auf dem Gipfel wächst, schütteln die Winde). Tieferer Sinn wird an zwei andern „Baum-Varianten“ deutlich: „La copacul căzut, toţi aleargă să taie crengi“ (Alles läuft, dem umgebrochenen Baum die Äste abzuhacken) und „De la copacul căzut şi babele adună crengile“ (Sogar die alten Weiber holen sich Reisig vom gefällten Baum).
Gute Bauernerfahrung steckt im Sprichwort „În pământul negru se face pită albă“ (Im schwarzen Boden wächst das weiße Brot).
Zum Sprichwörterschatz seines Volkes trägt der Hirt mit einer Reihe sinnvoller Bemerkungen bei: „Lupul nu caută că oile sânt numărate“ (Der Wolf kümmert sich einen Schmarren darum, dass die Schafe gezählt sind), „Oile ţin capu-n jos de frică să nu le vadă lupul“ (Die Schafe halten die Köpfe unten, damit der Wolf sie nicht sieht), „O mie de miei peu n lup nu pot goni“ (Nicht tausend Lämmer sind imstande, einen Wolf zu vertreiben). Das, was man im Deutschen mit der Wendung „aus dem Regen in die Traufe“ illustriert (den schlechten Tausch) und wofür der Rumäne sein „din lac în puţ“ hat (aus dem Teich in den Brunnen, das heißt: aus dem niedrigen ins tiefe Wasser), das drückt der rumänische Hirt mit einem spezifischen „Fugii de lup şi dădui de urs“ aus (Vor dem Wolf floh ich, auf den Bären stieß ich). Das bekannteste dieser Reihe ist das Sprichwort vom Wolf, der wohl das Haar wechselt, nicht aber auch die Wolfsgesinnung ändert: „Lupul âşi schimbă părul, dar năravul ba.“

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 71, S. 289 – 292)

Seite Bildunterschrift
 
290 Hirten aus dem Hatzeger Land vor dem Aufstieg zum Retezat.
292 …aber tausend solcher Merinos-Hammel schrecken auch den Wolf.
nach oben nach oben