von Georg Hromadka
Enorm ist der Sprichwörterschatz des rumänischen Volkes. Eine vor wenigen Jahren
erschienene Sammlung (George Muntean, Apa trece, pietrele rămân –
Proverbe româneşti, 1966, Literaturverlag) enthält über 8000
Sprichwörter. Wie reich an Wendungen, Redensarten und Sprichwörtern die
rumänische Sprache ist, fällt uns Deutschen in Rumänien immer wieder auf. Es ist
erstaunlich: Für jede Sache, jedes Vorkommnis, jede Situation findet der Rumäne
das treffende Wort oder Sprichwort, die passende Wendung oder Redensart. Mit
prägnanten Wörtern und Wendungen streicht er das Kennzeichnende, Wesentliche
eines Tatbestands oder Ereignisses heraus, trifft er (um eine deutsche Wendung
zu gebrauchen) den Nagel auf den Kopf.
Die Erfahrung vieler Jahrhunderte, wenn nicht Jahrtausende, steckt in diesen
Sprichwörtern. Unschwer lassen sich in ihnen die Sorge und der Kampf ums Dasein
des Einzelnen und der Gemeinschaft erkennen. Während die reiche, lebendige
Folklore die künstlerische Begabtheit des Volkes zum Ausdruck bringt, äußert
sich in den Sprichwörtern seine auf Lebens- und Menschenerfahrung beruhende
Weisheit.
Ein Merkmal der rumänischen Volkskunst (des Volkslieds und der Volksbräuche
besonders) ist die Verbundenheit mit der Natur. Naturverbundenheit, Vertrautheit
mit den Naturerscheinungen, mit der Landschaft, mit Berg und Wald, Pflanze und
Tier kennzeichnet auch den großen Teil der rumänischen Sprichwörter.
Geschichtlichen, aber auch allgemein-menschlichen Bezug (in der
Gegenüberstellung des Unsteten und des Bleibenden) hat das bekannte „Apa trece,
pietrele rămân“ (Das Wasser geht, die Steine bleiben). Eine
ähnliche Aussage finden wir in „Apa cât de mare vine, piatra tot
în vad rămâne“ (Kommt das Wasser noch so hoch, bleibt der
Stein doch in der Furt). Weil wir beim Wasser sind: „Apa lină face mult
noroi, iar cea repede şi pietrele le spală“ (Im stillen Wasser
sammelt sich der Schlamm, aber das schnelle wäscht die Steine rein), „Apele mici
fac râurile mari“) (Kleine Wasser machen große Flüsse), „Lac de-ar fi,
broaşte sânt destule“ (Ein See fehlt, denn Frösche gibt’s genug),
„Lac mic, dar lipitori multe“ (Klein ist der See, aber er wimmelt von Blutegeln).
Dass bei den letzten zwei Sprichwörtern gesellschaftlich-moralische
Erscheinungen angespielt werden, ist klar.
Optimismus bekundet das Sprichwort „Astăzi ploaie, mâine ninsoare
şi poimâine soare“ (Heute regnet’s, morgen schneit’s, übermorgen
scheint die Sonne). Eine meteorologische Wahrheit kann auf den Menschen, sein
Temperament und sein Handeln übertragen werden: „De ploaie repede să nu
te sperii“ (Jähen Regen brauchst du nicht zu fürchten). Der Bereich des
Wetterkundlichen wird nicht verlassen, wenn gesagt wird: „Trăsnetul te
sperie, iar ploaia te pune pe fugă“ (Der Blitzschlag lasst uns
zusammenfahren, der Regen jagt uns hinweg). Deutlich ist der übertragende Sinn
in folgenden zwei Sprichwörtern: „Vântul aruncă şi pe cei
mai mari copaci la pământ“ (Der Wind legt auch die größten Bäume
um), „Vântul la pământ n-aruncă burujeni, ci pe cei
mai mari copaci“ (Nicht das Unkraut legt der Wind um, sondern die größten Bäume).
