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Ein Schwabe entdeckt den Norden

von Robert Frank

Fragt man den Naturfreund, der mit offenem Auge und empfindsamem Gemüt die Heimat durchstreift, nach seinem schönsten Erlebnis, so dürfte ihm die Antwort bestimmt nicht leicht fallen. Wenn man obendrein als Kind der Banater Heide so urplötzlich „hinauf“ in die Maramuresch verpflanzt wird, dann fällt die Antwort doppelt schwer. Denn es ist genau so, wie unser Naturkenner Georg Hromadka es ausdrückt: Hier „oben“ ist alles anders, die Landschaft und der Mensch mit allem, was zu ihm gehört – Sprache, Tracht, Sitten und Gebräuche, Häuser und Kirchen (nicht zufällig finden sich hier immer wieder Folklore-Forscher ein!). Kommt man so unerwartet mit diesem Gebiet in Berührung, wie es mir vor einigen Jahren passierte, dann kann man eigentlich nur von einem einzigen, großen und schönen Erlebnis sprechen.
Ich kam 1962 nach Baia Mare, in das „Herz“ der Maramuresch, um hier am Pädagogischen Institut zu wirken. Schon meine ersten Eindrücke von der alten und doch jungen, dynamischen Stadt am Fuß des Gutin-Gebirges und ihrer malerischen Umgebung – die mit Edelkastanienwäldern bedeckten Hügel kommen einem fast ins Haus – waren überwältigend. Ich fand mich wohl darum auch rasch zurecht hier in meiner neuen Heimat und hegte nur den einen Wunsch: so viel wie möglich über das Maramurescher Land und seine Menschen zu erfahren.
Das ist mir im Laufe der Jahre gelungen. Aber die erste Gelegenheit dazu bot sich mir im Sommer 1964, als wir mit unseren Studenten einen zweiwöchigen Studienausflug ins Rodna-Gebirge unternahmen. Vielleicht weil ich damals erst so richtig mit der nördlichen Berglandschaft Rumäniens in Berührung kam, die einen ganz besonderen Zauber ausstrahlt, neige ich dazu, diese Fahrt und Wanderung zu meinen schönsten Erlebnissen zu zählen. Wir fuhren per Bus über den Gutin-Pass ins Maratal (die herrliche „Holzgotik“ der Dorfkirchen von hier muss man gesehen haben). Von da ging es über Marmarosch-Sigeth nach Oberwischau. Nach einem Abstecher ins Wasser-Tal (bei Făina gibt es eine moderne Forellenzüchterei) ging es nach Moisei und von da, per pedes, entlang des Flusses Izvorul lui Dragoș (stundenlanger Marsch, über bunte Wiesen, durch Kleinsiedlungen und Obstgärten) zum Pietrosu Rodnei, um das dortige Naturschutzgebiet (2700 Hektar) zu besuchen.
Nun, der Aufstieg war nicht leicht, aber als wir, bei 1500 Meter Höhe, auf der „Fața Pietrosului“ in das neugegründete Gämsgehege kamen, da war die Müdigkeit wie weggeblasen. Man brachte damals die ersten sechs Gämskitzen aus dem Retezat hierher, um sie nach einer gewissen Anpassungszeit in die freie Natur auszusetzen, in einem Gelände, aus dem sie seit etwa dreißig Jahren verschwunden waren. Köstlich war der Anblick der Gämsjungen, die hier von Hausziegen gesäugt wurden, sich uns freundlich näherten und ihr „Wildsein“ scheinbar ganz und gar vergaßen.
Heute, nach sechs Jahren, kann die Widerbevölkerungsaktion des Pietrosu als gelungen betrachtet werden. Vierundzwanzig Exemplare prächtiger Gämsen befinden sich zurzeit im Revier und vermehren sich befriedigend. Naturschutz wird da „oben“ groß geschrieben!

(Verlag Neuer Weg, Bukarest - Komm Mit 70, S. 264 – 265)

Seite Bildunterschrift
265 Junge Gämse im Nationalpark Retezat.
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