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Eispaläste, Kristallseen, Damoklesschwerter

von Friedrich Thomas

Karstlandschaften sind eine Welt schärfster Gegensätze. Nirgends liegt das Liebliche so unmittelbar neben dem Schaurigen, das Zierliche neben dem Gewaltigen, das Helle neben dem Dunkeln. Eines der eindrucksvollsten Karstgebiete unseres Landes ist die Mehedinți-Hochfläche in Oltenien. Die Kalkgesteine bilden hier besonders schroffe, kahle Höhenzüge, von den Einheimischen „Cornete“ genannt. Die Höhen leiden unter ständiger Wasserarmut, denn unzählige Spalten und Risse im Gestein entführen das von den Pflanzen so dringend benötigte Wasser in die Tiefe.
Mancher dieser unfreundlichen Kalkrücken birgt in seinem Innern ungeahnte Reichtümer: unterirdische Räume, deren üppiger Tropfsteinschmuck uns immer wieder mit ehrfürchtigen Staunen erfüllt.
Wer die Höhle von Cloșani nur aus Beschreibungen kennt, wird sich nie ein Bild von der verschwenderischen Formenfülle machen können, mit der die Natur manche Hohlräume der Erde auszukleiden vermag. Im neu entdeckten Gang dieser Höhle wird jeder Schritt zum Erlebnis. Orgelpfeifenartiger Wandsinter, wuchtige Damoklesschwert-Stalaktiten, üppig gewellte Sinterfahnen, rätselhafte Diskusformen, wunderliche Excentriques (unregelmäßig gewachsene Sinterformen), bizarre Kalkspatblumen ziehen wie eine Traumwelt an uns vorüber. Schwer nur trennen wir uns von diesen Räumen, in denen – wir fühlen es – die Zeit stillsteht und die Ewigkeit uns umfangen hält.
Auch die in der Nähe liegende Höhle der „Cioca cu Brebenei“ verdient Beachtung. Ihr Trumpf sind exzentrische Bildungen: zibebenartige (rosinenartig) Steingewächse auf Schutt, stachelförmige Auswüchse aus Deckenzapfen, Heliktiten (unregelmäßig gewachsener Stalaktit), wurmähnliche, vielfach verschlungene Formen.
Ein ähnlicher Höhenzug, der kahle, zerklüftete Kalkrücken des Prosăc, liegt weiter südlich. In seiner Tiefe erstreckt sich das weitverzweigte Höhlenlabyrinth der Topolnița, das mit einer Gesamtlänge von über 12 km in unserem Land den zweiten Rang einnimmt. Der Hauptgang der Topolnița-Höhle führt den Namen des berühmten rumänischen Forschers Emil Racoviță und ist selbst über 1,5 km lang. Sein Querschnitt würde zwei Eisenbahnzügen gestatten, nebeneinander zu verkehren. Haushohe Trümmerwälle, die man überklettern muss, sorgen dafür, dass einem der Genuss der Tropfsteinwunder nicht zu leicht wird. Schlanke, hochgewachsene Kerzenstalagmiten wechseln mit massigen, in Kaskaden gestuften Tropfsteinpagoden, riesige Steinorgeln mit breiten, gestreiften Sintervorhängen. Das kostbarste Kleinod des Ganges, und der ganzen Höhle überhaupt, ist der Kristallsee, ein schneeweißes Sinterbecken mit korallenartigen Kalkausscheidungen in smaragdgrünem Wasser. Man muss sich zusammenreißen, um dem Zauber dieser Märchenwelt zu entrinnen, um zurück zur Wirklichkeit zu finden.
Die benachbarte Epuran-Höhle stellt eigentlich die Fortsetzung des Racoviță-Ganges dar, ist jedoch mit der Topolnița-Höhle nicht verbunden. Es bedarf stundenlanger beschwerlicher Kriecherei, um in die neu entdeckten Tropfsteinräume zu gelangen. Diese Opfer erweisen sich aber, als eine bescheidene Gegenleistung für die märchenhafte Pracht, die einen in der Tiefe erwartet. Weißes Meer, Chinesische Mauer, Schneepalast, Schatzgang, Sinterbeckengang, Wasserfeerie heißen einige dieser schwer erreichbaren Kostbarkeiten.