Zu den scherzhaften Sprichwörtern (sie sind nicht selten) zählt „Lasă
să ningă, să plouă, numai vreme rea să nu se
facă“ (Mag es schneien, mag es regnen, nur schlechtes Wetter soll nicht
kommen).
Schön und treffend ist das Sprichwort „Răsare soarele şi
dacă nu cântă cocoşul“ (Die Sonne geht auf, auch
wenn der Hahn nicht kräht). Nicht weniger bedeutungsvoll ist (im Sinne der
Begrenztheit des Möglichen) das Wort „Soarele că e soare şi tot nu
poate lumina toate văile“ (Die Sonne ist Sonne und kann doch nicht in
alle Täler scheinen).
Übertragende Bedeutung kommt auch dem folgenden Sprichwort zu: „Muntele nu se
teme de zăpadă“ (Der Berg hat keine Angst vor dem Schnee).
Vielzitiert ist „Munte cu munte se ântâlneşte, dar om cu
om“ (Berg und Berg kommen zusammen – wie sollten Mensch und Mensch sich nicht
begegnen?)
Auch hier ist das Bildliche klar: „Nici pădure fără
vreascuri, nici om fără cusur“ (Kein Wald ohne Reiser, kein Mensch
ohne Fehl). Vom Wald, mit dem er verbrüdert ist („frate cu codru“), sagt der
Rumäne: „De securea fără coadă n-are frică
pădurea“ (Vor der Axt ohne Stiel fürchtet sich der Wald nicht). Aber:
„Dacă pădurea n-ar da coadă securei, pădurea n-ar
putea fi tăiată“ (Wenn der Wald der Axt nicht den Stiel lieferte,
er könnte nie und nimmermehr geschlagen werden).
Die Erfahrung des Menschen, der mit der Natur auf du und du steht, findet auch
in den folgenden zwei Sprichwörtern ihren Niederschlag: „Copacul cu
rădăcini adânci nu se teme de furtună“ (Der Baum,
der tief im Boden wurzelt, fürchtet keinen Sturm), aber: „Copacul din
vârful muntelui de orice vânt se clatină“ (Der Baum, der
auf dem Gipfel wächst, schütteln die Winde). Tieferer Sinn wird an zwei andern
„Baum-Varianten“ deutlich: „La copacul căzut, toţi aleargă
să taie crengi“ (Alles läuft, dem umgebrochenen Baum die Äste abzuhacken)
und „De la copacul căzut şi babele adună crengile“ (Sogar
die alten Weiber holen sich Reisig vom gefällten Baum).
Gute Bauernerfahrung steckt im Sprichwort „În pământul
negru se face pită albă“ (Im schwarzen Boden wächst das weiße
Brot).
Zum Sprichwörterschatz seines Volkes trägt der Hirt mit einer Reihe sinnvoller
Bemerkungen bei: „Lupul nu caută că oile sânt
numărate“ (Der Wolf kümmert sich einen Schmarren darum, dass die Schafe
gezählt sind), „Oile ţin capu-n jos de frică să nu le
vadă lupul“ (Die Schafe halten die Köpfe unten, damit der Wolf sie nicht
sieht), „O mie de miei peu n lup nu pot goni“ (Nicht tausend Lämmer sind
imstande, einen Wolf zu vertreiben). Das, was man im Deutschen mit der Wendung
„aus dem Regen in die Traufe“ illustriert (den schlechten Tausch) und wofür der
Rumäne sein „din lac în puţ“ hat (aus dem Teich in den Brunnen,
das heißt: aus dem niedrigen ins tiefe Wasser), das drückt der rumänische Hirt
mit einem spezifischen „Fugii de lup şi dădui de urs“ aus (Vor dem
Wolf floh ich, auf den Bären stieß ich). Das bekannteste dieser Reihe ist das
Sprichwort vom Wolf, der wohl das Haar wechselt, nicht aber auch die
Wolfsgesinnung ändert: „Lupul âşi schimbă părul, dar
năravul ba.“
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 71, S. 289 – 292)
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290 | Hirten aus dem Hatzeger Land vor dem Aufstieg zum Retezat. |
292 | …aber tausend solcher Merinos-Hammel schrecken auch den Wolf. |