von Dieter Moyrer
Dritter Januar 1970. Nach stürmischen 36 Stunden und einem schneereichen Tag machte sich die Silvestergesellschaft aus der Sâmbătă-Hütte auf den Weg: zum Großen Fenster. Es war ein wunderschöner Wintertag. Die Stimmung war gehoben. Alle waren voller Vorfreude. Selbst den Spurmachern bereitete es keine besonderen Schwierigkeiten, die ersten Schritte in den unberührten Schnee zu setzen, Treppen in den Steilhang zu treten, Serpentinen zu skizzieren. Die Spuren waren gut. Die Mulden, wo der Schnee metertief lag, wurden geschickt umgangen, Bergrippen, wo der Wind keine Schneehäufungen zuließ, führten uns rasch voran.
Der obere Kessel des Tales war durchschritten. Neunundzwanzig Mann klebten am letzten steilen Hang unterhalb des Großen Fensters dicht beieinander. Schon erwog man, über das gesetzte Ziel hinauszugehen, um einen Blick auf den Viștea-Moldoveanu-Kamm zu werfen. Noch acht, höchstens zehn Minuten, und der Berg ist unser...
Da geschah es: Zuerst ein Krach, eher ein Dröhnen, gedämpft, wie eine unterirdische Explosion – und dann ging’s los.
Bis dahin hatte ich nur davon gelesen oder gehört, hie und da im Frühsommer auch in Talgründen gestaute Schneemassen gesehen, die von einem Schneebrett herrührten. Nun aber saß ich drauf und mit mir weitere achtundzwanzig Bergfreunde: Auf einer einige Hundert Quadratmeter großen Schneefläche ritten wir talwärts, hundertfünfzig, zweihundert, vielleicht auch noch mehr Meter weit, bis wir in der Talsohle endlich festsaßen.
Da ich beim Aufstieg – mit dem Fotoapparat beschäftigt – zurückgeblieben war, landete ich unter den ersten. Ich drehte mich um: lauter erschreckte Gesichter. Mir selbst war es nicht wohler zumute. Die Angst lähmte die Glieder. Nur zögernd kamen wir wieder in Bewegung. Jetzt erst waren wir uns der Gefahr bewusst, in der wir Sekunden (vielleicht auch Minuten) zuvor geschwebt hatten.
Sonst wäre der Rutsch recht amüsant gewesen, wenn er nicht fatale Folgen hätte haben können. Zwei Mann (der eine „Mann“ eine Frau), die von der Gruppe etwas abgefallen waren und sich im Augenblick, in dem das Schneebrett abging, ein wenig unterhalb befunden hatten, waren von den Schneemassen erfasst, mitgerissen und der eine teilweise, der andere ganz verschüttet worden. Zum Glück war der Skistock des Verschütteten sichtbar, sodass dieser sofort ausgebuddelt werden konnte.
Nach einer kurzen Umfrage war es klar: Wir waren alle noch einmal davongekommen.
Über uns hing noch immer ein tiefblauer Himmel. Drei Gämsen aalten sich am Westhang des Sălanele. Erhaben und unberührt von dem, was geschehen war, sah der stolze Bălăceni auf uns herab. Wir aber, einunddreißig bunte Punkte in einer großen, weißen, aufgewühlten Fläche, waren auf einmal sehr klein geworden. Das ist die Geschichte. Es liegt nahe, nach den Ursachen zu fragen, die das Schneebrett in Bewegung setzten, die Fehler zu untersuchen, die bei dieser Bergwanderung gemacht wurden.
Man kann nicht behaupten, dass in unserem Fall Auch-Touristen sich angemaßt haben, einen gefährlichen Aufstieg zu wagen. In der Gruppe waren mindestens drei Bergerfahrene. Tatsache ist jedoch, dass an diesem Tag einige elementare Regeln ganz außer Acht gelassen wurden. Um den Aufstieg leichter zu machen, spurte man in engen Schleifen. Richtig wäre es gewesen, den Hang direkt anzugehen. Hinzu kommt, dass eng beieinander gegangen wurde. Das war wieder grundfalsch: Die Belastung konzentrierte sich auf eine relativ kleine Fläche. Abstände von mindestens 4 – 5 Metern zwischen den einzelnen Touristen hätten den Abrutsch verhindern können. Dass der Neuschnee, tags zuvor gefallen, in so knapper Zeit und bei der niedrigen Temperatur sich an die alte Schicht nicht binden konnte, leuchtete uns – nachher – allen ein.
Wie soll man sich nun während des Abrutsches verhalten? Möglichst flach auf den Rücken legen. Füße und Kopf leicht anheben. Keineswegs versuche man, in Aufrechtstellung zu gelangen, im Glauben, man könne den Rand des Brettes laufend erreichen; die Gefahr, einzusinken und von nachkommenden Schneemassen verschüttet zu werden, ist weit größer.
Einmal mehr hat es sich erwiesen, dass auch die rumänischen Karpaten nicht so ungefährlich sind, wie manche unserer Touristen leichtfertig annehmen. Wir meinen: Touristen, die schwierige Winterfahrten wagen, sollten daran denken, in ihr Berginventar auch die rote Lawinenschnur einzutragen; diese ist bekanntlich schon für manchen der „Leitfaden“ in ein neues Leben gewesen.
(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 70, S. 260 – 262)
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260 | Das große Fenster über dem Sâmbătă-Tal ist das erste Ziel für den, der von der Sâmbătă-Hütte aus den Kamm der „Fogarascher“ erreichen will, um von hier aus westwärts zu wandern. |