Höhlenfahrten sind – schon der Ausrüstung wegen – meist das Privileg einiger weniger. Padiș, im Herzen des Westgebirges gelegen, und seine Umgebung belohnen mit unerwarteter Freigebigkeit selbst den einfachen Ausflügler und Naturfreund.
Dieses Gebiet ist eine flache, unterirdisch entwässerte Senke, inmitten dicht bewaldeter Höhen. Häufige Unwetter, von oft unerhörter Heftigkeit, tagsüber sengende Sonnenglut, nachts Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt kennzeichnen Padiș. Trift abends die kalte Luft der Höhen auf die feuchtwarme Luft über der Ebene, so verwandelt sich die Senke binnen kurzer Zeit in ein wogendes Nebelmeer. Wer Padiș bei Vollmond erlebt hat, wird den zauberhaften Anblick nie vergessen.
Nördlich von Padiș liegt das Quellgebiet des Warmen Somesch mit dem hohen Tunnel der „Cetățile Rădesei“. Die Großräumigkeit dieser Höhle steht in krassem Gegensatz zum bescheidenen Gewässer, das sich an dieser Stelle seinen Weg durch den Felsschoß des Berges bahnt.
Ein besonderes Schmuckstück in der Umgebung von Padiș ist die Eishöhle „Focul Viu“. Auf einer rohgezimmerten Holzleiter geht es hinab in den natürlichen Eiskeller, in dem selbst im Sommer die Wände mit Raureif bedeckt sind und die Sickerwässer zu schlanken Eissäulen erstarren.
Die „Cetățile Ponorului“ sind eine Art Sammelbecken für die Karstgewässer der ganzen Gegend. Sowohl Padiș als auch die wilde Hochfläche der „Verlorenen Welt“ – und wahrscheinlich auch die noch wenig erforschte Senke von Barsa – entsenden ihre Wasser auf unterirdischen Wegen zu den „Cetăți“.
Die drei fälschlich als Burgen bezeichneten Riesenschlünde stürzen mit senkrechten Wänden fast 200 Meter in die Tiefe. Bereits aus der Ferne erblickt man das annähernd 70 Meter hohe Felsentor, durch das man vom Grunde des ersten auf den Grund des zweiten Schachtes gelangt. Der Abstieg zum rauschenden Fluss der Unterwelt erfolgt vom Grunde des dritten Schachtes. Wer Kälte und nasse Füße nicht scheut, kann sich entlang des Wassers flussaufwärts tasten. Dieser kurze, ungefährliche Abstecher lohnt sich. Die in Dämmerlicht gehüllte, vom Tosen der Wasserstürze erfüllte Riesenhalle wird bei jedem einen unvergesslichen Eindruck hinterlassen.
Auch flussabwärts kann der Weg des Wassers ein Stück verfolgt werden. Man gelangt bis zum ehemaligen Lagerplatz der Erforscher dieser einzigartigen Grottenwelt. Doch ist Vorsicht am Platz. Ein plötzlich niedergehendes Sommergewitter kann binnen kurzer Zeit sämtliche Geister der Unterwelt wecken und einem alle Schrecken aktiver Wasserhöhlen offenbaren. In Augenhöhe an den Wänden angeschwemmte Trifthölzer sind beredte Zeugen in dieser Hinsicht.
Im Quelltopf „Izbucul Galbenei“ tritt der Fluss der Unterwelt wieder ans Tageslicht. Eingekeilt zwischen senkrechte Felswände, durcheilt er, brodelnd und gischtend, die steile Schlucht der Galbena, die an Wildheit den „Cetățile Ponorului“ um nichts nachsteht. Ein letztes Mal noch zwängt er sich durch eine Höhle, dann ist er für immer der Finsternis entronnen. Freudig brausend stürzt er sich in einem mächtigen Wasserfall dem Licht entgegen.
Heute noch schlafen Padiș und seine Umgebung fast ungestört ihren Dornröschenschlaf. Eines Tages werden bestimmt auch diese Perlen unserer Berg- und Höhlenwelt der Touristik erschlossen. Möge ihnen diese Ehre nicht zum Verhängnis werden.

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 70, S. 49 – 53)

Seite Bildunterschrift
50 Blick in den prächtigen Schatzgang der Epuran-Höhle.
52 Winterlandschaft im Sommer: die Eishöhle „Focul Viu“.
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